Fünf Monate nach der Flutkatastrophe: „Es sieht hier nach wie vor aus wie im Kriegsgebiet“

Bei der schweren Flutkatastrophe Mitte Juli diesen Jahres kamen im Ahrtal in Rheinland-Pfalz 134 Menschen ums Leben, in Nordrhein-Westfalen 49 und im benachbarten Belgien mindestens 41 Menschen. Die Zerstörungen an Häusern, Wohnungen, Unternehmen, Schulen, Krankenhäusern, Straßen, Brücken, Bahnlinien und zentraler Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung waren und sind verheerend.

Die schweren Folgen der Flutkatastrophe waren nicht einfach das Ergebnis einer Naturkatastrophe „unvorstellbaren Ausmaßes“, sondern wie die World Socialist Web Site schon wenige Tage danach erklärte, das Ergebnis der Verantwortungslosigkeit von Politikern und Behörden in Bund, Ländern und Kommunen.

Vor allem dass die Flut so viele Menschen getötet und so verheerende Schäden angerichtet hat, ist eine direkte Folge der kriminellen Untätigkeit der Regierungen auf Bundes- und Landesebene.

Während die Menschen von den tödlichen Wassermassen überrascht wurden, waren Regierungen und Behörden längst gewarnt. Doch sie blieben untätig und weigerten sich, Evakuierungen und Schutzmaßnahmen einzuleiten. Sie informierten die Bevölkerung nicht einmal über die heraufziehende Gefahr.

Diese Untätigkeit setzte sich im Verhalten der Politiker unmittelbar nach der Katastrophe fort. Zwar besuchten die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) während des laufenden Bundestagswahlkampfs die Flutgebiete und versprachen Soforthilfen und „unbürokratische Hilfe“ für den Wiederaufbau. Ein 30 Milliarden Euro-Wiederaufbau-Fonds, finanziert jeweils zur Hälfte vom Bund und den Landesregierungen von NRW und Rheinland-Pfalz wurde eingerichtet.

Während die geringe unmittelbare Soforthilfe – bis zu 3500 Euro pro Haushalt – tatsächlich relativ schnell und unkompliziert zur Verfügung gestellt wurde, sieht es bei den nominell höheren Hilfen aus dem Aufbaufonds anders aus.

Auch bei den unmittelbaren Hilfen für die Bevölkerung nach der Flut waren – und sind es noch immer –, vor allem freiwillige Helfer, die aus dem ganzen Land in die betroffenen Regionen kamen, um tatkräftig beim Aufräumen, ersten Reparaturen und der Versorgung der Bevölkerung zu helfen. Von organisierter staatlicher Hilfe fehlt nach wie vor weitgehend jede Spur.

Vor den Feiertagen häufen sich die Berichte, dass die notwendigen umfassenderen Hilfen für den Wiederaufbau stocken. Monate nach der Katastrophe bleibt die Situation für viele Menschen katastrophal.

„Es sieht hier nach wie vor aus wie im Kriegsgebiet“, berichtet ein Bewohner aus Ahrweiler, dessen Haus bei der Flut auch beschädigt wurde, der World Socialist Web Site. „Die Anträge für Wiederaufbauhilfe könne man bis 2023 einreichen. Aber es ist sehr kompliziert. Man muss um die 100 Fragen beantworten. Es geht nur online und man muss mindestens einen Steuerberater zur Hilfe haben. Die Steuerberater haben aber auch keine Zeit und das Geld würde jetzt benötigt, nicht erst in ein paar Jahren.“

Weiter merkte er an: „Was sollen ältere Leute machen, deren Wohnungen auch durch das Hochwasser beschädigt sind. Die meisten über 80-Jährigen kennen sich mit Onlineverfahren nicht aus oder haben keinen Laptop.“

Ähnliche Stimmen finden sich in den bürgerlichen Medien. Die ARD Tagesthemen berichteten in einer mittendrin-Reportage am 25. November aus Altenburg und Bad Neuenahr-Ahrweiler. Der Reporter Axel John sprach in einem Versorgungszelt, in der sich Anwohner treffen und Unterstützung in Alltagsdingen erhalten können, mit mehreren Betroffenen.

Ein Mann erklärte: „Wir haben alles verloren, aber Hauptsache überlebt.“ Eine ältere Frau antwortete auf die Frage, wie es weitergeht und ob sie glaube, dass man dem Ahrtal weiter helfen wird: „Ich weiß es nicht.“

Die staatlichen Hilfen für den Wiederaufbau im Ahrtal ließen auf sich warten, beklagen viele. Manfred Krämer aus Laach sagte: „Der Bundespräsident hat [bei seinen Besuchen im Flutgebiet] so blumig gesagt, ,wir vergessen Sie nicht’, aber das ist genau das, was jetzt passiert. Die vergessen uns einfach. Man fühlt sich komplett allein gelassen und die einzigen Leute, die helfen, sind Leute, die das freiwillig tun.“

Von seiner früheren Gaststätte ist nur ein Loch geblieben. Manfred Krämer will wieder aufbauen und dafür staatliche Hilfen beantragen. Das gehe aber nur mit Gutachten, erzählt er. Doch Bausachverständige sind derzeit kaum zu bekommen. Was bleibt, ist Hilflosigkeit. „Diesen Antrag hatte ich angefangen auszufüllen. Da komme ich wirklich nicht weiter, denn ohne dieses Gutachten kann ich gar nichts machen.“

Auch ein Paar, das der Reporter in Bad Neuenahr-Ahrweiler zu ihrem beschädigtem Haus begleitet, erzählt von Problemen bei der Antragstellung für die Wiederaufbauhilfen. Sie haben bisher auch vor allem Hilfe von freiwilligen Helfern erhalten. Selbst einige Handwerker haben kostenlos gearbeitet. Aber jetzt kommen doch erste Rechnungen. Das Antragsverfahren für die Fluthilfen dauert aber noch.

Sandra Steffes dazu: „Unbürokratisch und schnell ist es nicht. Wir wollen das hier trocken haben. Wir müssen voran machen. Wenn wir warten bis staatliche Gelder kommen, kann es ja auch sein, dass es erst im März kommt. Das weiß man ja nicht.“ Ein weiterer freiwilliger Helfer hat private Spenden organisiert, um einigen Menschen in solchen Situationen erst mal weiterzuhelfen und „Hoffnung zu geben“.

Die stellvertretende Ortsbürgermeisterin von Altenburg, Kerstin Müller (CDU), warnt: „Die Gefahr besteht, dass die Stimmung kippt.“ Die Aufgabe der Politik sei es, dafür zu sorgen, dass das nicht passiere.

Auch die Frankfurter Rundschau veröffentlichte am 12. Dezember eine Reportage über die Not der Menschen im Ahrtal. Ira Schaible, eine Reporterin der dpa, berichtet von dem 21-jährigen Tim Himmes und dem 69-jährigen Bernd Gasper. In Himmes Elternhaus hatte die Flut ein großes Loch gerissen. Das Haus von Gasper wurde von den Wassermassen völlig verwüstet. „Ich weiß nicht, wie es weitergeht, und was ich machen soll“, sagt er verzweifelt. Beide haben schon Anträge auf Wiederaufbauhilfe gestellt, aber noch kein Geld aus dem Wiederaufbaufonds von Bund und Ländern erhalten.

Wegen der Ölverseuchung des Wassers wissen viele Bewohner des Ahrtals noch immer nicht, ob sie ihre beschädigten Häuser abreißen müssen oder nicht. Auch über die Anzahl der neu ausgewiesenen Bauflächen gab es Verwirrung. Zunächst hieß es, dass in der Verbandsgemeinde Altenahr, die besonders schwer von der Flut betroffen war, 85 neue Bauplätze ausgewiesen worden seien. Dann wurde von der zuständigen Behörde ein „Kommunikationsfehler“ eingeräumt: Nur fünfzehn Flächen seien in dieser Gemeinde für den Neubau von Häusern und Wohnungen geeignet. Für viele waren ihre Häuser oder Elternhäuser, in die sie Geld investiert haben, auch als Altersvorsorge gedacht. Sie stehen jetzt vor dem Nichts.

Andere frieren in ihren erst teilweise wieder instand gesetzten Wohnungen und Häusern. Das ARD Magazin Report Mainz berichtete in einer Reportage am 14. Dezember, dass im Ahrtal bei den Überschwemmungen um die 8000 Heizungen abgesoffen sind. Obwohl die ebenfalls zerstörten Gasleitungen inzwischen wieder repariert wurden, können viele Haushalte dennoch nicht heizen, weil die Heizungsanlagen von der Flut zerstört wurden.

Die verantwortlichen Politiker reagieren mit selbstzufriedener Arroganz auf die wachsende Kritik. Seiner Ansicht nach habe die landeseigene Energieagentur „gute Arbeit“ geleistet, erklärt der Energiestaatssekretär Erwin Manz (Grüne) gegenüber Report Mainz und versucht das Vorgehen der Landesregierung in Rheinland-Pfalz – wie im Bund eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP – zu rechtfertigen. „Die Energieagentur meldet, dass die Dinge, die dort anhängig waren, dann auch soweit abgearbeitet sind.”

Als die Reporterin von Report Mainz darauf beharrt: „Es sind viele Menschen, die wirklich noch frieren. Haben Sie den Eindruck, dass die Landesregierung genug getan hat?“, erwidert Manz provokativ: „Ich kann jetzt nicht identifizieren, dass es ein ganz eklatantes Versagen irgendwo gab.“

Auch auf die Frage nach den Geld aus dem Wiederaufbaufonds, das dringend gebraucht wird, kann Manz keine wirkliche Antwort geben. Er kenne keine genauen Zahlen, die müssten beim Finanzministerium Rheinland-Pfalz erfragt werden. Als die Reporterin dort telefonisch nachfragt, erhält sie die Antwort, dass bisher noch kein Geld für Wiederaufbauhilfe an private Haushalte geflossen sei, obwohl die Menschen diese Hilfe jetzt dringend brauchen.

Nicht viel anders sieht es in den von der Flut betroffenen Gebieten in Nordrhein-Westfalen aus. Auch hier gibt es zahlreiche Menschen, die frieren, weil sie nach wie vor keine Heizung haben. Auch hier haben die betroffenen Menschen mit der umfangreichen Antragstellung und den Bedingungen, die dafür eingehalten werden müssen, Probleme.

Aber selbst die, die es geschafft haben, ihren Antrag einzureichen, warten auf die Bewilligung der benötigten Gelder. Die WAZ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung) berichtete am 6. Dezember, dass Tausende Anträge auf Wiederaufbauhilfe von Privathaushalten feststecken. Laut einem internen Protokoll einer Besprechung der Bezirksregierungen Köln, Münster und Detmold vom 22. November steckten zu diesem Zeitpunkt 5600 der 9000 Anträge auf Fluthilfe in der „Vorprüfung“ fest. Nur 1900 Fälle wurden zur Weiterbearbeitung freigegeben. Weitere 1500 Anträge wurden wegen Formfehlern an die Betroffenen zurückgeschickt.

Auch hier kann also von einer unbürokratischen Bearbeitung der Anträge und Unterstützung der von der Flut betroffenen Menschen nicht die Rede sein. Das Antragsverfahren ist so organisiert, dass der Zugang für die Wiederaufbauhilfe für die betroffene Bevölkerung so schwierig wie möglich ist. Schon die komplizierte Antragsstellung soll offenbar möglichst viele Betroffene abschrecken, die ihnen zugesagte Unterstützung zu beantragen.

In der Flutkatastrophe, die für Tausende Familien auch im neuen Jahr weitergeht, kommen die wirklichen Prioritäten der kapitalistischen Politik auf allen Ebenen zum Ausdruck. Es sind nicht die Interessen der Arbeiterklasse, der großen Mehrheit der Bevölkerung, nach sicheren Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern die der Banken und großen Konzerne. Wie in der Pandemie gilt auch hier: Profit vor Leben.

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