US-Präsident Joe Biden gab am Donnerstag im Weißen Haus eine Erklärung heraus, in der er die Mission zur Ermordung des angeblichen Anführers des Islamischen Staates (IS) in der nordwestsyrischen Provinz Idlib feierte. Laut Pentagon war die Mission „erfolgreich“.
Das Ziel des Angriffs, Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi, wurde zusammen mit mindestens 12 weiteren Personen von einem US-Mordkommando getötet, das mit einem Hubschrauber abgesetzt wurde und mit Luftunterstützung sein Haus in Atmeh nahe der syrisch-türkischen Grenze belagerte.
Rettungskräfte erklärten gegenüber Al Jazeera, sie hätten nach dem Abzug der US-Truppen 13 Leichen aus den Trümmern des dreistöckigen Hauses geholt, darunter vier Frauen und sechs Kinder.
Die US-Truppen verzeichneten keine Todesopfer bei der Operation. Ein Hubschrauber wurde zerstört. Allerdings betonte das Pentagon, dabei handele es sich nicht um einen Verlust durch Feindbeschuss, sondern um eine bewusste Zerstörung aufgrund von technischen Problemen.
Biden und das Pentagon hatten bereits im Vorfeld ein Alibi für die zivilen Todesopfer dieses illegalen Mordanschlags: Sie behaupteten, der angebliche IS-Führer habe Sprengstoffe zur Explosion gebracht, als die US-Kommandos anrückten. Die Kinder seien, wie es das Pentagon formulierte, „menschliche Schutzschilde“ und alle Todesopfer die Folge von al-Quraischis „letztem verzweifelten Akt der Feigheit“ gewesen, wie es Biden formulierte.
Nachbarn berichteten jedoch, dass die US-Spezialeinheiten Warnungen herausgegeben hatten, laut denen jeder, der das Haus nicht verlasse, sterben werde. Ein Nachbar erklärte gegenüber Al Jazeera, er habe um 3 Uhr morgens, zwei Stunden nach der Landung der Spezialeinheiten, eine „Welle von Angriffen“ gehört.
Zuvor hatte die New York Times im letzten Monat bisher geheim gehaltene Dokumente veröffentlicht, laut denen bei US-Luftangriffen im Irak und Syrien während des Kriegs gegen den IS Tausende von Zivilisten getötet wurden und dass das Pentagon diese Todesfälle systematisch vertuscht hat.
Genau wie bei früheren Mordoperationen gegen den al-Qaida-Führer Osama bin Laden unter Präsident Barack Obama (2011) und den ehemaligen IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi unter Präsident Donald Trump (2019) wurde nach dem Mord am Donnerstag behauptet, er habe die Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung erhöht. Genau wie die früheren Episoden wurde sie zum Anlass genommen, an die nationale Einheit zu appellieren und den amerikanischen Militarismus zu verherrlichen.
In seiner Rede im Weißen Haus bezeichnete Biden das US-Militär als das „stählerne Rückgrat dieser Nation (…) Diese Operation verdeutlicht Amerikas Reichweite und Fähigkeit, terroristische Bedrohungen auszuschalten, egal wo auf der Welt sie versuchen, sich zu verstecken.“
Die Operation, die sich vor dem Hintergrund der fieberhaften Kriegskampagne gegen Russland ereignete, wird als Beispiel für die Fähigkeit der USA dargestellt, ihre militärische Macht weltweit auszuüben.
Auch die Aufrufe zur nationalen Einheit zeigen nach mehr als 20 Jahren des „globalen Kriegs gegen den Terror“ nur noch begrenzte Wirkung. In diesem Krieg wurden im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien und vielen weiteren Ländern mehr als eine Million Menschen umgebracht. Auch wurden Tausende US-Soldaten getötet oder verstümmelt. Das Pentagon hat dafür Billionen Dollar verschwendet.
Anders als von Bin Laden und al-Baghdadi hatte bisher noch niemand von al-Quraischi gehört. Biden bezeichnete ihn zwar als „diesen schrecklichen Terroristenführer“, aber kein US-Regierungsvertreter hatte ihn jemals mit einem spezifischen Terrorkomplott in Verbindung gebracht.
Dass die Ermordung von al-Quraischi irgendeine strategische Bedeutung hat und die terroristische Bedrohung in irgendeiner Form verringern wird, ist noch unwahrscheinlicher als beim Tod seiner Vorgänger. In den USA gehen derartige Bedrohungen jedenfalls zunehmend von einer faschistischen Schicht aus, die ein Teil der Anhängerschaft der Republikaner darstellt, mit denen Biden Einigkeit anstrebt.
Der Versuch, diese jüngste Mordmission als Triumph der Kompetenz der Geheimdienste und des militärischen Muts darzustellen, ist kaum glaubwürdig. Zweifellos wurde al-Quraischi von US-Truppen getötet, weil er den Schutz verloren hatte, den er bis dahin besaß.
Der Mord ereignete sich in einem Teil der Provinz Idlib, die von der Gruppierung Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) kontrolliert wird. Dieser Organisation von „Rebellen“ gehören u.a. der frühere syrische al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front und ihre Verbündeten an. Das Gebiet liegt nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze und vom größten Flüchtlingslager Syriens entfernt und wird vom türkischen Militär, das in Idlib 15.000 Soldaten stationiert hat, und vom türkischen Geheimdienst sorgfältig überwacht.
HTS versucht, sich mit Unterstützung der Türkei als Teil der „demokratischen“ Opposition gegen das syrische Regime von Baschar al-Assad darzustellen und sich von seiner Vergangenheit mit al-Qaida und dem Terrorismus zu distanzieren. Möglicherweise wurde al-Quraischi als Teil dieser Bestrebungen an die USA verraten. Sofern sein Aufenthaltsort Washington im Voraus mitgeteilt wurde, hat das Weiße Haus entschieden, dass dieser Mord politisch nützlich sein könnte, zweifellos auch, um die Demütigung durch den Rückzug aus Afghanistan teilweise auszugleichen.
Nur eine Woche vor dem US-Überfall in Idlib wurde in der nordostsyrischen Stadt Hasaka ein Versuch des IS, durch einen Angriff auf die Tore und eine Gefangenenrevolte ein Gefängnis zu erobern, blutig unterdrückt.
Washingtons wichtigste Stellvertretertruppe in Syrien, die überwiegend kurdische Miliz SDF, die von amerikanischen Soldaten, Panzerfahrzeugen und Luftangriffen unterstützt wird, hat das Gefängnis zurückerobert. Dabei wurden fast 500 Menschen getötet, darunter Zivilisten in den umliegenden Stadtteilen. Es ist die größte US-Militäraktion seit der Eroberung der letzten IS-Hochburgen im Jahr 2019.
Die syrische Regierung hat bei den Vereinten Nationen gegen das Vorgehen protestiert. Sie warf Washington vor, es wolle den IS „recyceln“, bzw. wiederaufleben lassen, um die illegale Besetzung des nordöstlichen Landesteils und seiner Ölfelder durch etwa 900 Mann US-Spezialeinheiten zu rechtfertigen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Syrische Regierungsvertreter haben der SDF und den US-Truppen vorgeworfen, sie würden gefangene IS-Kämpfer in von der Regierung kontrollierte Gebiete verlegen, wo sie Anschläge verüben.
Die Entwicklung von al-Quraischi selbst verweist auf die komplizierten Verstrickungen zwischen dem US-Imperialismus und seinem Frankenstein-Monster im Nahen Osten, dem IS.
Al-Quraischi wurde im Irak geboren und schloss sich 2007 dem sunnitischen Widerstand gegen die US-Besatzung an. Anfang 2008 wurde er von den Amerikanern gefangengenommen und im Camp Bucca inhaftiert, wo er al-Baghdadi traf. Die Islamisten konnten dort ungehindert neue Anhänger rekrutieren und indoktrinieren.
Berichten zufolge wurde al-Quraischi als der „Kanarien-Kalif“ bezeichnet, weil er bereitwillig mit seinen amerikanischen Vernehmungsbeamten kollaborierte. Laut freigegebenen US-Dokumenten hat er mindestens 68 weitere irakische sunnitische Aufständische belastet, darunter ihren zweithöchsten Führer, der bei einem US-Angriff getötet wurde. Die Dokumente bezeichneten al-Quraischi als „vorbildlichen Gefangenen“.
Es ist nicht bekannt, wann al-Quraischi freigelassen wurde. Allerdings war er den amerikanischen Geheimdiensten eindeutig bekannt, vermutlich war er Mitarbeiter einer CIA-Abteilung oder des Militärs.
Er schloss sich einer al-Qaida-nahen Fraktion an, die ihrerseits aus dem von der CIA orchestrierten Krieg in Afghanistan in den 1980ern hervorgegangen war. Die Organisation, der er sich anschloss, wuchs, weil in der Bevölkerung massive Wut über die Verbrechen der USA im Irak existierte, und weil Washington im Rahmen seiner Teile-und-Herrsche-Strategie bewusst religiöse Spaltungen schürte.
Einmal in Syrien angekommen, expandierte der IS rasch, und er machte sich den Regime-Change-Krieg gegen Präsident Assad zu eigen, den auch die US-Regierung förderte. Der IS profitierte von den Waffen, dem Geld und den ausländischen Rekruten, die von der CIA und Washingtons regionalen Verbündeten ins Land geschleust wurden. Der IS wurde erst ein Problem für den US-Imperialismus, als er 2014 wieder in den Irak zurückkehrte, ein Drittel des Landes eroberte und die von den USA ausgebildeten Sicherheitskräfte in die Flucht schlug.
Der amerikanische Überfall, bei dem al-Quraischi getötet wurde, ist ein Hinweis auf die Verschärfung der US-Militäroperationen in Syrien und dem gesamten Nahen Osten. Dazu gehört auch die Unterstützung des Pentagons für den nahezu völkermörderischen Krieg Saudi-Arabiens im Jemen.
Zwar richtet Washington das Hauptaugenmerk auf seine Kriegsvorbereitungen gegen Russland und China, aber dennoch bleibt der ölreiche Nahe Osten für den US-Imperialismus ein wichtiges Feld. Er versucht mit zunehmender Verzweiflung, seine globale Hegemonie zu verteidigen und seine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise mit militärischen Mitteln zu lösen.