Perspektive

Fast eine Million Covid-19-Todesopfer in den USA

Am Montag läutete die Glocke der Washington National Cathedral 900 Mal, um der 900.000 amerikanischen Covid-19-Toten zu gedenken.

Es ist gerade einmal 55 Tage - weniger als zwei Monate - her, dass die Glocken der Kathedrale zum Gedenken an die traurige Marke der 800.000 Toten geläutet wurden.

Und bei der derzeitigen Sterberate von 2.700 Menschen täglich wird es nur noch 37 Tage dauern, bis die Vereinigten Staaten eine Million Tote zu verzeichnen haben.

Millionen Menschen schmerzt der Verlust von geliebten Freunden und Angehörigen – doch dieser erneute Meilenstein stieß in den Medien auf Gleichgültigkeit.

Als die Vereinigten Staaten im Mai 2020 die Zahl von 100.000 Todesfällen durch Covid-19 erreichten, widmete die New York Times ihre gesamte Titelseite einer Liste der Toten. Doch obwohl die Zahl heute neunmal so hoch ist, veröffentlichte die Times nur einen winzigen Vermerk am unteren Rand ihrer Titelseite mit der Überschrift „900.000 Tote, aber viele Amerikaner machen weiter“.

Gedenken an die Opfer von Covid-19 an einem Friedhofzaun in Brooklyn (AP Photo/Mark Lennihan)

Welch unsägliche Gefühllosigkeit. Was bedeutet es, „weiterzumachen“? Die Formulierung „move on“ kann verwendet werden, um beispielsweise einen Jobwechsel zu beschreiben. Die Toten können nicht „weitermachen“. Und die Hinterbliebenen, die den Tod eines Familienmitglieds oder eines Freundes verkraften müssen, leben für den Rest ihres Lebens mit der Erfahrung des Verlustes, umso mehr, wenn der Tod plötzlich und unerwartet eintrat und wenig oder keine Zeit blieb, sich vorzubereiten und zu verabschieden. Und um die Tragödie und die anhaltende Trauer der Überlebenden noch zu verstärken, starben Tausende allein auf den Intensivstationen, ohne Trost der Angehörigen.

Wenn die Times von „weitermachen“ spricht, dann meint sie nicht die trauernden Menschen. Die Redakteure der Times sprechen für die Kapitalistenklasse und beschreiben ihr Verhalten.

„Weitermachen“ bedeutet für die politischen Entscheidungsträger in Staat und Regierung, dass die Finanz- und Konzernelite sowie ihre Apologeten in den Medien so tun, als ob die Pandemie vorbei wäre. Die Regierungen in den Bundesstaaten und in Washington D.C. heben die Beschränkungen auf, so dass die Seuche sich noch weiter ausbreitet. Es wird nicht lange dauern, bis die Zahl der Toten die Millionengrenze überschreitet.

Während der Tod normal wird, ist die Berichterstattung zurückhaltend und nahe an der massiven Vertuschung. Ein US-Bundesstaat nach dem anderen reduziert die Häufigkeit der Meldung von Neuinfektionen und Todesfällen, schließt seine Covid-19-Dashboards und stellt die Programme zur Ermittlung von Kontaktpersonen ein. Anfang dieses Monats hat das US-Gesundheitsministerium im Rahmen einer internationalen Initiative zur Beendigung der Meldung von Infektionen und Todesfällen die tägliche Berichterstattung über Todesfälle in Krankenhäusern eingestellt.

Die zunehmenden Bemühungen, die Pandemie zu vertuschen und „weiterzumachen“, fallen zusammen mit einer immer schrecklicheren Realität, mit der die amerikanische Gesellschaft konfrontiert ist.

An jedem Wochentag der vergangenen Woche starben nach offiziellen Angaben mehr als 3.000 Menschen in Amerika an Covid-19. Allein in der vergangenen Woche verloren 18.578 Menschen ihr Leben.

Mehr als 60.000 Amerikaner starben im Januar. Es war der tödlichste Monat seit Februar 2021, als die Zahl der vollständig geimpften Menschen noch an einer Hand abzuzählen war. Wenn die derzeitige Sterblichkeitsrate anhält, wird der Februar noch schlimmer als der Januar und damit der drittschlimmste Monat in der Geschichte der Pandemie.

Seit Beginn der Pandemie hat einer von 366 Amerikanern sein Leben durch Covid-19 verloren, darunter einer von 31 Amerikanern über 85 Jahren. Im ersten Jahr der Pandemie, 2020, starben 351.000 Amerikaner. Weitere 475.000 starben im Jahr 2021. Bislang sind allein in 2022 in den USA mehr als 75.000 Menschen gestorben. Wenn die Todesrate vom Januar über das Jahr anhält, wird die Zahl der Todesfälle im dritten Jahr der Pandemie mit 720 000 die bisher höchste sein.

Es ist fast unmöglich, das bis jetzt schon erreichte Ausmaß des Todes anschaulich zu machen. Die Zahl der Covid-19-Toten in den USA ist vier- bis sechsmal höher als die Zahl der Menschen, die bei den Atomangriffen auf Hiroshima und Nagasaki getötet wurden. Sie entspricht in etwa der gesamten Bevölkerung des Bundesstaates Delaware und ist größer als die Einwohnerzahl der Städte Detroit, Washington D.C., Las Vegas oder Seattle.

Die Zahl der durch Covid-19 verursachten Todesfälle übersteigt die Zahl der Gefechtstoten in allen Kriegen, die die Vereinigten Staaten je geführt haben, um ein Vielfaches.

Aber selbst die offiziellen Zahlen sind eine massive Unterschätzung der durch die Pandemie verursachten Verluste an Menschenleben. Der Economist schätzt, dass die tatsächliche Übersterblichkeit in Amerika bei 1,2 Millionen liegt.

Unter den Toten befinden sich 1.244 Kinder, und nach offiziellen Angaben sterben jetzt jeden Tag durchschnittlich sieben Kinder an Covid-19.

Die Zahl der Toten allein verdeutlicht jedoch nicht die massiven Auswirkungen der Pandemie auf die amerikanische Gesellschaft. Dr. Charles Nelson, Mitverfasser einer im vergangenen Oktober veröffentlichten Studie über „Covid-Waisen“, erklärte letzte Woche gegenüber Newsweek, dass die Zahl der Kinder, die einen Elternteil oder eine Bezugsperson durch Covid-19 verloren haben, inzwischen 200.000 überschritten hat. Das Ausmaß des Traumas, das einer ganzen Generation zugefügt wurde, ist unermesslich.

In der Studie heißt es: „Das Leben der Kinder wird durch den Verlust der Mutter, des Vaters oder der Großeltern, die ihnen ein Zuhause, Grundbedürfnisse und Fürsorge geboten haben, dauerhaft verändert. Der Verlust eines Elternteils gehört zu den negativen Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences, ACEs), die mit psychischen Problemen verbunden sind.“

„Wir alle - insbesondere unsere Kinder - werden die schwerwiegenden unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen dieses Problems über Generationen hinweg zu spüren bekommen“, so die Schlussfolgerung der Studie.

Neben der steigenden Zahl von Todesfällen leiden heute Millionen von Amerikanern an Long Covid, das eine Reihe von Symptomen der Schwächung umfasst, die nahezu jeden Teil des Körpers betreffen können, einschließlich Gehirn, Herz, Lunge und andere lebenswichtige Organe.

Während die Medien und das politische Establishment versuchen, die steigende Zahl der Todesopfer zu vertuschen, und sich weigern, ernsthafte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen, schreien sie nach einem Krieg mit Russland und China. Sie haben mehr als 900.000 Amerikaner getötet und sind in rücksichtslose Provokationen verwickelt. Es droht die Entwicklung eines Konflikts mit Nuklearwaffen, der die Zivilisation zerstören könnte.

Am Sonntag verkündeten die New York Times in ihrem Leitartikel und die NBC Nightly News in ihrem Aufmacher atemlos, dass bei einer russischen Invasion in der Ukraine 50.000 Zivilisten sterben würden. Sie ignorierten dabei gänzlich, dass im Monat zuvor eine höhere Zahl an Amerikaner an einer vermeidbaren Krankheit gestorben war.

Die herrschende Klasse hat nicht die Absicht, die Pandemie zu beenden. Die 10 reichsten Männer der Welt haben ihr Nettovermögen in den letzten zwei Jahren verdoppelt. Der S&P 500-Aktienindex ist um mehr als 40 Prozent gestiegen, und jede Form von Finanz- und Immobilienvermögen hat an Wert gewonnen.

Die internationale Arbeiterklasse ist die soziale Kraft, die die Pandemie stoppen kann und muss. Auf der ganzen Welt tritt die arbeitende Bevölkerung immer bewusster mit diesem Ziel in den Kampf. In den USA und Europa haben Lehrkräfte und Schüler zig Streiks durchgeführt, um die Umstellung auf Online-Unterricht zu fordern. In Deutschland haben mehr als 120.000 Schüler, Eltern und Arbeiter eine Petition gegen die rücksichtslose Schulöffnungspolitik der Regierung unterzeichnet.

Diese wachsende Bewegung der Arbeiterklasse muss mit einem wissenschaftlichen und politischen Verständnis der Pandemie unterfüttert sein. Der unnötige Tod von mehr als 900.000 Amerikanern stellt ein massives soziales Verbrechen dar, das untersucht und genauestens dokumentiert werden muss. Im November letzten Jahres initiierte die World Socialist Web Site den Global Workers‘ Inquest, eine globale Ermittlung der Arbeiter in Sachen Corona-Pandemie, um eine solche Untersuchung durchzuführen und die Wahrheit darüber aufzudecken, wer die Verantwortung für die Pandemie trägt.

Die Pandemie hat vor den Augen der Bevölkerung den wahren Charakter des amerikanischen Kapitalismus offenbart: eine Gesellschaftsordnung, die sich der egoistischen Bereicherung einer Finanzoligarchie verschrieben hat und der das Schicksal der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt gleichgültig ist.

Es ist eine grausame Lektion, aber eine, die man sich zu Herzen nehmen muss: Der Kapitalismus ist grundsätzlich unvereinbar mit den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft. Der Kampf gegen die Pandemie ist untrennbar mit dem Kampf zur Abschaffung dieser Gesellschaftsordnung verbunden, um sie durch den Sozialismus zu ersetzen.

Loading