Bei der Deutschen Bahn (DB) haben Lokführer, Zugbegleiter und Beschäftigte der Werkstätten einen bundesweiten Streik aufgenommen, um sich gegen Lohnverzicht und wachsenden Arbeitsstress zur Wehr zu setzen. Eine Urabstimmung unter ihren Mitgliedern ergab 95 Prozent Zustimmung zu Streiks, wie die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) am Dienstag bekanntgab. Die Wahlbeteiligung lag bei 70 Prozent. Ein erster 48-Stunden-Streik beginnt Mittwoch früh um zwei Uhr und endet Freitag früh um dieselbe Zeit. Im Güterverkehr hat der Streik schon am Dienstagabend um 19 Uhr begonnen.
Der Streik ist von großer Bedeutung für Arbeiter in Deutschland und auf der ganzen Welt. Denn die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner wehren sich dagegen, dass das Management der Deutschen Bahn die Kosten der Corona-Pandemie auf sie abwälzt. Die Bahn ist entschlossen, für das Personal im Jahr 2021 eine blanke Nullrunde durchzusetzen, während sich die Boni für das Management auf bis zu 500 Millionen Euro belaufen. Dies hat die Bahn in entsprechenden Krisenabkommen mit der weit größeren Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bereits festgeschrieben.
Das Angebot der Bahn an die GDL-Mitglieder sieht erst ab Januar 2022 eine Lohnerhöhung von 1,5 Prozent vor. Weitere 1,7 Prozent sollen ab März 2023 folgen, und die Laufzeit soll 40 Monate betragen. Bei einer aktuellen Inflationsrate von 3,8 Prozent bedeutet das eine massive Reallohnsenkung. Die Inflationsrate steigt zudem weiter an. Bundesbankpräsident Jens Weidmann rechnet damit, dass sie zum Jahresende bis zu fünf Prozent betragen könnte.
Auch sollen die Betriebsrenten um bis zu zwei Drittel gekürzt und die Dienstpläne flexibler gestaltet werden, um das Personal im unregelmäßigen Schichtdienst noch kurzfristiger als bisher einzusetzen.
Als „systemrelevante“ Beschäftigte tragen Lokführer, Zugbegleiter und Werkstatt- und Schienenarbeiter schon seit 18 Monaten die ganze Last der Pandemie. Sie können sich weder isolieren noch zuverlässig schützen. Das hat auch eine Studie im Auftrag der Deutschen Bahn ergeben, die von der Berliner Charité wissenschaftlich begleitet wurde.
Deutsche Bahn und Medien berichteten über die Studie unter irreführenden Schlagzeilen wie: „Keine Anzeichen für erhöhte Corona-Gefahr bei Zugpersonal“. In Wirklichkeit zeigt die Studie nur, dass die Zugbegleiter im Vergleich zu Lokführern oder Handwerkern der Bahn keiner höheren Infektionsgefahr ausgesetzt sind. Insgesamt ist die Ansteckungsrate aber enorm hoch. Laut Studie (S.10) wurde unter insgesamt 944 getesteten Bahn-Beschäftigten bei 80 oder 8,5 Prozent innerhalb von acht Monaten eine akute oder überstandene Corona-Infektion nachgewiesen!
Obwohl die Bahnbeschäftigten die Hauptleidtragenden der Corona-Pandemie sind, nutzt der Vorstand die Pandemie zynisch, um die Streikenden als unsolidarisch zu denunzieren. Die Streiks seien „völlig unnötig und überzogen“, kommentierte Martin Seiler, DB-Vorstand für Personal und Recht. „Wir stecken als Deutsche Bahn in der größten wirtschaftlichen Krise des Unternehmens und haben zusätzliche Schäden in den letzten Wochen zu verzeichnen.“
„Die Spielräume dieser Tarifrunde sind durch die Pandemie vorgegeben“, erklärte auch der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Deutschen Bahn (AGV Move), Florian Weh, der die Tarifverhandlungen führt.
Besonders krass hetzte wie üblich die Bild-Zeitung mit den reißerischen Schlagzeilen: „Reise-Chaos droht!“ und „Attacke auf das ganze Land“. In einem verlogenen Appell beschuldigte sie GDL-Chef Claus Weselsky: „Dieser Streik ist unsolidarisch, Herr GDL-Chef!“ „Mitten in der Pandemie und mitten in der Ferienzeit“ könnten die Lokführer auf kein Verständnis hoffen, die Gesundheit der Reisenden sei „wichtiger als schnelle Lohnerhöhungen“. Bild fuhr fort: „Der Streik kommt zum falschen Zeitpunkt und wird zum Gesundheitsrisiko“, er bedeute „Gefahr durch Ansteckungen kurz vor einer möglichen vierten Welle“.
Diese Appelle sind an Schamlosigkeit nicht zu überbieten. Gerade die Bild-Zeitung hat seit Beginn der Pandemie am lautesten für die offizielle Durchseuchungs- und Profite-statt-Leben-Politik getrommelt. Gegen ernsthafte Virologen wie Dr. Christian Drosten hat sie ein wahres Kesseltreiben veranstaltet.
In Wirklichkeit stößt der GDL-Streik unter allen Eisenbahnbeschäftigten und in der ganzen Arbeiterklasse auf große Sympathie. Wie Weselsky in der Pressekonferenz am Dienstag berichtete, hätten „auch viele Beamte und Kollegen aus den DB-Unternehmen, in denen die GDL gar keine Urabstimmung durchgeführt hat, ihre Solidarität bekundet“.
Ein Lokführer, der „am #bahnstreik teilnimmt“, bemerkt auf twitter, dass es im „Lockdown“ politisch nicht gewollt war, den Bahnverkehr einzustellen, also scheine das „ein systemrelevanter Beruf zu sein, den ich da ausübe (…) Jetzt dann aber für zumindest einen Inflationsausgleich zu streiken? Nein, das ist wieder Geiselhaft und asozial.“
Er spricht sicher für viele Arbeiter, wenn er hinzufügt: „Ein Großteil des Nettolohns sind steuerfreie Zuschläge. Krank? Urlaub? Dann fällt das alles weg. Werde ich morgen arbeitslos oder langzeitkrank, gehe ich dreistellig nachhause.“
Der Grund für das Trommelfeuer in den bürgerlichen Medien gegen den Streik ist gerade die Tatsache, dass er in der Arbeiterklasse auf große Sympathie stößt. Jeder Arbeitskampf gegen das Spardiktat von Bahn, Regierung oder Unternehmen könnte Signalwirkung entfalten und eine Kettenreaktion auslösen.
Die Corona-Pandemie hat bereits über 92.000 größtenteils vermeidbare Todesfälle verursacht. Doch Regierungen und Unternehmer setzten nicht nur ihre Profite-vor-Leben-Politik fort, sie benutzen die Pandemie auch als Vorwand, um überall – an den Schulen, Kitas, Krankenhäusern, Busbetrieben und Flughäfen, der Auto- und Metallindustrie – den Angriff auf Löhne und Arbeitsplätze zu verschärfen.
Die Eisenbahnbeschäftigten sind mit einem Kampf an mehreren Fronten konfrontiert. Sie stehen nicht nur dem DB-Management und der Bundesregierung gegenüber, in deren Besitz sich die Deutsche Bahn AG zu 100 Prozent befindet, sondern auch der DGB-Gewerkschaft EVG, die als Hausgewerkschaft in der Tasche des Bahnvorstands steckt.
Um sich erfolgreich gegen das Diktat der Bahn durchzusetzen, müssen Eisenbahner erkennen, dass auch die GDL nicht ihre Interessen vertritt. Um den Streik zum Erfolg zu führen, müssen sie sich in unabhängigen Aktionskomitees organisieren, die sich an andere Verkehrsarbeiter und die gesamte deutsche und internationale Arbeiterklasse wenden, um einen gemeinsamen Kampf gegen unsichere Arbeitsplätze, Lohnraub und Stellenstreichungen zu führen.
Die GDL in ihrer heutigen Form ist aus dem Konflikt mit der EVG entstanden. Um gegen die endlose Spirale von Lohn- und Personalabbau zu kämpfen, welche die EVG mitorganisiert, haben sich seit 2008 immer mehr Lokführer und dann Zugbegleiter und andere Bahnbeschäftigte der GDL angeschlossen. In den Jahren 2008 und 2014–2015 hatte die GDL mehrere aufsehenerregende Bahnstreiks organisiert.
Allerdings ist die GDL nicht bereit, einen umfassenden Streik zu führen und den notwendigen politischen Kampf gegen die Regierung aufzunehmen, die gerade im Wahlkampf keinen größeren Bahnstreik tolerieren kann. Claus Weselsky, selbst CDU-Mitglied, appellierte noch in der Pressekonferenz am Dienstag an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), mit einem „verbesserten, verhandelbaren Angebot“ einzulenken. „Jetzt ist die Zeit reif dafür, die Scheinangebote zu verwerfen, und Nägel mit Köpfen zu machen.“
Dem Tagesspiegel gegenüber hatte Weselsky versichert: „Selbstverständlich würden wir uns einer Sanierung nicht verschließen,“ und dies mit dem Vorschlag verbunden, die Hälfte der Verwaltungsangestellten zu entlassen (!). Statt alle Bahnbeschäftigten zu vereinen, werden sie so gegeneinander ausgespielt und gespalten. Den Tarifkonflikt 2015 hatte die GDL mit der Unterzeichnung eines vierjährigen Stillhalteabkommens beendet, und Anfang 2019 vereinbarte sie einen Tarifabschluss mit einer Laufzeit von 29 Monaten, der kaum die Inflationsrate ausglich.
Auch ihre jetzige Forderung ist nicht dazu geeignet, die prekäre Lage der Bahnbeschäftigten effektiv zu verbessern. Ihre Lohnforderung liegt ebenso wie das Angebot der Bahn weit unter der Inflationsrate. Die GDL fordert eine Lohnsteigerung um 1,4 Prozent ab dem 1. April 2021, mindestens aber 50 Euro mehr, sowie eine Corona-Beilhilfe von 600 Euro im Jahr 2021. Zum 1. April 2022 soll dann eine weitere lineare Erhöhung von 1,8 Prozent folgen. Die Laufzeit soll nicht 40, sondern 28 Monate betragen.
Der Kampf der GDL gegen die EVG ist in keiner Weise fortschrittlich. Ein Großteil ihrer „Militanz“ ist der Tatsache geschuldet, dass die Bahn seit April dieses Jahres das sogenannte Tarifeinheitsgesetz (TEG) anwendet. Es wurde von der Großen Koalition unter Federführung der SPD eingeführt, um die DGB-Gewerkschaften gegen die Konkurrenz von Spartengewerkschaften wie GDL, UFO, Vereinigung Cockpit, Marburger Bund, IGL etc. in Schutz zu nehmen.
Das TEG sieht vor, dass in einem Betrieb mit mehreren Gewerkschaften nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft zur Anwendung kommt. Die GDL kämpft in 71 von 300 Bahnbetrieben um die Mitgliedsmehrheit, und wie Weselsky erklärte, hat sie in den letzten sechs Monaten über 3000 neue Mitglieder gewonnen. Aber die Bahn gesteht ihr nur in 16 Betrieben die Tarifhoheit zu. In weiteren 18 führt sie Klage, aber vier der Klagen sind bisher vor Gericht gescheitert.
Die GDL bekennt sich wie die EVG ausdrücklich zur Sozialpartnerschaft. Wird sie als Sozialpartner anerkannt, ist sie – wie die EVG – zu jedem schäbigen Deal bereit, wie die Tarifabschlüsse 2015 und 2019 gezeigt haben. Sie ist auch bereit, sich mit der EVG zu arrangieren, wie Weselsky in einem Interview mit der Organisation „arbeitsunrecht“ deutlich machte.
Er versicherte, dass die GDL ausdrücklich nur das „direkte Bahn-Personal“ vertreten wolle. Er sagte: „Wir reden nicht über Betriebe, die außerhalb von Eisenbahnsegmenten liegen, wir reden nicht beispielsweise über DB Schenker. Das ist eindeutig Gebiet der Kollegen von Verdi, mit denen wir keinen Stress und keinen Zoff haben und uns nicht gegenseitig die Mitglieder abjagen, sondern wir pflegen eine friedliche Koexistenz.“