Ein Jahr nach der Explosion im Chempark Leverkusen drohen weiterhin große Gefahren

Vor einem Jahr, am 27. Juli 2021, ereignete sich im Chempark Leverkusen nördlich von Köln einer der schwersten Arbeitsunfälle der jüngeren Vergangenheit in der Chemieindustrie. Sieben Arbeiter starben bei der Explosion eines Tanklagers, in dem Chemieabfälle entsorgt wurden. Zwei der getöteten Arbeiter wurden sofort gefunden und geborgen. Fünf galten zunächst als vermisst. Das siebte Todesopfer wurde erst nach mehreren Tagen entdeckt.

Löscharbeiten nach der Explosion im Chempark Leverkusen am 27. Juli 2021 [Photo by Currenta]

Das Leid der Hinterbliebenen, der Frauen und Kinder der ums Leben gekommenen Arbeiter, ist groß. Es wird dadurch verschärft, dass die Unfallursache bis heute nicht vollständig geklärt und die Verantwortlichen des Unternehmens für die Explosion nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Eine Hinterbliebene sagte der Rheinischen Post ein Jahr danach: „Ich fühle mich wie amputiert.“ Ihr Mann hatte an dem Tag des Unglücks Frühschicht. Das Paar mit einer kleinen Tochter war glücklich. Sie hatten ein Haus gekauft und Träume und Pläne. Die Katastrophe im Chemiepark des Betreibers Currenta stürzte sie und andere Familien in einen Abgrund.

Die Betroffenen und die Arbeiter im Chempark quält die Frage, wie es zu der Katastrophe kommen konnte und wer Schuld daran hat. „Ich hoffe wirklich sehr, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch wenn es unsere Liebsten nicht zurückbringt,“ sagte die hinterbliebene Mutter der Rheinischen Post. Aber man werde stets vertröstet, es dauere noch. Ihr Anwalt habe bisher keine Akteneinsicht erhalten.

Der Chempark mit Standorten in Leverkusen, Dormagen und Krefeld ist einer der größten Chemieparks in Europa. Ende 2016 waren hier etwa 48.000 Menschen bei rund 70 angesiedelten Firmen und Dienstleistungsunternehmen beschäftigt. Dazu gehört der Chemiekonzern Bayer sowie viele seiner ausgegliederten Unternehmen. Currenta ist die Betreibergesellschaft des Chemparks. Das Unternehmen gehörte bis 2007 als Bereich Industry Services zu Bayer. Bis vor drei Jahren war Bayer noch mehrheitlich an Currenta beteiligt. Dann übernahm der australische Finanzinvestor Macquarie die Mehrheit an dem Unternehmen.

Die Explosion ereignete sich im Tanklager des Entsorgungszentrum des Chemparks in Leverkusen-Bürrig. Hier werden die Chemieabfälle aller anderen Unternehmen des Chemparks verwertet und entsorgt, aber auch der Sondermüll von externen Firmen. Betroffen von der Explosion, die ein Feuer in dem Tanklager auslöste, waren drei Tanks mit organischen Lösungsmitteln. Jeder Tank war mit 200.000 bis 300.000 Litern befüllt. Alle wurden „komplett oder in Teilen zerstört“, wie der Leiter des Chemparks Lars Friedrich nach der Explosion bekannt gab.

Schon kurz nach der Explosion war klar, dass es in den Tanks zu chemischen Reaktionen gekommen war. Der Betreiber Currenta gab aber immer nur die Informationen heraus, zu denen er von den Behörden gezwungen wurde. So dauerte es sehr lange, bis sich ein klareres Bild über den Hergang des Unglücks und seine Ursache ergab.

Der WDR (Westdeutscher Rundfunk) berichtete am 17. Juni 2022, dass die Currenta- und Leiharbeiter, die bei der Explosion ums Leben kamen oder verletzt wurden, keine ausreichenden Informationen über die Gefährlichkeit des Abfalls bekommen hatten. „Im Fall der schweren Explosion im Leverkusener Chempark lagen den Mitarbeitern der Sondermüllanlage die nötigen Informationen über die Gefährlichkeit des Abfalls offenbar nicht vor.“ Dies gehe aus einem Bericht des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums an den Landtag hervor. So hätten unter anderem Angaben über die Hitzeempfindlichkeit des Mülls gefehlt.

Wörtlich heißt es im Bericht: „Aus den bisher durchgeführten Untersuchungen zur Unfallursache hat sich ergeben, dass bei dem aus Dänemark angelieferten, temperaturempfindlichen Abfall nicht alle benötigten Informationen über die Gefährlichkeit des Abfalls, wie z.B. die Neigung zur Zersetzung bei gleichzeitiger Selbsterwärmung und Volumenausdehnung, vorlagen.“

Weiter steht darin: „Diese Informationsdefizite im Gesamtprozess von der Abfallerzeugung über den Transport bis zur Verbrennung führten dazu, dass der Abfall über der Selbsterwärmungstemperatur gehandhabt und in Tank Nummer 3 gelagert wurde, sich bei steigendem Druck immer weiter erwärmte und schließlich die Explosion des Tanks auslöste.“

Mit anderen Worten, die von der Explosion getöteten Arbeiter wurden offenen Auges in den Tod geschickt. Die Unternehmensleitung von Currenta hatte sie nicht entsprechend informiert und gewarnt und auch sonst keine Sicherungsmaßnahmen getroffen, um die Explosion zu verhindern. Auch hier galt wieder im wahrsten Sinne des Wortes die Maxime „Profit vor Leben“.

Dies ist keine Übertreibung! Bereits im März diesen Jahres berichtete der WDR, dass bei Currenta wesentliche Auflagen, die für das Betreiben einer so gefährlichen Anlage erforderlich sind, missachtet wurden. „Zur Explosion im Leverkusener Chempark kommen immer neue Details an die Öffentlichkeit. Sie werfen die Frage auf, ob finanzielle Interessen wichtiger waren als Qualität und Sicherheit.“ Also die Frage, ob Profite wichtiger waren als das Leben der Arbeiter. Es liegt auf der Hand, dass die Antwort auf diese Frage Ja lautet.

Der WDR-Bericht wies nach, dass wesentliche Auflagen der Bezirksregierung Köln zum Betreiben der Sondermüllverbrennungsanlage von Currenta missachtet wurden. Bereits im Frühjahr 2021, mehrere Monate vor der tödlichen Explosion im Juli, waren die Sicherheitszentralen an den Currenta-Standorten Dormagen, Krefeld und Leverkusen in einen „nicht genehmigten“ Zustand versetzt worden. Um Personal einzusparen, waren die Leitstellen nicht mehr rund um die Uhr besetzt. Außerdem habe Currenta ohne Genehmigung auf ein neues Softwaresystem umgestellt.

Das WDR-Magazin Westpol hatte die Sicherheitsmängel bei Currenta Ende Februar aufgedeckt. In einem internen Papier berichteten Mitarbeiter von häufigen Abstürzen der komplexen Technik in der Sicherheitszentrale – „unter anderem am Tag der Explosion“. Die Currenta-Unternehmungsführung sprach dagegen nur von gelegentlichen Teilabstürzen, die keine Bedeutung für den Einsatz am Unfalltag gehabt hätten.

Die Liste von Mängeln und weiteren Zwischenfälle lässt sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit fortsetzen: So kam es am 9. Februar dieses Jahres zu einer erneuten Explosion im Chempark Leverkusen, bei der Gas austrat. Nur neun Tage vorher hatte es auf dem Werksgelände eine Verpuffung gegeben, bei der vier Arbeiter verletzt wurden.

Im Juni dieses Jahres hat Currenta die Müllverbrennungsanlage wieder teilweise in Betrieb genommen.

Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen vier Beschäftigte des Betreibers der Müllentsorgungsanlage, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Herbeiführung einer Sprengstoff-Explosion. Sie werden verdächtigt, ihre Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Lagerung und Behandlung des Abfalls verletzt und so das Unglück ausgelöst zu haben.

Die Initiative „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ CBG wies bereits vor Monaten darauf hin, dass es sich bei den zunächst drei Verdächtigen um Arbeiter handelt und nicht um die Verantwortlichen bei Bayer oder Currenta, die ihre eigene Verantwortung nach unten abwälzen.

„Mit diesem Vorgehen geht die Staatsanwaltschaft gegen die Kleinen vor und lässt die Großen laufen. Nicht die Arbeiter, sondern die Geschäftsleitung von Currenta und Bayer müssen ins Visier genommen werden!“, erklärte Marius Stelzmann von CBG.

Er fügte hinzu: „Wie mittlerweile bekannt geht es um Organisationsversagen, und dafür haften diejenigen, die die Anlage geplant, gebaut und betrieben haben, also die Geschäftsleitung des jetzigen Betreibers Currenta und die Verantwortlichen bei Bayer, die die Anlage errichteten und in Betrieb hatten. Nicht zuletzt trug eine einzig am Profit-Prinzip orientierte Wirtschaftsweise bei Currenta zur Vernachlässigung der Sicherheitsanforderungen und damit zur Katastrophe bei.“

CBG verweist auch auf die Verantwortung von Politik und Verwaltung. Die Behörden führten keine regelmäßigen Sicherheitskontrollen durch. Beamte der Bezirksregierung hatten vor dem Unglück zum letzten Mal 2018 im Chempark in Leverkusen vorbeigeschaut. Strengere Sicherheitsauflagen unterblieben, um die Profitinteressen der Konzerne nicht zu beeinträchtigen.

Hinzuzufügen sind die Rolle und Verantwortung von Betriebsrat und Gewerkschaft bei Currenta. Sie sehen ihre Aufgabe vor allem darin, Currenta vor kritischen Fragen in Schutz zu nehmen.

Einen Monat nach der Explosion machte das der Currenta-Betriebsratsvorsitzende Artur Oblong während einer Ratssitzung in Leverkusen klar. Auf kritische Fragen über die mangelnde Transparenz des Unternehmens entgegnete er, Verunsicherung – auch der Bevölkerung – entstehe vor allem, weil „vermeintliche Fachleute irgendwoher zitiert werden“.

Tatsächlich ist die Verunsicherung der Bevölkerung groß. Es herrscht berechtigte Angst, dass neue Explosionen und Unfälle im nahe gelegenen Chempark und der Sondermüllverbrennungsanlage jeden betreffen und gefährden könnten.

Eine Anwohnerin, Gisela Kronenberg, die weniger als zwei Kilometer von der Sondermüllverbrennungsanlage Leverkusen entfernt wohnt, erinnert sich an den Tag, an dem sie den lauten Knall der Explosion hörte.

„Ich bin sofort auf die Terrasse und habe ein Video von der riesigen Wolke gemacht. Wahrscheinlich weiß jeder Leverkusener, wo er an dem Tag war. Das ist vergleichbar mit dem 11. September“, berichtete sie am Jahrestag des Unglücks dem WDR. Viele Menschen in der unmittelbaren Umgebung leben seitdem mit der ständigen Sorge vor weiteren schweren Unfällen auf dem Currenta-Werksgelände.

Unmittelbar nach der furchtbaren Explosion hatte sich Currenta geweigert, Informationen über die genaue chemische Zusammensetzung der giftigen Stoffe herauszurücken, die in der riesigen Wolke beinhaltet waren und in der Umgebung als schwarze Russpartikel heruntergingen. Ebenso leugnete Currenta zunächst, dass das Grundwasser oder der Rhein kontaminiert wurden. Später wurde bekannt, dass durch eine defekte Klappe in einer Abwasserleitung monatelang kontaminiertes Löschwasser in ein Klärwerk und dann in den Rhein floss.

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