Die rechtskonservative Regierung der kanadischen Provinz Ontario peitscht im Eiltempo ein Gesetz durch, mit dem ein Streik von 55.000 Schulwarten, pädagogischen Hilfskräften, Erziehern und Verwaltungsangestellten kriminalisiert werden soll.
Der Streik soll am Freitag beginnen, nachdem sich 96,5 Prozent der Beschäftigten dafür ausgesprochen haben. Die am schlechtesten bezahlten Beschäftigten im Bildungssektor sind entschlossen, jahrelange Reallohnkürzungen rückgängig zu machen und eine Aufstockung der Mittel zu erreichen, nachdem das Bildungssystem jahrzehntelang kaputtgespart wurde.
Ontarios Premierminister Doug Ford und Bildungsminister Stephen Lecce verhängten ein drakonisches Streikverbot, um weitere massive Reallohnkürzungen durchzusetzen. Die Vierjahresverträge, die nun im Rahmen eines Gesetzes mit dem Orwellschen Namen „Keeping Students in School Act“ abgeschlossen werden sollen, sehen eine jährliche Gehaltserhöhung von maximal 2,5 Prozent vor, obwohl die Inflation für Waren des Grundbedarfs weit über 10 Prozent gestiegen ist. Mit den Zwangsverträgen würde auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekürzt und der Kündigungsschutz ausgehöhlt. Wer sich über das Streikverbot hinwegsetzt, muss mit einer Geldstrafe von 4.000 Dollar pro Tag rechnen. Den Gewerkschaften wird eine Geldstrafe von 500.000 Dollar pro Tag angedroht.
Ford und Lecce haben öffentlich erklärt, dass ihr unrechtmäßiger „Tarifvertrag“ den Maßstab für 200.000 Lehrer in Ontario setzen wird. Ihr Angriff auf die Beschäftigten im Bildungswesen ist ein Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse. Er zielt darauf ab, den Widerstand gegen weitreichende Kürzungen im Bildungswesen und anderen öffentlichen Diensten zu brechen, und soll den großen Unternehmen dabei helfen, vor dem Hintergrund der Inflation die Löhne und Gehälter auch im privaten Sektor in ganz Kanada massiv zu kürzen.
Um sein Streikverbot und die tariflichen Verschlechterungen durchzusetzen, beruft sich Premierminister Ford auf die antidemokratische und bislang kaum genutzte „Notwithstanding Clause“, eine Art Notstandsbestimmung in der kanadischen Verfassung. Auf ihrer Grundlage können kanadische Bundes- und Provinzregierungen Gesetze verabschieden, die gegen grundlegende demokratische Rechte verstoßen, die in der kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten garantiert sind. Auf diesem Wege zustande gekommene Gesetze können juristisch nicht angefochten werden. Indem sich der Premier auf diese Klausel beruft, gesteht er indirekt ein, dass seine Regierung demokratische Rechte mit Füßen tritt und autoritäre Maßnahmen zum Normalzustand erheben will.
Die kanadische Bundesregierung, die von den Liberalen geführt wird, kritisierte Fords Vorgehensweise, ging aber nicht gegen das Streikbruchgesetz vor. Diese doppelzüngige Haltung ist nicht überraschend. Die Regierung von Premierminister Justin Trudeau hat die Rechte der Arbeiter beständig mit Füßen getreten, indem sie Gesetze erließ, um Arbeiter zu bedrohen oder Streiks zu brechen. Beispiele sind die Illegalisierung rotierender Arbeitsniederlegungen der Postangestellten 2018 und das Vorgehen gegen einen Streik im Hafen von Montreal 2021. Trudeau spricht für eine Fraktion der kanadischen herrschenden Elite, die, wie Biden in den Vereinigten Staaten, Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung lieber mithilfe der Gewerkschaftsbürokratie durchsetzt, als eine direkte Konfrontation zwischen Arbeitern und dem Staat zu riskieren.
Die Aushöhlung der Arbeiterrechte durch die herrschende Elite ist ein globales Phänomen. In den Vereinigten Staaten hat sich die Regierung Biden mit der Gewerkschaftsbürokratie und den Eisenbahnunternehmen verbündet, um einen Streik von mehr als 120.000 Bahnarbeitern im September abzublocken. Für den Fall, dass es den Bahngewerkschaften nicht gelingt, eine weitere Runde massiver Zugeständnisse durchzusetzen, hat der von den Demokraten geführte US-Kongress zugesagt, einen Streik per Gesetz zu verbieten.
In Frankreich verlangte der verhasste Präsident Emmanuel Macron kürzlich, dass streikende Ölraffinerie-Arbeiter einen zweiwöchigen Arbeitskampf beenden, der die Treibstoffversorgung in weiten Teilen des Landes einschränkte. Und in Großbritannien steht die rechtsgerichtete Tory-Regierung kurz vor der Verabschiedung eines Gesetzes, das Streiks in Schlüsselsektoren wie dem Luft-, Straßen- und Schienenverkehr de facto für illegal erklären würde.
Mit diesen Angriffen auf die Rechte der Arbeiter führen die Regierungen in Nordamerika und Europa ihre Behauptungen ad absurdum, sie würden in der Ukraine für „Demokratie“ und „Menschenrechte“ kämpfen und gegen die „russische Aggression“ vorgehen. Sie zeigen, dass die Arbeiter in den imperialistischen Zentren im Grunde überhaupt keine demokratischen Rechte haben, zumindest nicht, wenn sie den Kürzungsplänen der Herrschenden im Inland und ihren Militäroperationen im Ausland in die Quere zu kommen drohen.
Die systematische Zerstörung von Arbeiterrechten ist Teil einer bewussten Hinwendung der Bourgeoisie zu autoritären Herrschaftsformen in allen großen Ländern. Seinen deutlichsten Ausdruck fand dieser Prozess in Trumps faschistischem Putschversuch vom 6. Januar 2021, mit dem das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen 2020 gekippt werden sollte.
Der Drang zur Diktatur speist sich aus der kapitalistischen Krise, die die Gefahr eines mit Atomwaffen geführten dritten Weltkriegs heraufbeschwört und die soziale Ungleichheit vertieft hat wie nie zuvor. Löhne, öffentliche Dienstleistungen und soziale Einrichtungen, auf die Hunderte Millionen Menschen angewiesen sind, werden geopfert, um die Bankkonten der Superreichen zu füllen und die imperialistische Kriegsmaschinerie zu finanzieren.
Während der Premier von Ontario behauptet, es sei „kein Geld“ da, um den unterbezahlten Schulbeschäftigten – die oftmals einen zweiten Job annehmen müssen, um über die Runden zu kommen – mehr als eine Lohnerhöhung von 2,5 % im Jahr zu gewähren, hat Kanadas Bundesregierung seit Februar über 600 Millionen Dollar für den Krieg der USA und der Nato gegen Russland ausgegeben.
Die von den Liberalen geführte kanadische Regierung hat zu Beginn der Corona-Pandemie den Banken und Großunternehmen 650 Milliarden Dollar in den Rachen geworfen und anschließend die Wiedereröffnung von Unternehmen und Schulen veranlasst. Das Ergebnis waren sieben Wellen von Masseninfektionen und Todesfällen. Eine landesweite Umfrage ergab kürzlich, dass jeder fünfte Kanadier Mahlzeiten ausfallen lässt, weil er sich keine Lebensmittel leisten kann. Solche krassen Gegensätze zwischen Reichtum und Elend sind nicht mit Demokratie vereinbar.
Die einzige Möglichkeit für Beschäftigte im Bildungswesen, auf Fords Antistreikgesetz zu reagieren, besteht darin, alle Lehrer und Beschäftigten zu Massenwiderstand zu mobilisieren. Eine solche Kampagne könnte und würde Massenunterstützung gewinnen. Alle Arbeiter in Ontario, in ganz Kanada und international haben ein unmittelbares Interesse daran, das Streikrecht zu verteidigen, für ein gut finanziertes öffentliches Bildungssystem zu kämpfen und durchzusetzen, dass die Löhne und Gehälter an die Inflation angeglichen werden.
Eine solche Strategie wird von den korporatistischen Gewerkschaften abgelehnt, die in Kanada wie international von einem bürokratischen Apparat hochbezahlter Funktionäre geführt werden. Ihre Dachverbände Canadian Labour Congress (CLC) und die Ontario Federation of Labour (OFL) haben hohle „Solidaritätserklärungen“ mit den Beschäftigten im Bildungswesen abgegeben. Damit verpflichten sich diese Organisationen mit Millionen Mitgliedern zu rein gar nichts. Auch die vier Lehrergewerkschaften in Ontario spielen eine üble Rolle. Sie weisen ihre Mitglieder an, am Freitag zur Arbeit zu erscheinen, da dies ihre „vertragliche Verpflichtung“ sei. Sie warnen davor, sich während der „Arbeitszeiten“ an Streikposten oder Protesten zu beteiligen
Die Gewerkschaft Ontario School Board Council of Unions (OSBCU) und ihr Dachverband, die Canadian Union of Public Employees (CUPE), wissen genau, wie groß die Wut der Beschäftigten im Bildungswesen ist. Sie haben deshalb für Freitag zu einer Arbeitsniederlegung aufgerufen, die sie als „politischen Protest“ bezeichnen.
Doch die CUPE, Kanadas größte Gewerkschaft mit über 700.000 Mitgliedern, beharrt trotz des Antistreikgesetzes weiterhin darauf, dass man sich am „Verhandlungstisch“ mit dem Premier und dem Bildungsminister einigen müsse. Um die Regierung zur Wiederaufnahme der Gespräche zu bewegen, senkte die CUPE am Mittwoch ihre Forderung nach einer jährlichen Lohnerhöhung von 11,7 auf 6 Prozent.
CUPE und OSBCU haben sich geweigert, zu einem gemeinsamen Kampf mit den 200.000 Lehrern aufzurufen, deren Verträge am selben Tag ausliefen wie die der schulischen Hilfskräfte, von der großen Masse der Arbeiter ganz zu schweigen. Während Premier Ford mit seinem Gebrauch der „Notwithstanding Clause“ deutlich gemacht hat, dass er bereit ist, jede ihm zur Verfügung stehende repressive Waffe einzusetzen, tut die CUPE alles, um den Kampf im Bildungswesen zu isolieren und zu sabotieren.
Die CUPE hat angekündigt, dass es während der Arbeitsniederlegungen am Freitag keine Streikposten an Schulen geben wird. Die Beschäftigten werden stattdessen angewiesen, sich vor dem Parlament von Ontario zu versammeln, vor den lokalen Büros der progressiven Konservativen zu „protestieren“ und Ford per E-Mail zu „Verhandlungen“ aufzufordern. In Wirklichkeit gibt es nichts zu „verhandeln“ mit einer Regierung, die Tarifverhandlungen eigenhändig untergraben hat, indem sie die Regeln zu ihren Gunsten änderte.
Die Gewerkschaften rechtfertigen ihren Aufruf zu einem „politischen Protest“, indem sie ihn als eine geschickte Taktik darstellen. Wenn Arbeiter nicht streiken, sondern „protestieren“, so die Behauptung der Bürokraten, verstoßen sie nicht gegen das Streikverbot. In Wirklichkeit heißt das, dass sie den Streik auf fruchtlosen Druck beschränken, um Ford und Lecce dazu zu bewegen, ihre Giftpille zu versüßen. Ihr Hauptanliegen ist es, das reaktionäre Tarifverhandlungssystem um jeden Preis zu verteidigen, denn diese staatliche, arbeiterfeindliche Monstrosität sichert ihnen privilegierte Beziehungen zu den Ministern und Konzernchefs.
Ein Beispiel für diese Beziehungen ist das korporatistische Bündnis zwischen den regierenden Liberalen, den sozialdemokratischen Neuen Demokraten und den Gewerkschaften auf Bundesebene. Dieses Bündnis, das der Minderheitsregierung Trudeau bis Juni 2025 eine Mehrheit im Parlament sichern soll, zielt darauf ab, den Klassenkampf im eigenen Land zu unterdrücken und im Ausland im Namen des kanadischen Imperialismus Krieg zu führen.
Um das Streikverbot der Ford-Regierung zu Fall zu bringen, müssen die Beschäftigten im Bildungswesen der Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über den Kampf entreißen, indem sie ein Netz von Aktionskomitees aufbauen, die Massenwiderstand organisieren. Sie müssen die Fesseln des Tarifvertragsrahmens sprengen, indem sie sich mit den Lehrern zusammenschließen und in der gesamten Arbeiterklasse Unterstützung gewinnen, um die Ford-Regierung zu stürzen. Anständig bezahlte Arbeitsplätze, ein gut finanziertes öffentliches Bildungssystem und der Schutz der Arbeiterrechte sind unvereinbar mit der Unterwerfung des gesellschaftlichen und politischen Lebens unter die Finanzoligarchie. Erforderlich ist eine Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen zugunsten der sozialen Bedürfnisse anstelle des privaten Profits. Dies setzt den Kampf für eine Arbeiterregierung voraus, die eine sozialistische Politik verfolgt.
Da die Angriffe auf die Arbeiterrechte in einer systemischen Krise des globalen Kapitalismus wurzeln, müssen die Arbeiter darauf eine einheitliche internationale Antwort geben. Die stärksten Verbündeten der Beschäftigten im Bildungswesen in Ontario sind die Arbeiter in aller Welt – seien es Eisenbahner und Lehrer in den Vereinigten Staaten, die Ölraffineriearbeiter in Frankreich oder Beschäftigte im britischen Gesundheits- und Verkehrswesen. Es sind nicht die Gewerkschaftsbürokraten, die eine „Verhandlungslösung“ mit ihren „Partnern“ in der Regierung suchen Deshalb hängt die Entwicklung eines echten Kampfs gegen kapitalistische Sparmaßnahmen und staatliche Repression vom Aufbau der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees ab.