Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Twitter veröffentlicht.
Der gestrige Leitartikel der New York Times-Redaktion („Dokumentiert die Kriegsverbrechen in der Ukraine“) lenkt verspätet die Aufmerksamkeit auf die Nürnberger Prozesse von 1946, in denen die Naziführer angeklagt und verurteilt wurden. Er zitiert die Definition des Tribunals für einen Angriffskrieg als internationales Verbrechen:
„Die Entfesselung eines Angriffskrieges ist daher nicht nur ein internationales Verbrechen; es ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, daß es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft.“
Im Jahr 2004 zitierte ich in einer Debatte am Trinity College den Nürnberger Prozess als völkerrechtliche Grundlage für die Anklage von Bush, Cheney, Rumsfeld, dem britischen Premierminister Blair und vielen anderen als Kriegsverbrecher, weil sie einen Angriffskrieg gegen den Irak begonnen haben.
In den letzten 30 Jahren, in denen die USA wiederholt Angriffskriege geführt haben, wurden die Nürnberger Prozesse von der Times ignoriert. Jetzt beschwört sie sie als Präzedenzfall gegen Putin und zeigt damit erneut, dass die Haltung der Medien zum Völkerrecht allein von den außenpolitischen Interessen der USA bestimmt wird.
Es mag durchaus einen Anklagefall gegen Putin geben – aber ihn für einen „Angriffskrieg“ zur Rechenschaft zu ziehen, während man die weitaus eklatantere Schuld zahlreicher US-Präsidenten und hochrangiger Beamter (z. B. Hilary Clinton) ignoriert, wäre eine juristische Farce.
Sollte Putin angeklagt werden, einen Angriffskrieg geführt zu haben, könnte die massive Bewaffnung der Ukraine dazu führen, dass sich die Staats- und Regierungschefs der USA und der Nato dem Vorwurf aussetzen, sie hätten einen illegalen Stellvertreterkrieg gegen Russland angezettelt und diesen geführt.
Die Times schreibt: „Russland behauptet selbstredend, die Gräueltaten in Butscha seien alle inszeniert. Und es kann gut sein, dass die Ermittler Beweise für Gräueltaten ukrainischer Truppen gegen Russen oder Kollaborateure finden werden. Dies ist ein Grund mehr, eine gründliche Untersuchung durchzuführen.“
Dieses einmalige Eingeständnis, dass auf beiden Seiten des Konflikts Verbrechen begangen worden sein könnten und dass die Vorwürfe sorgfältig untersucht werden müssen, ist eine Ausnahme in der Lawine von Anschuldigungen gegen Russland in der New York Times und den US-Medien.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
***
Im September 1982 wurden 3.500 palästinensische Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in der libanesischen Hauptstadt Beirut massakriert. Das israelische Militär, das Beirut besetzt hielt, gewährte den Faschisten Zugang zu den Lagern und ließ die Morde zu.
Eine offizielle Untersuchung ergab, dass der israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon persönlich für die Massentötungen verantwortlich war. Obwohl er von seinem Amt zurücktrat, blieb Scharon in der Regierung. Ohne jemals rechtlich zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, wurde Scharon später Israels Premierminister.
Die Vereinigten Staaten und ihre imperialistischen Verbündeten haben zahllose Kriegsverbrechen gebilligt und direkt ausgeführt. Die Reaktion der US-Regierung und der Medien auf Kriegsverbrechen – welche verurteilt, welche gerechtfertigt und welche ignoriert werden – wird von politischen Interessen bestimmt.
Mehr lesen
- Ein Brief von David North an einen russischen Genossen: „Putins Invasion ist eine verzweifelte Reaktion auf den unerbittlichen Druck, den die USA und die Nato auf Russland ausüben“
- Zum historischen und politischen Hintergrund des Ukraine-Kriegs: Ein Brief an einen Freund
- Ein Gespräch mit einem russischen sozialistischen Gegner des Krieges in der Ukraine