Mehr als eine Million Corona-Tote in Osteuropa

Kurz vor dem Jahreswechsel überschritt die Zahl der Corona-Todesopfer in Osteuropa laut Schätzungen der Presseagentur Reuters die Marke von einer Million.

Obwohl in dieser Region, die sich von Tschechien bis nach Russland und Rumänien erstreckt, nur etwa 39 Prozent der europäischen Bevölkerung leben, verzeichnet sie rund 55 Prozent der europaweit 1,8 Millionen Coronatoten. Der Statistik-Website Worldometer zufolge erlagen allein in Russland 319.904 Menschen dem Virus, 99.761 in Polen, 97.325 in der Ukraine, 59.027 in Rumänien, 39.947 in Ungarn und 36.624 in Tschechien (Stand: 10. Januar).

Behandlung eines Patienten mit Covid-19 auf einer Intensivstation in Riwne, 300 km westlich von Kiew. In der Ukraine und anderen Teilen Osteuropas und Russland wütet eine neue Covid-19-Welle. (Archivbild vom 22. Oktober 2021, AP Photo/Ewgeni Maloletka)

Seit dem Herbst hat bereits die Infektionswelle der Delta-Variante zu katastrophalen Zuständen geführt – mit täglich hunderten Toten selbst in kleineren Ländern wie Tschechien oder Ungarn. Polen meldete am 29. Dezember einen neuen Tageshöchswert mit 794 Toten. Wie in allen Ländern sah die Regierung auch dort tatenlos zu, wie sich die Infektionen von wenigen Hundert am Tag im Sommer auf 20.000 täglich ausweiteten.

Seit November liegt der Anteil der positiven Tests in Polen bei etwa 20 Prozent, was auf eine enorme Dunkelziffer schließen lässt. Auch steigen die Todeszahlen weiter rapide an, zuletzt im Wochendurchschnitt auf rund 450. Mit über 24.000 hospitalisierten Corona-Patienten am 17. Dezember erreichten die Krankenhauseinweisungen in Polen ebenfalls ihren vorläufigen Höhepunkt. Etwa 2000 Patienten mussten aufgrund ihres kritischen Zustands mit Beatmungsgeräten versorgt werden.

Damit steht das Gesundheitssystem kurz vor dem Kollaps. Laut dem Gesundheitsministerium verfügt das Land über etwa 31.900 Covid-Betten und 2900 Beatmungsgeräte.

In Polen sind lediglich 57 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft. Nur 19 Prozent haben eine sogenannte Booster-Impfung erhalten, welche entscheidend ist, um die Gefahr eines schweren Verlaufs deutlich zu reduzieren. Da der Bevölkerungsanteil der über 65-Jährigen 18,7 Prozent beträgt, ist ein großer Teil der Bevölkerung extrem gefährdet.

In den anderen osteuropäischen Ländern ist die Lage ähnlich dramatisch. So liegt die Impfrate in Rumänien nur knapp über 40 Prozent, in der Ukraine und Ungarn knapp über 30 Prozent und in Russland bei 46 Prozent. Die Tschechische Republik hat mit 64 Prozent noch eine der höchsten Impfquoten in der Region – aufgrund der offiziellen Durchseuchungspolitik aber trotzdem eine der höchsten Todesraten (3398 Tote auf eine Million Einwohner).

Das Massensterben in Osteuropa ist eine schreiende Anklage des kapitalistischen Profitsystems. Die Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistische Bürokratie vor 30 Jahren hat eine beispiellose soziale Konterrevolution eingeleitet. Die aus einstigen stalinistischen Bürokraten rekrutierte Oligarchie überzieht die osteuropäischen Länder mit einer „Reform“ im Interesse der Banken und Konzerne nach der anderen.

Auch das Gesundheitssystem wurde regelrecht kaputt gespart. So lagen die Ausgaben für das Gesundheitswesen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in allen osteuropäischen Ländern im Jahr 2019 unter dem OECD-Durchschnitt, und damit unter dem Niveau der meisten entwickelten Industrienationen. Auch die Zahl der Krankenhausbetten je 100.000 Einwohner ist wesentlich niedriger.

Trotzdem weigern sich die Regierungen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Die rechte polnische PIS-Regierung hatte kurz vor den Weihnachtsfeiertagen lediglich minimale Verschärfungen beschlossen. So ist in Restaurants, Hotels, Kinos, Theater, Sportstätten und religiösen Einrichtungen nur noch eine Auslastung von 30 Prozent erlaubt. Geimpfte sind davon jedoch ausgenommen. Seit dieser Woche sind alle Schüler zurück im Präsenzuntericht. Auch Kindergärten und Betriebe sind uneingeschränkt geöffnet.

Auch die neu gewählte tschechische Regierung um Petr Fiala beendete kurz vor Silvester den Notstand. Wie in vielen Ländern beschränken sich die Maßnahmen auf Freizeitaktivitäten und auf Ungeimpfte. Schulen und Betriebe sind uneingeschränkt offen.

Die Quarantänezeit wurde auf fünf Tage verkürzt, damit trotz der zu erwartenden Masseninfektionen weiter Profit erwirtschaftet werden kann. In den Schulen wurde eine sogenannte „Test-to-stay“-Politik eingeführt. Ein positiver Schnelltest führt nun nicht mehr dazu, dass Kinder direkt in Quarantäne geschickt werden, sondern erst wenn der PCR-Test positiv ist.

Bisher sind in den osteuropäischen Ländern nur einige Dutzend Fälle der neuen Variante offiziell festgestellt worden. Doch da der erste offizielle polnische Omikron-Fall bereits am 16. Dezember in Kattowitze gemeldete wurde, ist klar, dass das Virus bereits weitaus stärker in der Region verbreitet ist.

Wissenschaftler warnen seit längerem vor der immensen Gefahr durch die Ausbreitung von Omikron. Das achtköpfige Corona-Gremium der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Polska Akademia Nauk, PAN) erklärte am 21. Dezember in einem Statement, Omikron sei „eine Bedrohung für uns alle“.

Die Wissenschaftler verweisen darauf, dass Omikron den Impfschutz unterläuft und nur eine Booster-Impfung das Risiko einer symptomatischen Erkrankung um etwa 75 Prozent senken kann. Zugleich sei die Variante sehr viel ansteckender und das bedeute – selbst unter der Annahme, dass Omikron „milder“ sei – eine maximale Belastung für das Gesundheitssystem. Angesichts massenhafter Infektionen könnten nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch andere Teil der kritischen Infrastruktur lahm gelegt werden.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass Omikron weniger pathogen ist als Delta, wird die sehr hohe Zahl der Fälle zu einer maximalen Belastung des Gesundheitssystems führen – sowohl für Krankenhäuser als auch für Einrichtungen der Primärversorgung. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Polen die Zahl der Ärzte und der Krankenschwestern und -pfleger pro Einwohner dramatisch niedrig ist, die mit Abstand niedrigste in den Ländern der Europäischen Union. Zahlreiche Quarantänen können nicht nur das Gesundheitssystem lähmen, sondern auch andere für das Funktionieren der Gesellschaft wichtige Infrastrukturen: Polizei, Feuerwehr, Grenzschutz, Armee, Bildungswesen, Gerichte, öffentlicher Verkehr, Energie usw.

Die Wissenschaftler drängen auf eine strenge Überwachung von Abstands- und Maskenregeln in der Öffentlichkeit. Auch die Rückkehr zur Reduzierung der sozialen Kontakte sei notwendig. Das Statement endet mit dem dringenden Appell: „Nehmen wir die drohende Bedrohung wirklich ernst, wie sie es verdient.“

Selbst Andrzej Horban, medizinischer Chefberater des Premierministers, der in der Vergangenheit eher durch die Relativierung der mit Corona verbundenen Gefahren bekannt war, fand deutliche Worte. Er sprach in einem Interview mit der Zeitung Rzeczpospolita von einem „Tsunami infizierter Menschen“. Diskussionen über Impflicht und Impfpasskontrollen halte er angesichts der Fakten für einen „Witz“.

Etwa zwölf Millionen Polen seien nicht geimpft, und „alle diese Menschen“ würden sich „mit der neuen Variante infizieren“. Von ihnen gingen „statistisch fünf bis zehn Prozent ins Krankenhaus“. Man müsse „also ungefähr eine Million Menschen unterbringen“. Und selbst wenn sich die Welle „über einige Monate“ erstrecke, bedeute dies, „dass wir möglicherweise 50-60.000 Covid-Betten benötigen. Ganz zu schweigen davon, woher wir Ärzte und anderes medizinisches Personal bekommen.“

Angesichts der geringen Impfungen und steigender Infektionen werde „es keine andere Möglichkeit geben, als einen harten Lockdown einzuführen“. Man müsse „zur Besinnung kommen“. „Der Tsunami kommt und es ist unsere Pflicht, alle davor zu warnen.“

Die Regierungen in Osteuropa wissen also genau, dass ihre „Profite vor Leben“-Politik eine noch größere Katastrophe mit weiteren Millionen Infizierten und Toten heraufbeschwört. Um das Massensterben zu stoppen und die Omikron-Welle einzudämmen, müssen alle nicht lebensnotwendigen Betriebe, Schulen und Kindergärten umgehend geschlossen werden. Das erfordert das unabhängige Eingreifen der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.

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