Grußadressen von IKVI-Sektionen an den Parteitag der SEP (USA), 2022

Die Theorie der permanenten Revolution in der Türkei und in der Welt

Diese Grußadresse hielt Ulaş Ateşçiauf dem siebten Nationalen Parteitag der Socialist Equality Party (USA), der vom 31. Juli bis 5. August 2022 stattfand. Ateşçi ist ein führendes Mitglied der Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe, SEG) in der Türkei. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) hat den Antrag der SEG, in der Türkei eine IKVI-Sektion zu gründen, am 19. Juni einstimmig gebilligt.

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Im Namen der Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe) in der Türkei freue ich mich sehr über die Möglichkeit, an diesem Parteitag teilnehmen zu können. Ich glaube, ich kann sagen, dass das markanteste Merkmal des Parteitags sein historisch begründeter, internationaler Charakter ist. Er ist eindeutig der Entwicklung einer revolutionären Avantgarde gewidmet, die die Arbeiterklasse zur Machtübernahme führen wird.

Leider hatte ich nicht die Gelegenheit, den Genossen Wije Dias, den wir letzte Woche verloren haben, persönlich kennenzulernen. Nach diesem großen Verlust hat die weltweite trotzkistische Bewegung, der er sein Leben gewidmet hatte, den Genossen Wije angemessen gewürdigt, und sie wird dies auch weiterhin tun. Es ist nicht notwendig, ihn persönlich gekannt zu haben, um zu sehen und zu verstehen, was für einen Beitrag dieser große Revolutionär zum internationalen Kampf für den Sozialismus geleistet hat.

Genosse Wije und die sri-lankische IKVI-Sektion als Ganzes haben einen enormen Beitrag zur Entwicklung der trotzkistischen Bewegung weltweit und auch in der Türkei geleistet.

Es gibt viele Unterschiede zwischen Sri Lanka und der Türkei, aber auch viele Gemeinsamkeiten. Beide Länder weisen eine verspätete kapitalistische Entwicklung auf, und in beiden Ländern hat sich im ganzen letzten Jahrhundert Leo Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution immer wieder bestätigt: Die Bourgeoisie ist unfähig, die grundlegenden demokratischen Aufgaben, besonders die nationale Frage (die tamilische und die kurdische Frage) zu lösen und die Unabhängigkeit vom Imperialismus zu sichern.

Diese Aufgaben können nur gelöst werden, wenn das Proletariat, vereinigt über ethnische und kommunale Unterschiede hinweg, alle unterdrückten Massen hinter sich versammelt und im Rahmen des internationalen Kampfs für den Sozialismus die Macht übernimmt. Dieses grundlegende Konzept wird in dem Aufruf der sri-lankischen Sektion, „Für einen demokratischen und sozialistischen Kongress der Arbeiter und ländlichen Massen in Sri Lanka“ sehr gut zum Ausdruck gebracht und entwickelt.

Die damaligen jungen Trotzkisten Sri Lankas haben gegen den großen Verrat von 1964 gekämpft; sie sind prinzipiell für die revolutionäre sozialistische Einheit der Arbeiterklasse eingetreten und haben das unterdrückte tamilische Volk ohne jedes Zugeständnis an den Nationalismus verteidigt und die Perspektive der Permanenten Revolution weiter entwickelt. Dies alles spielte für die Entwicklung unserer Gruppe eine entscheidende Rolle und trug dazu bei, dass wir die historischen Grundlagen und die Perspektive des IKVI übernehmen und assimilieren konnten.

Wie ihr alle wisst, hat diese Entwicklung im vergangenen Juni einen wichtigen Meilenstein erreicht. Im Anschluss an den Besuch einer IKVI-Delegation in Istanbul hat das IKVI den Antrag der SEG angenommen, dem IKVI beizutreten – das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Aufbau der SEP in der Türkei. Aber noch wichtiger ist, dass dies ein klarer Hinweis auf die globale Ausdehnung des IKVI ist: Es bringt die wachsende objektive Bedeutung des subjektiven Faktors in der sozialistischen Weltrevolution, die sich jetzt entwickelt, zum Ausdruck. Damit wird unsere Analyse des fünften Stadiums der trotzkistischen Bewegung, die wir seit Beginn des Parteitags diskutieren, bestätigt.

Diese Ausdehnung beruht nicht auf prinzipienlosen und pragmatischen Berechnungen aus nationalen Motiven, sondern auf den sehr soliden internationalen historischen Grundlagen und politischen Prinzipien der trotzkistischen Bewegung.

Vor der Oktoberrevolution 1917 bereitete Lenin die bolschewistische Partei auf den Aufstand vor und warnte davor, dass es für die russische und die sozialistische Weltrevolution fatal wäre, den richtigen Zeitpunkt für die Machtübernahme zu verpassen. Damals betonte Lenin, dass alle objektiven Bedingungen für die Revolution reif seien. Dazu gehörten die europäische Revolution sowie das politische Bewusstsein der Arbeiter und armen Bauern. Die Massen waren bereit für die sozialistische Revolution, aber es brauchte eine marxistische Partei.

Heute, unter den Bedingungen der Corona-Pandemie, der wachsenden Gefahr eines nuklearen dritten Weltkriegs, dem Drang der herrschenden Klasse zum Faschismus und zu autoritären Diktaturen, den steigenden Lebenshaltungskosten und der sozialen Ungleichheit sowie der wachsenden Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, sind wir Zeugen des Heranreifens einer weltweiten revolutionären Krise. Und zu Recht weisen wir auf die Divergenz zwischen der Reife der objektiven Bedingungen und der Unreife des politischen Bewusstseins und der Organisation der Massen hin.

In der WSWS-Neujahrserklärung heißt es: „Die Wechselwirkung zwischen den objektiven und subjektiven Faktoren ist komplex. ‚Die Gesellschaft ändert nämlich ihre Einrichtungen nicht nach Maßgabe des Bedarfs, wie ein Handwerker seine Instrumente erneuert‘, erklärte Trotzki in seiner monumentalen Geschichte der Russischen Revolution.“

Es sind ganz besondere, vom Willen der Einzelnen und der Parteien unabhängige Bedingungen notwendig, die der Unzufriedenheit die Ketten des Konservativismus herunterreißen und die Massen zum Aufstand bringen.

Schnelle Veränderungen von Ansichten und Stimmungen der Massen in der revolutionären Epoche ergeben sich folglich nicht aus der Elastizität und Beweglichkeit der menschlichen Psyche, sondern im Gegenteil aus deren tiefem Konservativismus.

Ich denke, dass wir weltweit immer mehr solche „ganz besondere Bedingungen“ erleben werden. Und zweifellos ist das IKVI die einzige politische Strömung, die in der Lage ist, das politische Bewusstsein und die Organisation der arbeitenden Massen weltweit auf das für eine sozialistische Revolution erforderliche Niveau anzuheben und dafür zu kämpfen.

Es ist eine Tatsache, dass wir die einzige Bewegung sind, die vom sozialistischen Standpunkt der internationalen Arbeiterklasse aus gegen die Pandemie, die Weltkriegsgefahr und die Rückkehr des Faschismus kämpft. Und wir sind die einzige Bewegung, die dem Aufschwung der Arbeiterklasse ein unabhängiges revolutionäres politisches Programm und eine Organisation bietet. Ich denke, das sind unbestreitbare Beweise für diese Tatsache. Und, muss man hinzufügen, Genosse Will Lehmans international wichtige Kampagne ist der bewussteste politische Ausdruck einer wachsenden Bewegung der internationalen Arbeiterklasse gegen die korporatistischen Gewerkschaften und den Kapitalismus.

Wie Trotzki 1928 in seiner Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale schrieb:

Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus, entspricht.

Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d.h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt.

Welche politische Tendenz in der Welt, außer dem IKVI und seinen Sektionen, kann ernsthaft behaupten, auf eine solch einzigartige Weise vom Marxismus auszugehen?

Die dem Parteitag vorgelegten Resolutionen sind konkrete und aussagekräftige Beispiele für die trotzkistische Analyse und Perspektive bezüglich der wichtigen Probleme der amerikanischen und internationalen Arbeiterklasse. Und in der Tat können diese Dokumente mit den notwendigen Änderungen auf jedes Land angewendet werden.

Vor einigen Monaten hat die Regierung des türkischen Präsidenten Erdoğan erklärt, die Pandemie sei vorbei. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die kriminellen Lügen der herrschenden Klasse durch objektive wissenschaftliche Fakten entlarvt wurden. Nach den sehr kargen Daten, die für die Woche bis zum 24. Juli veröffentlicht wurden, hat die durchschnittliche Zahl der täglichen Fälle 50.000 überschritten. Laut Fachleuten des staatlichen Gesundheitswesens sind wir in der Türkei in die schlimmste Phase der Pandemie eingetreten, und sie schätzen, dass die tatsächliche Zahl der täglichen Infektionen noch zehnmal höher sein könnte, da es keine flächendeckenden Tests oder Kontaktverfolgung gibt.

Trotz dieser Masseninfektions- und Todespolitik der herrschenden Klasse gibt es in der Türkei, wie auch in den USA und im Rest der Welt, nur eine einzige politische Strömung, die sich für eine globale Eliminierungspolitik zur Beendigung der Pandemie einsetzt: Das ist das IKVI. Was die Pseudolinken betrifft, so ignorieren sie die Pandemie und wetteifern darin mit der extremen Rechten.

Seit Beginn des Krieges der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine versucht Ankara, eine Vermittlerrolle zu spielen. Doch wie der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu selbst darlegte, wollen die Nato-Mächte den Krieg verlängern, nicht beenden. Sie wollen das Putin-Regime schwächen und absetzen, um Russland vollständig zu unterwerfen.

Das Bemühen Ankaras um ein Friedens- oder Waffenstillstandsabkommen in der Ukraine bedeutet natürlich nicht, dass die Erdoğan-Regierung grundsätzlich gegen den Krieg ist. Vielmehr entspringt diese Politik ihrer Furcht vor den potenziell gefährlichen Folgen, die der US-Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine für die türkische herrschende Klasse haben könnte.

Dieselbe Erdoğan-Regierung hat ihre Veto-Drohung gegen die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands nach verschiedenen Verhandlungen zurückgezogen. Im Irak haben die Operationen gegen die verbotene kurdisch-nationalistische PKK-Guerilla und die Tötung irakischer Zivilisten im letzten Monat die Spannungen zwischen Ankara und Bagdad weiter eskaliert. In Syrien bereitet Erdoğan eine Militäroperation gegen die von den USA unterstützten, mit der PKK verbündeten Volksverteidigungseinheiten (YPG) vor.

Die imperialistischen Mächte und regionale Verbündete wie die Türkei haben in den letzten drei Jahrzehnten diese beiden Länder, Syrien und den Irak, weitgehend zerstört. In beiden Ländern versucht Ankara, die Entstehung einer kurdischen Enklave unter Führung der PKK-YPG zu verhindern. Gleichzeitig ist die Türkei bemüht, die steigenden Klassenspannungen im eigenen Land auf Militarismus und Nationalismus abzulenken.

Die Erdoğan-Regierung greift zum Krieg, und die legale kurdisch-nationalistische Demokratische Volkspartei (HDP) ruft zu erneuten „Friedensverhandlungen“ zwischen dem türkischen Staat und der PKK auf. Aber für die kurdische Frage, eine mehr als hundert Jahre alte, internationale Frage, gibt es keine national basierte, bürgerliche Lösung.

Wie in Sri Lanka, besteht auch in der Türkei und im Nahen Osten der einzige Weg vorwärts darin, dass sich Arbeiter aller Ethnien zusammenschließen und in der gesamten Region für eine sozialistische Föderation kämpfen, die als Teil der sozialistischen Weltrevolution die Grenzen aufheben und grundlegende demokratische Rechte durchsetzen wird.

Die Kriegspolitik der Erdoğan-Regierung und ihre antidemokratische Unterdrückung sind nur im Zusammenhang mit den steigenden Lebenshaltungskosten und der wachsenden Wut und Militanz der Arbeiterklasse zu verstehen. Die offizielle jährliche Inflation hat 80 Prozent erreicht (eine höhere Rate als in Sri Lanka), während schätzungsweise 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. In der Tat sitzt die türkische Bourgeoisie auf einem sozialen Pulverfass.

Verfolgt vom Schreckgespenst Sri Lanka und aus Angst vor einer großen sozialen Explosion erklärte die türkische Regierung daher am 9. Juli, sie sei über die Entwicklungen in Sri Lanka „besorgt“

Im Jahr 2022 eskalieren in der Türkei die spontanen Streiks, und im Gesundheitswesen kommt es fast jeden Monat zu landesweiten Pflegestreiks. Millionen von Menschen verarmen, und die Wut darüber, dass die Regierung im Interesse des Finanzkapitals handelt, schlägt in Ausbrüche gegen die wirtschaftsfreundlichen Gewerkschaften um. Gerade heute haben Arbeiter von Salcomp Xiaomi in Istanbul ihre Fabrik besetzt, weil das Unternehmen und die Gewerkschaft sie angreifen und Entlassungen gemeinsam durchsetzen.

Unter diesen Bedingungen versuchen die Pseudolinken, die wachsende Bewegung der Arbeiterklasse den Gewerkschaften und dem kapitalistischen Establishment unterzuordnen. Sie argumentieren, dass der einzige Weg vorwärts über die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr gehen würde, und dass man die bürgerliche Pro-Nato-Opposition gegen Erdoğan unterstützen müsse. Wir dagegen lehnen diese Sichtweise der Pseudolinken und ihre nationalistische Klassenkollaboration entschieden ab. Wir bieten der Avantgarde der Arbeiterklasse eine unabhängige und internationale sozialistische Perspektive.

Die Gründung der SEP (Türkiye) als Sektion des IKVI in der Türkei wird ein entscheidender Schritt vorwärts sein. Das Land steht im Zentrum geopolitischer Konflikte und an der Schwelle zu großen Klassenkämpfen. Die größte Stärke der SEP (Türkiye) und ihre Fähigkeit, die kommenden revolutionären Kämpfe anzuführen, wird auf der Tatsache beruhen, dass sie ein integraler Bestandteil des IKVI ist und sich vollständig auf die Geschichte, Prinzipien und Perspektiven der weltweiten trotzkistischen Bewegung gründet.

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