Wegen Nordirland-Protokoll: Johnson-Regierung treibt Großbritannien an den Rand eines Handelskriegs mit Europa

Die britische Regierung beabsichtigt, das Nordirland-Protokoll, das seit dem Brexit den Handel mit der EU regelt, einseitig zu ändern. Die Außenministerin Liz Truss sagte am Mittwoch im Parlament, dass ihre Regierung in Kürze ein entsprechendes Gesetz vorlegen werde.

Die EU reagierte mit einer Warnung: „Sollte das Vereinigte Königreich beschließen, einen Gesetzesentwurf zu bewilligen, der wesentliche Elemente des Protokolls undurchführbar macht, wie es die britische Regierung heute angekündigt hat, wird die EU mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen reagieren.“

Zuvor hatte sich Premierminister Boris Johnson während eines Besuchs in Nordirland bereits ähnlich wie Truss geäußert. Obwohl er das Protokoll vor zwei Jahren selbst ausgehandelt hatte, rechtfertigte er nun gegenüber dem Belfast Telegraph seinen Rückzieher mit der Behauptung, damit das Nordirland-Abkommen von 1998 zu verteidigen!

Der britische Premierminister Boris Johnson mit dem Abgeordneten Sir Jeffrey Donaldson, Democratic Unionist Party, im Hillsborough Castle, Nordirland, 16. Mai 2022 (Andrew Parsons/No. 10 Downing Street/Flickr) [Photo by Andrew Parsons/No 10 Downing Street / CC BY-NC-ND 2.0]

Das so genannte „Karfreitagsabkommen“ beendete 1998 den 30 Jahre währenden bewaffneter Konflikt zwischen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und ihrem politischen Arm Sinn Féin einerseits und dem britischen Staat und seinen unionistischen und loyalistischen Verbündeten andererseits. Dies geschah jedoch durch die Verankerung der konfessionellen Trennung, was bedeutet, dass alle Aspekte des politischen Lebens von der gemeinsamen Zustimmung der selbsternannten Vertreter der republikanischen/katholischen und der unionistischen/protestantischen Gemeinschaft abhängig gemacht wurden.

Johnson betonte, dass er vollständig hinter der Forderung der Democratic Unionist Party (DUP) nach Außerkraftsetzung des Nordirland-Protokolls stehe.

Bei den Parlamentswahlen am 5. Mai lag Sinn Féin mit 29 Prozent der Erstpräferenzstimmen an der Spitze und festigte damit ihre Position in den katholisch-nationalistischen Gebieten. Die DUP verlor massiv an Hardliner von der Traditionalist Unionist Voice. Allerdings verzeichnete auch die liberale und nicht-konfessionsgebundene Alliance Party Stimmgewinne. Angesichts von Sinn Féins Recht, den First Minister zu stellen, und einer EU-freundlichen Mehrheit im Parlament weigerte sich die DUP, einen stellvertretenden First Minister zu ernennen.

Das Nordirland-Protokoll ist darauf ausgelegt, nach dem Brexit die Rückkehr einer „harten Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern. Obwohl dadurch die externen EU-Zollkontrollen im Handel von der Nord-Süd-Grenze auf die Häfen in Nordirland und im Vereinigten Königreich verlagert werden, hat dies zu erheblichen Problemen und Kosten geführt. Die Kontrollen von Waren aus dem Vereinigten Königreich in nordirischen Häfen machen inzwischen schwindelerregende 20 Prozent aller Kontrollen an den Grenzen der EU aus.

Johnson benutzt die Haltung der DUP als Waffe gegen die EU und behauptet, das Karfreitagsabkommen sei bedroht, denn: „Ein Teil der politischen Gemeinschaft Nordirlands hat das Gefühl, das Protokoll bedrohe ihre Bestrebungen und ihre Identität.“ Er versprach: „Diese Regierung steht der Union nicht neutral gegenüber.“ Weiter erklärte er, er sei „erfreut zu hören, dass Sir Keir Starmer in einem Interview deutlich gemacht hat, dass die Labour Party unter seiner Führung, sollte es eine Umfrage zu den Grenzen geben, für die Union stimmen werde“. Das Karfreitagsabkommen sieht ein Referendum über die Vereinigung Irlands vor, falls es in den sechs Counties Nordirlands zu einer deutlichen demografischen und politischen Wende kommt.

Die britische Außenministerin Liz Truss (rechts) und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Vorfeld eines Treffens im Nato- Hauptquartier in Brüssel, 24. Januar 2022 (AP Photo/Olivier Matthys, Archiv) [AP Photo/Olivier Matthys, Pool]

Im Parlament erklärte Truss, die Regierung wolle innerhalb weniger Wochen ein Gesetz einbringen, das den Export von Gütern aus Großbritannien nach Nordirland erlaubt, sofern diese nicht für Irland und die EU bestimmt und durch einen „grünen Kanal“ vor Zollüberprüfungen geschützt sind. Das Gesetz soll der Regierung außerdem erlauben, die Steuerpolitik für ganz Großbritannien festzulegen, und es Unternehmen ermöglichen, entweder britische- oder EU-Standards zu wählen. Derartige Maßnahmen würden Nordirland enger an das Brexit-Projekt binden und Großbritannien in ein dereguliertes Niedrigsteuerland und einen strategischen Konkurrenten der EU verwandeln.

Das ist vor allem eine Herausforderung für die Republik Irland, die mit ihrer Körperschaftssteuer von nur 12,5 Prozent und dem Verzicht auf Wirtschaftsregulierungen für riesige Kapitaltransfers ins Ausland den globalen Konzernen eine Investitionsplattform bietet. Die fanatische Brexit-Befürworterin Andrea Leadsom rief die Regierung in einer Kolumne in Conservative Home auf, als Reaktion auf die „existenzielle Bedrohung“ durch das Protokoll, die zum „Zusammenbruch Großbritanniens“ führen könnte, einen „Freihafen in ganz Nordirland“ einzurichten.

Fahrzeuge im Hafen von Larne (Nordirland), 2. Februar 2021 (AP Photo/Peter Morrison)

Die Antwort von Sinn Féin besteht darin, sich als Verbündeter der europäischen Imperialisten im Konflikt mit Großbritannien zu profilieren, und sie bietet sich auch dem US-Imperialismus als Garant für dessen wirtschaftliche Dominanz in der Republik und für den Zugang seiner Unternehmen zum europäischen Markt an. Kurz nach den Wahlen erklärte ihre Parteizeitung An Phoblacht, das Karfreitagsabkommen sei nun durch die DUP und die Tory-Regierung „unmittelbar bedroht“. Sie appellierte an „die EU und die US-Regierung“, „standhaft zu bleiben“ und „die irische Regierung auf den Plan zu rufen“.

Im Vorfeld von Johnsons Besuch traf sich die Fraktionsführerin der Partei Michell O'Neill mit dem irischen Premierminister Micheál Martin in Dublin und erklärte, das Protokoll sei „da, um zu bleiben“.

Die Arbeiterklasse nördlich und südlich der Grenze, Katholiken wie Protestanten, befinden sich in einer zunehmend verzweifelten Lage. Ihre Lebenshaltungskosten steigen ins Unbezahlbare.

Der Anstieg der Preise für Nahrungsmittel, Treibstoff und Wohnraum ist von unmittelbarer Bedeutung für Arbeiter und ihre Familien. Nordirland hat mit 439 Pfund (ca. 518 €) nach Abzug der Wohnkosten das niedrigste Medianeinkommen pro Woche von ganz Großbritannien. Die Wohnkosten waren bisher immer niedrig, steigen jetzt aber dramatisch an. Im Februar warnte das National Institute of Economic and Social Research, die extreme Armut in Nordirland könnte auf mehr als 67 Prozent ansteigen; der nationale Durchschnitt liegt bei 30 Prozent.

Dass Johnson behauptet, das Vorgehen seiner Partei sei von der Sorge um die Lebenshaltungskosten getrieben, ist ein schlechter Witz. Doch auch die Unterstützung der EU mit ihrem Handelskriegskurs wäre nur ein anderer Weg zur Hölle. Die Arbeiter würden so wieder vor den Karren von verfeindeten Gruppen ihrer Ausbeuter gespannt werden.

Sinn Féin hat in dem knappen Vierteljahrhundert, in dem sie an der Macht war, nichts Grundlegendes an der sozialen Unterdrückung der katholischen Arbeiter geändert. Ihre Hochburgen in West-Belfast gehören zu den Gebieten mit der größten Wohnungsnot und dem höchsten Ausmaß von generationsübergreifender Arbeitslosigkeit. Stattdessen hat sie mit den Unionisten daran gearbeitet, protestantischen und katholischen Arbeitern im Interesse des Großkapitals Austerität aufzuzwingen.

Als Sinn Féin letztes Jahr in den Umfragen bei der irischen Parlamentswahl vorne lag, erklärte der Finanzsprecher der Partei Pearse Doherty zur Körperschaftssteuer von 12,5 Prozent im Süden: „Wir sind eine Partei, die glaubt, dass es einen Wettbewerbsvorteil in Bezug auf die Besteuerung in diesem Staat geben muss, und das muss fortgesetzt werden.“ Über die großen Konzerne sagte er: „Sie wissen, dass Sinn Féin nicht gegen sie vorgehen wird.“

Die Unterstützung für die imperialistischen Mächte und ihre politischen Stellvertreter wird noch gefährlicher durch die Tatsache, dass alle Seiten in diesem Konflikt in einen eskalierenden Stellvertreterkrieg der Nato-Mächte gegen Russland in der Ukraine verwickelt sind.

Selbst inmitten ihrer Tiraden gegen die EU wegen des Brexit begann Leadsom mit der Feststellung: „Wladimir Putins gewaltsamer und völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine hat das Beste in Europa zutage gefördert. Von defensiver militärischer Unterstützung bis zu humanitärer Hilfe und der Großzügigkeit der europäischen Bürger hat Putin mehr zur Stärkung der Nato und der Freundschaft innerhalb Europas beigetragen als irgendjemand anderes seit dem Zweiten Weltkrieg.“

Der britische Premierminister Boris Johnson bei Thales UK in Belfast, dem Hersteller der NLAW- und Starstreak-Raketen, 16. Mai 2022 (Andrew Parsons/No. 10 Downing Street/Flickr) [Photo by Andrew Parsons / No 10 Downing Street / Flickr / CC BY-NC-ND 4.0]

Das Unternehmen Thales UK produziert die Hochgeschwindigkeits-Flugabwehrrakete Starstreak und die Panzerabwehrwaffe NLAW, von denen Großbritannien Tausende in die Ukraine schickt. Laut ITV rief er „scherzhaft“: „Alle aufpassen!“, als er durch die Zieleinheit eines leichten Mehrfachraketenwerfersystems schaute.

Sinn Féin steht uneingeschränkt hinter diesem Krieg. Sie hat auf ihrer Website alte Artikel gelöscht, in denen sie antirussische Rhetorik kritisiert hatte, und diese Artikel als „veraltet“ bezeichnet. Parteichefin Mary Lou McDonald erklärt zum Thema Ukraine: „Irland versteht die Auswirkungen von Besetzung und imperialistischer Aggression.“

Die scharfe Eskalation der inner-imperialistischen Gegensätze zwischen Großbritannien und den europäischen Mächten, die zum Brexit geführt hat, findet ihren groteskesten Ausdruck in Irland. Hier hat die Grenze zwischen der Republik Irland und dem Norden keine andere Funktion, als das Relikt der historischen Unterwerfung Irlands durch Großbritannien zu schützen.

Doch um die britische Herrschaft über den Norden zu beenden, müssen die Arbeiter die sorgfältig gepflegten Gräben zwischen Katholiken und Protestanten überwinden und eine gemeinsame sozialistische Alternative zu jeder imperialistischen Macht und ihren lokalen Vertretern aufbauen.

Die Aufgabe besteht nicht darin, „das Protokoll zu verteidigen“, das den grenzübergreifenden Handel regelt, sondern alle nationalen Spaltungen in ganz Europa und der Welt zu überwinden. Dies erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse in einem politischen Kampf für ein sozialistisches Irland, ein sozialistisches Großbritannien und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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