Die Morde von Hanau, zwei Jahre danach

Am heutigen Samstag wird in Hanau der Morde vom 19. Februar 2020 gedacht. Sie sind bis heute nicht restlos aufgeklärt und werfen Fragen auf, die weit über Hanau hinausreichen.

Die heutige Zeremonie auf dem Hanauer Friedhof wird im hessischen Fernsehen live übertragen, und auch in Offenbach und Dietzenbach wird es je ein öffentliches Gedenken geben. Am Nachmittag und Abend werden die Hinterbliebenen, Freunde und Unterstützer um 16 Uhr durch Hanau demonstrieren und sich anschließend zur Tatzeit an beiden Tatorten versammeln.

Dort wurden am späten Abend des 19. Februars 2020 in kurzer Folge neun Menschen erschossen. Der Täter, Tobias Rathjen (43), ein behördenbekannter Rassist, hatte kurz vor der Tat ein menschenverachtendes Bekennerschreiben ins Netz gestellt. Dennoch gelang es ihm, einen Tatort nach dem andern aufzusuchen und immer neue, ihm völlig unbekannte Menschen zu erschießen.

Am Hanauer Heumarkt erschoss er in der Bar La Votre erst den Familienvater Kaloyan Velkov (33), der dort als Wirt arbeitete, danach auf offener Straße den Arbeiter Fatih Saraçoğlu (34), darauf in der Midnight-Bar gegenüber deren Inhaber Sedat Gürbüz (29). Vom Heumarkt fuhr Rathjen dann fast drei Kilometer weiter nach Hanau-Kesselstadt, wo er erst den jungen Vili Viorel Păun (22) erschoss, einen Kurierdienstfahrer, der ihm im Wagen gefolgt war und mehrmals versucht hatte, die Polizei zu erreichen. Rathjen stieg aus, kam zu Vilis Wagen zurück und erschoss diesen durch die Frontscheibe.

In Kesselstadt streckte Rathjen daraufhin fünf weitere Menschen nieder: Im Kiosk erschoss er den Maurer Gökhan Gültekin (37) und Mercedes Kierpacz (35), eine alleinerziehende Mutter, die dort Pizza für ihre zwei Kinder holen wollte. Hinter der Theke ging Ferhat Unvar (22) nieder, ein junger Heizungs- und Gasinstallateur. Er verblutete an seinen Schusswunden. In der angrenzenden Arena-Bar streckte der Killer schließlich den Fachlageristen Hamza Kurtović (22) nieder und erschoss Said Nesar Hashemi (21), einen Maschinen- und Anlagenführer bei Dunlop. Drei weitere Besucher wurden schwer verletzt. Zuletzt fuhr der Täter unbehelligt nachhause, wo er sich selbst und seine Mutter erschoss.

Auch heute, zwei Jahre danach, sind viele Fragen unbeantwortet: Warum war der Mörder, ein polizeibekannter Rechtsextremist, im Besitz mehrerer Schusswaffen? Wie war es möglich, dass er eine so lange Zeit ungehindert töten konnte? Warum war der Notruf 110 so lange nicht erreichbar? Und wieso wurden die wichtigsten Details von den Hinterbliebenen ermittelt und nicht von den staatlichen Behörden?

Tobias Rathjen hatte in den Monaten vor der Tat durch mehrere Schreiben an den Generalbundesanwalt und an die Hanauer Staatsanwaltschaft auf sich aufmerksam gemacht. Die Briefe enthielten Verfolgungswahn-Phantasien, aber auch Hinweise auf seine Website. Dort stellte er am 13. Februar 2020, sechs Tage vor der Mordnacht, ein langes Dokument mit faschistischen Vernichtungsphantasien und Videos ein, das unmittelbar hätte alarmieren müssen. Doch nichts geschah, und die Mordserie nahm ihren Lauf.

In den Monaten vor der Tat hatte Rathjen mehrmals an einem Gefechtstraining in der Slowakei teilgenommen und andere Schießtrainings absolviert. Tatsächlich war er einer von vielen: Laut Verfassungsschutzbericht leben seit Ende 2020 in Deutschland mindestens 1.200 behördlich bekannte Rechtsextremisten, die legal Schusswaffen besitzen. Dazu sagte Serpil Unvar, die Mutter des ermordeten Ferhat: „Es ist schwer vorstellbar, dass kein deutscher Geheimdienst mitbekommen hat, wer hier Kampfeinsätze mit der Schusswaffe trainierte. Der Täter hat sehr viel trainiert, um am Ende unsere Kinder professionell zu töten.“

Auch andere Hinweise hätten die Behörden frühzeitig alarmieren müssen. Seit 2017 gab es zweimal Vorfälle in unmittelbarer Nachbarschaft des Täterwohnhauses: Ein Mann in voller Kampfmontur hatte Hanauer Jugendliche als „Kanaken“ beschimpft, mit einem Sturmgewehr bedroht und angekündigt, es werde „Tote geben“. Die alarmierte Polizei zog keinerlei Konsequenzen, verzichtete darauf, die Identität des Bewaffneten festzustellen, und drohte stattdessen den Jugendlichen mit einer Anzeige.

Traumatisch waren dann für die Opferfamilien die Ereignisse vom 19. Februar und danach. Nach den Morden wurden Eltern und Angehörige nicht informiert, sie wurden nicht zu den Tatorten vorgelassen und durften ihre getöteten Kinder nicht sehen. Stattdessen versammelte die Polizei sie in einer Polizeihalle in Hanau-Lamboy, wo sie bis zum nächsten Morgen warten mussten, ehe sie erfuhren, wer alles getötet worden war.

Betroffene erfuhren von den Behörden ein abweisendes, rücksichtsloses Verhalten. Piter Minnemann, ein Überlebender des Massakers in der Arena-Bar, ging nach den Schüssen auf eine Polizistengruppe zu, die vor dem Tatort stand, und sagte: „Kommen Sie schnell, auf uns wurde geschossen, da drinnen sterben Leute!“ Wie er berichtete, „hörten sie mir gar nicht zu“.

Als Mercedes Kierpacz nicht nachhause kam, wartete ihre Familie voller Unruhe viele Stunden lang im Freien vor der abgesperrten Arena-Bar, später im eigenen Wagen. Gegen zwei Uhr nachts wurden sie von mehreren bewaffneten Polizisten rüde kontrolliert. Die Streife ging auf die Bitte des Vaters: „So hören Sie doch, ich bin der Vater von Mercedes“, nicht ein. Die Polizisten hießen mit vorgehaltener Waffe alle aussteigen und die Hände auf den Wagen legen. Erst als ein weiterer Beamter einschritt und sagte: „Das sind die Angehörigen“, ließen sie von der Familie ab, ohne sich jedoch zu entschuldigen, lediglich mit der Feststellung: „Falscher Alarm.“

Auch Vili Viorel Pauns Eltern warteten voller Unruhe. Erst am folgenden Mittag gingen sie zur Polizei, um erst dort zu erfahren, dass ihr Sohn seit Stunden tot war. Kein Wort über Vilis vergebliche Versuche in der Tatnacht, die Polizei zu alarmieren und den Täter zu stoppen. All dies fanden die Eltern erst viel später selbst heraus. Vili Viorel Paun hatte dreimal versucht, den Notruf 110 zu erreichen, kam aber nicht durch, und seine Notrufe wurden nicht registriert.

Schon unmittelbar nach den ersten Morden am Heumarkt hatten weitere Zeugen die Polizei über das Autokennzeichen des Mörders informiert. Dennoch dauerte es fünf Stunden bis um drei Uhr nachts, ehe die Polizei gewaltsam in das Haus des Täters in Hanau-Kesselstadt eindrang.

Die Leichen wurden nach Frankfurt gebracht und dort obduziert, ohne dass die Angehörigen informiert waren, geschweige denn, dass sie ihre Zustimmung gegeben hätten. In den Berichten stand wahrheitswidrig, die Familien seien „nicht erreicht worden“. Die Hinterbliebenen hatten keine Chance, ihre getöteten Liebsten vor der Obduktion noch einmal zu sehen. „Man hat uns das Recht genommen, uns würdig zu verabschieden“, sagte ein Angehöriger.

All die vielen Einzelheiten ergeben zusammen ein klares Bild: Überlebende und Angehörige hatten es mit einer Polizei zu tun, deren Verhalten voreingenommen, schlampig und teilweise rassistisch war. Im Falle Vili Viorel Pauns war der Totenschein auf seinen Vater, Nicolescu Paun, ausgestellt. Wie Hamzas Vater, Armin Kurtović, berichtet, wurde sein Sohn im Totenschein als „orientalisch-südländisch“ beschrieben, obwohl er dunkelblond, blauäugig und hellhäutig war. „Acht Tage wussten wir nicht, wo er ist“, so Kurtović.

Mehrere Hinterbliebene erhielten nach den Morden sogar eine „Gefährderansprache“, d.h. eine offizielle Ansprache der Polizei, dass die Behörden den Betreffenden als mögliche Gefahr im Blick hätten.

Stimmen von der Demonstration gegen rechten Terror in Hanau, 21. Februar 2020

Zu Recht kritisieren viele den strukturellen Rassismus, der sich in Hanau zeigte. Aber es ist mehr als das. Der Anschlag auf die Neun von Hanau war ein Anschlag auf die Arbeiterklasse. In Hanau und besonders Hanau-Kesselstadt wohnen hauptsächlich Arbeiterfamilien, die ursprünglich aus Kurdistan, der Türkei, Bosnien, Bulgarien oder Rumänien kommen, und deren Kinder hier geboren und aufgewachsen sind. Sie arbeiten am Bau oder bei Dunlop, bei Opel, am Rhein-Main-Flughafen oder in der Bankenmetropole, als Pflegekräfte, im Reinigungsgewerbe oder in der Zulieferindustrie. Die meisten kennen sich und treffen sich am Feierabend, beim Einkaufen, an den Schulen, beim Sport. Gegen diese internationale, proletarisch geprägte Nachbarschaft richteten sich Rathjens tödliche Schüsse.

Hierin liegt auch der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der unbeantworteten Fragen. Gegen diese Gesellschaftsklasse richtet sich bis heute die gesamte offizielle Politik. Die Interessen der Herrschenden, ihre Profite-vor-Leben-Politik in der Pandemie und besonders ihre Krisen- und Kriegspolitik vertragen sich nicht mit den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung. Wie die WSWS bereits erklärt hat: „Schon die schiere Existenz einer wachen und potentiell aufmüpfigen Arbeiterklasse stellt für die regierenden Politiker eine ständige Bedrohung dar.“

Die etablierten Parteien haben systematisch ein politisches Klima geschaffen, das der AfD Auftrieb verleiht und rechtsextreme Gewalttäter ermutigt. Dies zeigt sich in Hessen besonders deutlich. Rechtsradikale Netzwerke, die weit in den Staatsapparat hineinreichen, werden von höchster Stelle geschützt und vor der Öffentlichkeit verborgen. Als der NSU im April 2006 Halit Yozgat erschoss, war ein Mitarbeiter des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), Andreas Temme, persönlich in Kassel zugegen. Ein interner Bericht zu den NSU-Erkenntnissen des hessischen Geheimdiensts bleibt für die Öffentlichkeit 30 Jahre lang gesperrt.

Auch der Mord am Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) in Kassel ist bis heute alles andere als geklärt. Genau wie die Morde von Hanau wird er als das Werk eines „Einzeltäters“, des Faschisten Stephan Ernst, hingestellt.

Auf ähnliche Weise wird auch mit den NSU-2.0-Drohschreiben an Vertreterinnen linker Politik und Kultur umgegangen, die derzeit vor dem Landesgericht in Frankfurt verhandelt werden. Beschuldigt wird ausschließlich der 54-jährige Berliner Alexander M., auch er ein „Einzeltäter“. Innenminister Peter Beuth (CDU) behauptet: „Hessische Polizistinnen und Polizisten waren zu keinem Zeitpunkt Absender oder Tatbeteiligte der NSU-2.0-Drohmails-Serie“. Das ist erwiesenermaßen gelogen. Weniger als eine Stunde, ehe die Rechtsanwältin Seda Başay-Yildiz das erste Drohschreiben erhielt, hatte es im 1. Polizeirevier in Frankfurt nicht weniger als 17 Abfragen aus drei Datenbanken von einem Dienstcomputer aus gegeben.

Auch im Fall der Morde von Hanau hat Innenminister Beuth die „professionelle Arbeit“ der Polizei in der Tatnacht ausdrücklich gelobt. Derselbe Innenminister musste jedoch im Juni 2021 das Spezialeinsatzkommando (SEK) der Frankfurter Polizei auflösen, weil mindestens 20 seiner Beamten in Chats mit rechtsextremen Inhalten verkehrten, wo sie Nazisymbole geteilt und Volksverhetzung betrieben hatten. Ausgerechnet diese SEK-Einheit war aber in der Tatnacht mit dreizehn Beamten in Hanau im Einsatz und vor Ort.

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