Am 12. April erklärte US-Präsident Joe Biden, dass Russland in der Ukraine einen Völkermord begehe. Die von Biden vorgebrachte Behauptung ist eine Lüge, aber sie ist mehr als das. Es handelt sich um eine politische Provokation, die bewusst darauf abzielt, öffentliche Hysterie zu schüren. Sie soll eine massive Eskalation des Kriegs und die offene Beteiligung der Vereinigten Staaten legitimieren.
Völkermord ist ein Wort mit tiefem, historischem Gehalt. Kein schwerwiegenderer Vorwurf kann erhoben werden.
Raphael Lemkin, ein polnischer Jude und Jurist, prägte den Begriff „Genozid“ 1944 in seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“. Er setzt sich aus dem griechischen genos (Rasse oder Volk) und dem lateinischen occidere (Töten) zusammen. Sowohl das Wort selbst als auch seine spätere, juristische Begriffsbildung durch die Vereinten Nationen sind untrennbar mit dem Holocaust verbunden. Was die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs entdeckten, war Zeugnis für das schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte: Vernichtungslager, Massengräber, Gaskammern, Menschenöfen und Berge von Brillen, ausgeschlagenen Goldzähnen und Menschenhaar. Lemkins Wortschöpfung versuchte, dieser Ungeheuerlichkeit in einem Wort gerecht zu werden: es handelte sich um die sorgfältig geplante Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis. Mit industrieller Effizienz waren sechs Millionen Menschen umgebracht worden.
Diese Erfahrung verlangte nach einem präzisen Begriff, der der Forderung: „Nie wieder“ Rechtskraft und ethische Konkretheit verleihen sollte. In der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ kodifizierten die Vereinten Nationen 1948 eine völkerrechtliche Definition des Genozids als spezifisches Verbrechen: Darunter fallen Handlungen, „die in der Absicht begangen“ werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.
Die Verbrechen des Holocaust haben sich in das Bewusstsein der Welt eingebrannt. Völkermord ist demnach die vorsätzliche und systematische Ausrottung einer Bevölkerung aufgrund ihrer Rasse, Ethnie, Nationalität oder Religion. An diesem Maßstab wurden im Bewusstsein der Menschen die ungeheuerlichen Verbrechen des Imperialismus und des Kriegs gemessen, und wer sich dieser Barbarei angenähert hatte, wurde als völkermörderisch betrachtet. Die Geschichte wurde in diesem Licht neu untersucht, und es wurde festgestellt, dass Hitlers Verbrechen in den Verbrechen anderer Mächte vorweggenommen wurden.
Als sich der amerikanische Kapitalismus nach Westen ausdehnte, wurde dies durch Kohle für die Eisenbahn und durch völkermörderische Taten angetrieben. Die indigene Bevölkerung Amerikas stellte ein Hindernis dar, und Kavallerie und Siedler rotteten sie systematisch aus. Dazu gehörten der „Indian Removal Act“ von 1830, der „Trail of Tears“ (Pfad der Tränen), das Massaker von Sand Creek, die Zwangsumsiedlung von Kindern, das Abschlachten der Sioux, der Cheyenne, Komantschen und Yuki. Auf diese Weise wurde für die USA „der Westen gewonnen“.
Um die Jahrhundertwende nahm der amerikanische Imperialismus die Philippinen in Besitz, und das Ausmaß und die Grausamkeit, mit der er eine offizielle Kolonie in Asien eroberte, kam einem Völkermord gleich. Mehr als 200.000 Filipinos wurden getötet. Sie wurden gefoltert, ihre Dörfer wurden eingeäschert, und die Bevölkerung wurde in Konzentrationslager verschleppt. Die Verkörperung dieser brutalen Eroberung war General Jacob Smith, der zu seinen Soldaten sagte: „Ich möchte, dass ihr tötet und verbrennt; je mehr ihr tötet und verbrennt, desto besser wird es mir gefallen.“ Massenmord war ein Mittel zur kolonialen Eroberung.
Jede große Kolonialmacht hielt ihre Besitztümer mit völkermörderischer Gewalt unter Kontrolle, wenn sie es für nötig hielt. So sicherte Belgien sich Kautschuk aus dem Kongo mittels Zwangsarbeit, Verstümmelung, Folter und Massenmord. Das britische Empire hielt Indien mehrfach durch Massaker unter Kontrolle. Die Franzosen unterwarfen Algerien mit völkermörderischer Grausamkeit.
Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki durch die Vereinigten Staaten waren völkermörderische Handlungen. Die Bomben töteten fast eine Viertelmillion Menschen, die überwältigende Mehrheit von ihnen Zivilisten. Es ist unbestreitbar, dass Rassismus eine entscheidende Rolle spielte. In den USA wurden amerikanische Bürger japanischer Herkunft in Internierungslagern inhaftiert. Die „Japsen“ waren anders, so wurde häufig behauptet, und sie ergaben sich nie, es sei denn, man tötete jeden einzelnen von ihnen. Bei den zwei Atomexplosionen verbrannten Hunderttausende – Ärzte, Gymnasiasten, Großmütter – alle von ihnen, und Zehntausende weitere starben durch Strahlenvergiftung einen qualvollen Tod.
Im Kalten Krieg hielt die amerikanische herrschende Klasse ihre Hegemonie durch das Blutvergießen in der ganzen Welt aufrecht, und oft nahm es völkermörderische Ausmaße an. Der indonesische Diktator Suharto kam 1965 an die Macht, indem er Hunderttausende von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Indonesiens ermorden ließ. Die Vereinigten Staaten koordinierten diesen Massenmord, verfolgten seinen Verlauf und stellten den militärischen und paramilitärischen Einheiten, die ihn ausführten, Funkverbindungen zur Verfügung. Kommunisten und angebliche Kommunisten wurden mit Macheten totgehackt, und ihre verstümmelten Leichen verstopften die Flüsse von Sumatra, Java und Bali.
Als die UN-Konvention über Völkermord 1948 das Licht der Welt erblickte, wollten die Vereinigten Staaten sie nicht unterzeichnen und weigerten sich vierzig Jahre lang. Es war klar, dass sie hätten angeklagt werden können: wegen ihrer Kriege in Korea und Vietnam und der Bombenteppiche in Laos und Kambodscha, und weil sie Agent Orange und Napalm eingesetzt hatten. Als Washington 1988 schließlich die Konvention gegen Völkermord unterzeichnete, geschah dies nur unter der Bedingung, dass die Vereinigten Staaten Immunität vor Strafverfolgung wegen Völkermordes genießen sollten, es sei denn, die US-Regierung hätte sie genehmigt.
In den letzten dreißig Jahren brachen die Verbrechen des US-Imperiums im Nahen Osten und in Zentralasien niemals ab. Krankenhäuser und Dörfer wurden vorsätzlich bombardiert. Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. Wirtschaftssanktionen ließen Hunderttausende von Kindern verhungern, und Drohnenangriffe töteten viele beim Spielen. Einst stolze Zivilisationen liegen heute in Trümmern, heimgesucht von den Hunden des Krieges.
Würden Bush, Obama und Trump des Völkermordes beschuldigt, wäre die einzige plausible Verteidigung, die sie vorbringen könnten, der Umstand, dass sie zwar Angriffskriege angezettelt und geführt haben, in denen über eine Million Iraker und Hunderttausende Afghanen getötet wurden, dass sie jedoch den Tod von Männern, Frauen und Kindern nur als nützliches Mittel zum Zweck, nicht als Selbstzweck betrachtet haben. Ihr Handeln ist völkermörderisch – das kann niemand bestreiten.
Nun hat Joseph Biden, Präsident dieser bluttriefenden Macht, Russland des Völkermordes beschuldigt. Diese Anschuldigung verfälscht und verzerrt bewusst sowohl die aktuellen Fakten als auch die historisch belegte juristische Definition.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Biden verweist auf bestimmte Ereignisse: Leichen in den Straßen von Butscha und Mariupol, die Bombardierung eines Bahnhofs. Dies könnten zwar Kriegsverbrechen sein, aber sie müssen erst noch untersucht werden. Weder die genauen Einzelheiten, noch die Urheber der Taten sind bisher bekannt. Dass Putin die Absicht hat, das ukrainische Volk auszurotten, dafür gibt es keinerlei Beweise.
Nichts von dem, was in der Ukraine geschehen ist, reicht an den Maßstab für Völkermord der Nazis, der Vereinigten Staaten und anderer imperialistischer Mächte heran. Bidens Anschuldigung trivialisiert den Holocaust und vergewaltigt die Geschichte.
Bidens Vorwurf des Völkermordes ist alles andere als eine rhetorische Übertreibung aus moralischer Empörung. Es ist die bewusste und rücksichtslose Eskalation eines Konflikts im Dienste des US-Imperialismus, und sie richtet sich gegen Washingtons Feinde.
Die US-Regierung schreit: „Völkermord“, wenn Russland Kiew bombardiert, nicht jedoch, wenn Saudi-Arabien den Jemen mit US-Waffen bombardiert und dabei mehr als 377.000 Menschen tötet. Biden beschuldigt China des „Völkermords“ wegen seiner Behandlung der Uiguren, sagt jedoch kein Wort über Israels systematische Vernichtung der Palästinenser.
Die Gräuelgeschichten, die Washington auftischt, und die wiederholten, unbegründeten Anschuldigungen des Völkermords sagen uns weit weniger über die Ereignisse selbst als über das Kriegsfieber, das die imperialistischen Mächte ergriffen hat. Wenn sie den Genozid beschwören, ist eine weitere rhetorische Eskalation nicht mehr möglich.
Die USA bereiten sich auf einen direkten militärischen Konflikt mit Russland vor. Wenn Biden von Völkermord spricht, verwischt er dabei im Interesse seiner Kriegspropaganda alle mühsam erworbenen rechtlichen, historischen und moralischen Unterscheidungsmerkmale. Schon werden die Russen stigmatisiert, bedroht und gejagt und von internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, obwohl sie keine Verantwortung für die Handlungen ihrer Regierung tragen.
Es kann keinen Zweifel geben: Biden kultiviert eine völkermörderische Geisteshaltung, die sich durch irrationales Sündenbockdenken und nationalistischen Hass auszeichnet. Indem Biden diesen Begriff falsch gebraucht, setzt er einen globalen Krieg in Gang, der sich als weit größerer Völkermord an der gesamten Menschheit erweisen könnte.