Am 20. Oktober publizierte die Untersuchungskommission des brasilianischen Senats (CPI) ihren Bericht zur Corona-Politik des Präsidenten. Der Bericht entlarvt Jair Bolsonaros Reaktion auf die Covid-19-Pandemie als kriminell und macht sie für den Tod von Hunderttausenden von Brasilianern verantwortlich.
Mit einer offiziellen Zahl von über 600.000 Todesopfern steht Brasilien nach den Vereinigten Staaten bei den Covid-19-Todesfällen weltweit an zweiter Stelle. Mit über 20 Millionen Infizierten liegt Brasilien an dritter Stelle hinter den USA und Indien. Der CPI-Bericht weist nach, dass eine solche Tragödie keineswegs unvermeidlich und im Gegenteil die absehbare Folge einer mörderischen Strategie war.
Die Untersuchung dauerte sechs Monate, und der Senatsausschuss hörte im Laufe von 66 Anhörungen insgesamt 61 Zeugen. Auf über 1.100 Seiten schildert der Bericht minutiös, wie bewusst die Regierung Bolsonaro das Virus sich in der Bevölkerung ausbreiten ließ, angeblich um durch Masseninfektion eine völlig unrealistische „Herdenimmunität“ zu erreichen.
Um diese Strategie durchzusetzen, wurde eine Vielzahl von Maßnahmen durchgesetzt: Schamlos verharmloste die Regierung die Gefahren, die von dem Virus ausgingen, das Bolsonaro von Anfang an als „kleine Grippe“ bezeichnete. Sie wandte sich selbst gegen die minimalsten Gesundheitsmaßnahmen, sowohl der sozialen Distanzierung, als auch des Tragens von Mund- und Nasenschutz. Sie redete öffentlich einer üblen Kurpfuscherei das Wort, die in den staatlichen Krankenhäusern direkt zu Hunderten von Todesfällen führte. Sie diskreditierte das Impfen und unterließ es, rechtzeitig ausreichend Impfstoffe zu beschaffen. Sie diskreditieren und sabotierte auch die Versuche regionaler und kommunaler Behörden, Impfstoffe zu beschaffen. Der Kommunalregierung von Manaus, Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, verweigerte sie jede Hilfeleistung. Schließlich hintertrieb die Bolsonaro-Regierung vorsätzlich die vom Kongress gebilligten Ausgaben zur Pandemiebekämpfung. Nicht genug mit dieser ganzen barbarischen Kampagne, fanden Regierungsbeamte außerdem Zeit, überteuerte Impfstoffe zu kaufen und die Schmiergelder dafür in die eigene Tasche zu leiten.
Der Bericht klagt neben Bolsonaro weitere 65 Personen und zwei Unternehmen wegen insgesamt 24 Straftaten an. Neun davon werden Bolsonaro persönlich angelastet. Es sind 1. Vergehen im Amt, 2. Fälle von Machtmissbrauch, die zur Amtsenthebung führen müssen, und 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Zu der ersten Kategorie gehören:
- das Begünstigen einer Epidemie, die zu Todesfällen führt, durch Erleichterung der Verbreitung des Virus
- Verstöße gegen die Gebote des Gesundheitswesens durch Ignorieren und Hintertreiben von Maßnahmen staatlicher Behörden, beispielsweise des Gesundheitsministeriums und der regionalen und kommunalen Regierungen
- Kurpfuscherei durch Anpreisen falscher Heilmittel wie Hydroxychloroquin
- Anstiften zu Straftaten durch das ständige Anstacheln der Anhänger des Präsidenten, ihm bei den oben genannten Straftaten zu folgen
- Fälschung von Dokumenten: Als Mitglied des Rechnungshofes (TCU) fälschte Bolsonaro einen Bericht unter seinem Namen, in dem behauptet wurde, die lokalen Behörden würden „zu viele Todesfälle“ melden
- Misswirtschaft und Unterlassung, weil vom Kongress angeordnete Ausgaben blockiert oder verzögert wurden.
Als Vergehen im Amt werden die Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts auf Gesundheit und wirtschaftliches Wohlergehen angeführt.
Schließlich werden Bolsonaro Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworden:
- Vernichtung von Brasilianern durch Massenmord
- Verfolgung einer Gruppe oder eines Kollektivs, wie z. B. der indigenen Brasilianer, deren besonderes Schutzbedürfnis missachtet wurde
- Unmenschliches Verhalten, das großes Leid verursacht oder die körperliche oder geistige Gesundheit schwer beeinträchtigt
Eine Reihe von Kabinettsmitgliedern, darunter der frühere und der aktuelle Gesundheitsminister, werden ebenfalls für die gleichen Verbrechen verantwortlich gemacht. Der Bericht beschuldigt auch Bolsonaros Söhne Eduardo, Flávio und Carlos (ein Abgeordneter, ein Senator und ein Stadtrat), ein sogenanntes „Parallelkabinett“ koordiniert zu haben. Dieses habe das Gesundheitsministerium im Geheimen angewiesen, wirkungslose oder schädliche Medikamente zu verbreiten und gegen das Impfen Kampagne zu machen. Darüber hinaus werden mehrere Ärzte und Geschäftsleute beschuldigt, barbarische Experimente mit Patienten durchgeführt zu haben, die ohne deren Wissen mit Quacksalberei behandelt wurden.
Der CPI-Bericht ist eine Anklage nicht nur gegen den faschistischen Präsidenten Brasiliens, sondern gegen Staatsoberhäupter und die herrschende Klasse in der ganzen Welt.
Boris Johnson im Vereinigten Königreich, Narendra Modi in Indien, Donald Trump in den Vereinigten Staaten und zahllose andere nationale und regionale Regierungen stehen genauso wegen Massenmordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit am Pranger, und sie müssen verurteilt werden.
Dieselben Anklagen treffen zweifellos auch auf Trumps Nachfolger im Weißen Haus, Joe Biden, zu, unter dessen Amtszeit die Covid-19-Todesfälle diejenigen unter Trump noch übertreffen. Dabei sind Hunderte Millionen Impfungen verabreicht worden, und die US-Regierung hortet noch weitere hunderte Millionen. Auch Bolsonaros politische Gegner in den regionalen und kommunalen Regierungen Brasiliens, die Bürgermeister und Gouverneure von der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT), verfolgen eine ähnlich mörderische Politik.
Es ist praktisch unmöglich, auch nur eine große bürgerliche Regierung zu nennen, die seit dem Ausbruch der Pandemie nicht ganz oder teilweise dieselben Verbrechen begangen hat. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Notwendigkeit und die Mittel zur Eindämmung und Ausrottung des Virus durchaus verfügbar waren.
Der lokale und begrenzte Erfolg der Maßnahmen, mit denen die Regierungen Australiens und Neuseelands ihre Länder lange Zeit vor der Ausbreitung des Virus schützen konnten, belegt dies. Inzwischen haben sich diese Regierungen dem Druck anderer imperialistischer Länder gebeugt und diese Maßnahmen fallengelassen. Im Zeichen einer breiteren Offensive des US-Imperialismus gegen China haben sie die Strategie der Eliminierung aufgegeben. Den chinesischen Behörden konnten, gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse, importierte Ausbrüche weitgehend in Schach halten. Das hat China einem enormen internen und externen wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, dem es nicht gewachsen ist.
Die Kriminalität der kapitalistischen Herrscher auf der ganzen Welt zeigt sich noch deutlicher in ihrer Reaktion auf das Auftreten der ansteckenderen und tödlicheren Delta-Variante, die die vorherrschende Strategie, die Ausbreitung des Virus allein durch Impfungen einzudämmen, unterläuft; dabei ist die Mehrheit der Weltbevölkerung noch vollständig ungeimpft.
Die unkontrollierte Ausbreitung des Virus über den gesamten Globus stellt nicht nur eine Bedrohung für die Menschheit dar, sondern schafft auch die Voraussetzungen für das Auftreten noch virulenterer Virusstämme, die die durch Impfungen und Therapien erzielten Fortschritte gefährden.
Dies hat sich in drei der Länder, die die 'Herdenimmunität' konsequenter verfolgt haben, in aller Deutlichkeit gezeigt. Die massenhafte Ausbreitung des Virus im Vereinigten Königreich, in Brasilien und in Indien führte zur Entstehung der Varianten Alpha, Gamma und Delta, die sich gegenseitig ablösten und zum vorherrschenden Stamm auf der ganzen Welt wurden. Bevor die brasilianische Variante den Namen 'Gamma' erhielt, wurde sie nach der Stadt Manaus benannt, dem Epizentrum von Bolsonaros Strategie der Herdenimmunität. Eine kürzlich durchgeführte Studie konnte ihr Auftreten dort genau mit einem massiven Anstieg der Mobilität und den durch die Wiederöffnung von Schulen verursachten Infektionen in Verbindung bringen.
Wie die Autoren der Studie feststellten, war die Gamma-Variante, die zwei Drittel der Covid-19-Todesfälle in Brasilien verursachte, ein direktes Ergebnis der staatlichen Gesundheitspolitik, die Bolsonaro verfolgt und die von der gesamten brasilianischen herrschenden Klasse unterstützt wird.
Die Veröffentlichung des Berichtsentwurfs des CPI bedeutet nicht, dass Bolsonaro für seine abscheulichen Taten, die treffend als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet wurden, zur Rechenschaft gezogen wird. Die Schwere der Anschuldigungen steht im Gegensatz zu den tatsächlichen Schritten, die von den politischen Kräften unternommen werden, die sie erheben.
Es wird erwartet, dass der Bericht in der nächsten Woche von der CPI vollständig gebilligt wird, der Beginn eines verschlungenen Weges zu einer eventuellen Rechenschaftspflicht. Der Bericht hat keine Rechtskraft und muss an andere Behörden weitergeleitet werden, nämlich an den Generalstaatsanwalt wegen 'gewöhnlicher Verbrechen', wie z. B. der Provokation einer Epidemie, an den Präsidenten der Abgeordnetenkammer wegen Vergehen im Amt und an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Sowohl der Generalstaatsanwalt als auch der Präsident des Repräsentantenhauses stehen fest auf der Seite Bolsonaros, und es wird nicht erwartet, dass sie Anklage gegen ihn erheben, auch wenn sie gegen einige rangniedrigere Beamte Anklage erheben könnten, um die Empörung der Bevölkerung zu dämpfen.
Einige Kabinettsmitglieder, wie Verteidigungsminister General Walter Braga Netto, wurden angeklagt, ohne überhaupt angehört zu werden, da die Senatoren einen Staatsstreich der Armee befürchteten, wenn er als Zeuge vorgeladen würde. Sicher ist, dass der Bericht nicht verhindern wird, dass hochrangige Mitglieder der Militärführung, die an Bolsonaros mörderischer Politik beteiligt sind, unbehelligt bleiben.
Die Anklageerhebung gegen Bolsonaro in Den Haag, der schwerwiegendste der von der CPI angekündigten Schritte, ist ein offenkundiger Betrug. Der Initiator des Berichts, Senator Renan Calheiros, erklärte, dass der Gang nach Den Haag aufgrund der 'Untätigkeit' der brasilianischen Justiz notwendig sei. Die Verantwortlichen für diese Untätigkeit, Parlamentspräsident Arthur Lira und Generalstaatsanwalt Augusto Aras, wurden jedoch mit Unterstützung aller an der Erstellung des Berichts beteiligten Parteien ernannt, darunter auch Calheiros' Brasilianische Demokratische Bewegung (MDB). Da Den Haag nicht dem Diktat einer Diktatur Bolsonaros folgt, sondern gemeinsamen Klassen- und politischen Interessen, ist es sicher, dass es den Fall nicht anhören wird.
Die Wahrheit ist, dass kein einziges Mitglied der brasilianischen Kongresspartei behaupten kann, an den Bolsonaro zur Last gelegten Verbrechen schuldlos zu ein.
Bis heute wurde keiner der für die Millionen von Covid-Toten auf der ganzen Welt Verantwortlichen für eine Politik zur Rechenschaft gezogen, von der sie wussten, dass sie zum Massensterben führen würde. In den wenigen Ländern, in denen 'Untersuchungen' durchgeführt wurden, wie z. B. im Vereinigten Königreich, stellen die präsentierten Ergebnisse, die die Politik der 'Herdenimmunität' als gutgläubigen Irrtum darstellen, der wissenschaftlichen Empfehlungen gefolgt sei, einen Betrug dar.
Noch schwerer fällt ins Gewicht, dass selbst die politischen Kräfte, die 'Abmilderungs'-Strategien gegen Covid-19 verfolgten und sich von den psychopathischsten Aspekten von Bolsonaros Politik distanzierten, ihre Politik dem Imperativ des kapitalistischen Profitsystems, den Geldfluss in die Aktienmärkte zu sichern, unterordneten und die Herdenimmunität als Notwendigkeit akzeptierten, auch um den Preis von bisher über vier Millionen offiziellen Todesfällen weltweit, eine Zahl, die sicherlich deutlich zu gering angesetzt ist.
Damit haben sie die bösartigsten rechtsextremen Kräfte gestärkt, verkörpert durch die faschistischen Figuren Trump und Bolsonaro. Die beiden sind sich weiterhin einig, wenn es darum geht, die Vorbereitungen für eine Diktatur voranzutreiben. Die Unvereinbarkeit demokratischer Herrschaftsformen mit dem obszönen Wachstum der sozialen Ungleichheit inmitten einer solchen Katastrophe für Milliarden von Arbeitnehmern treibt diesen Prozess an. Die Feigheit der brasilianischen CPI gegenüber Militärs wie General Braga Netto steht stellvertretend für die Haltung der vorgeblichen bürgerlichen Gegner der extremen Rechten auf der ganzen Welt.
Nur die internationale Arbeiterklasse kann die Verantwortlichen für das Covid-19-Massaker zur Rechenschaft ziehen. Sie muss diese lebenswichtige Aufgabe im Rahmen des Kampfes zur Beendigung der Pandemie erfüllen und alle Versuche abwehren, die arbeitende Bevölkerung durch Angriffe auf Arbeitsplätze, Löhne und soziale Bedingungen für die katastrophalen Folgen der Pandemie bezahlen zu lassen. Nur die Arbeiterklasse hat ein objektives Interesse daran und ist in der Lage, eine wissenschaftlich fundierte Politik durchzuführen, die das Coronavirus eliminieren kann.
Um diesen Kampf voranzutreiben, veranstalten die WSWS und die International Workers Alliance of Rank-and-File Committees (IWA-RFC) am 24. Oktober gemeinsam das Online-Webinar „How to end the pandemic“. Wir fordern alle unsere Unterstützer und Leser auf, an dem Webinar teilzunehmen und sich diesem Kampf anzuschließen.