Öffnungspolitik provoziert tödliche vierte Pandemiewelle

In Deutschland steigen die täglichen Corona-Fallzahlen rapide an. Am Freitag meldete das Robert-Koch-Institut 3.142 Neuinfektionen binnen eines Tages und damit etwa 1500 mehr als eine Woche zuvor. Auch an den Wochenendtagen, an denen in der Regel deutlich weniger Meldungen erfolgen, gab das RKI jeweils über 2000 Neuinfektionen an und damit etwa 500 mehr als in der Vorwoche.

Die Sieben-Tage-Inzidenz explodierte in den letzten drei Wochen um mehr als das Dreifache – von 4,9 am 6. Juli auf 17,5 am 1. August. Der 7-Tage-Mittelwert ist im gleichen Zeitraum von etwa 600 gemeldeten Fällen auf fasst 3000 gestiegen.

Auch die täglichen Todeszahlen und Krankenhauseinweisungen nehmen zu. Das RKI meldete am Freitag 30 Todesfälle und am Samstag 21. Laut den Daten der Johns-Hopkins Universität lag der 7-Tage-Mittelwert bei den Todesfällen am 30. Juli bei 34 und hat sich damit in den letzten zehn Tagen verdoppelt. Die Sieben-Tage-Inzidenz bei der Hospitalisierung, die abbildet, wie viele Covid-19-Krankenhauseinweisungen es pro 100.000 Einwohnern in einer Woche gibt, stieg auf 0,41. Mitte Juli lag sie noch bei 0,29.

Die rasante Entwicklung des Pandemiegeschehens wird durch die Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante verschärft. Laut RKI liegt ihr Anteil in Deutschland mittlerweile bei 91 Prozent.

Infolge der rücksichtslosen Öffnungspolitik der Bundes- und Landesregierungen ist es lediglich eine Frage von wenigen Wochen, bis die täglichen Infektionszahlen neue Rekorde erreichen. In Großbritannien, Spanien oder Frankreich infizieren sich täglich bereits jetzt Zehntausende mit dem Virus. Am Freitag wurden im Vereinigten Königreich 29.622 Neuinfektionen gemeldet, in Spanien 24.753 und in Frankreich 24.309. Die Sieben-Tage Inzidenz lag bei 299,9 in Großbritannien, 367,4 in Spanien und 217,3 in Frankreich.

Kanzleramtschef Helge Braun (AP Photo/Markus Schreiber)

Anfang der Woche warnte Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sogar vor 100.000 täglichen Neuinfektionen in Deutschland im September. Inzidenzen von über 800 seien „leider nicht unrealistisch“, erklärte er gegenüber Bild am Sonntag. Man habe „derzeit eine Steigerung der Zahlen von 60 Prozent pro Woche. Wenn sich Delta weiter so schnell verbreiten würde und wir keine enorm hohe Impfquote oder Verhaltensänderung dagegensetzen würden, hätten wir in nur neun Wochen eine Inzidenz von 850. Das entspräche 100.000 Neuinfektionen jeden Tag!“

Was ein derartiges Infektionsgeschehen bedeutet ist klar. Die völlige Überlastung des Gesundheitssystems und ein erneutes Massensterben. Das RKI kalkulierte in einem Modell Anfang Juli, wie sich die Intensivkapazitäten im Herbst und Winter entwickeln könnten. Demnach wären die Intensivstationen schon bei einer Inzidenz von 400 mit 6000 Covid-Patienten stark ausgelastet.

Bereits in der zweiten und dritten Pandemiewelle war das Gesundheitssystem am Limit und zehntausende Menschen erlagen allein in Deutschland dem Virus. Gegenüber dem ZDF warnte der frühere Präsident der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (DIVI), Uwe Janssens, vor einer Wiederholung dieses Szenarios. „Wir haben im letzten Jahr gesehen, was das für Folgen hat, wenn man zu lange warte und gar nichts macht. Das scheint sich zu wiederholen“.

Die Einschätzungen ernsthafter Virologen und die dramatische Entwicklung des Infektionsgeschehens in Europa und international widerlegen die Lügen der Politik und Medien, die Gefahr durch das Virus sei gebannt. So stellt ein internes Papier des RKI, das vergangene Woche an die Presse geleakt wurde, klar:

Je mehr Fälle auftreten, desto mehr schwere Verläufe (Krankenhauseinweisungen/ITS) und Todesfälle werden – mit etwas Zeitverzug – registriert, desto höher die Belastung des Gesundheitssystems. Bei sehr hohen Inzidenzen steigt auch die Zahl dieser Beeinträchtigungen sowie die Zahl der schweren Verläufe, die im Krankenhaus oder auf der Intensivstation behandelt werden müssen.

Das Papier hält außerdem fest, dass „mehr als 40 Mio. Menschen unserer Bevölkerung [...] aktuell KEINEN vollständigen Impfschutz“ haben und warnt: „Hohe Impfquoten alleine sind nicht ausreichend die vierte Welle flach zu halten.“ Daher seien „zusätzliche Basisschutz-Maßnahmen (AHA+A+L) notwendig“, um „die vierte Welle“ zu senken.

Trotz der Warnungen ihrer eigenen biomedizinischen Leitforschungseinrichtung halten die Bundesregierung und die jeweiligen Landesregierungen an ihrer aggressiven Öffnungspolitik fest und schließen notwendige Lockdown-Maßnahmen aus.

„Solange unsere Impfstoffe gegen die Delta-Variante so gut helfen, ist ein klassischer Lockdown nicht mehr nötig“, erklärte Braun. Zuvor hatte bereits Wirtschaftsminister Peter Altmeier gegenüber der Bild am Sonntag verkündet: „Wir müssen und werden einen neuen Lockdown verhindern.“

Das ist die Position von allen kapitalistischen Parteien, die im gesamten Verlauf der Pandemie die Profite der Wirtschaft und die Interessen des deutschen Imperialismus über das Leben der Bevölkerung gestellt haben. Im Kern folgen sie damit der Linie der rechtsextremen AfD, die seit langem die Aufhebung aller Corona-Schutzmaßnahmen und eine Rückkehr zur „Normalität“ fordert.

Auf Landesebene treiben aktuell Linkspartei und Grüne die Schulöffnungen aggressiv voran. Das Rot-Rot-Grün regierte Berlin ist nach Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg am 6. August das dritte Bundesland, das nach den Sommerferien in den vollen Präsenzunterricht zurückkehren wird. Bis Anfang September sollen dann alle weiteren Bundesländer folgen, darunter auch das von der Linkspartei geführte Thüringen und das Grün-regierte Baden-Württemberg.

Die gleichen Pläne existieren für die Universitäten. Am Donnerstag verkündete der Berliner Senat die Wiederaufnahme der Präsenzlehre im anstehenden Wintersemester 2021/2022. „Im Wintersemester werden an den staatlichen, konfessionellen und privaten Hochschulen in Berlin wieder rund 200.000 Studierende erwartet“, so eine gemeinsame Mitteilung der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung und der Landeskonferenz der Rektoren und Präsidenten der Berliner Hochschulen.

Die unsichere Rückkehr an die Schulen und Universitäten, die auch von den Gewerkschaften unterstützt wird, wird die Ausbreitung des Virus in der gesamten Bevölkerung massiv beschleunigen. Dabei stehen auch die Gesundheit und das Leben der etwa 14 Millionen Schüler und Studierenden in Deutschland auf dem Spiel. Die große Mehrheit der jungen Menschen ist ungeschützt. Erst knapp 40 Prozent aller 18-59-Jährigen in Deutschland sind vollständig geimpft. Bei den unter 18-jährigen liegt die Impfquote sogar nur bei 1,5 Prozent.

Aktuelle Erfahrungen lassen keinen Zweifel daran, dass Covid-19 auch für junge Menschen eine tödliche Bedrohung ist.

Besonders dramatisch ist die Entwicklung in Indonesien. Nach Angaben der Indonesischen Gesellschaft für Pädiatrie gibt es aktuell mehr als 360.000 bestätigte Fälle bei Kindern, was einer von acht Infektionen entspricht. In den letzten Wochen sind über 700 Kinder an COVID-19 gestorben, davon über 150 allein in der Woche vom 12. Juli. Besonders schockierend: die Hälfte von ihnen war weniger als fünf Jahre alt.

In Brasilien ist COVID-19 die häufigste Todesursache bei Kindern im Alter von 10 bis 19 Jahren. Allein im ersten Halbjahr 2021 kamen mindestens 1.581 junge Menschen durch das Virus ums Leben.

Und auch in den entwickelten Ländern, in denen sich die Delta-Variante rasant ausbreitet, steigt die Zahl der Krankenhausaufenthalte und Todesfälle bei Kindern. In Großbritannien werden inzwischen täglich mehr als 40 Kinder mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert. Und auch in Deutschland nimmt die Zahl der infizierten Kinder und Jugendlichen zu. Laut dem aktuellen Wochenbericht des RKI kommt es derzeit „zu einem Anstieg der Inzidenz vor allem in den Altersgruppen der 10-34-Jährigen“.

Das Massensterben und Leid, das man sonst nur aus Kriegszeiten kennt muss gestoppt werden. Bereits jetzt sind allein in Deutschland mehr als 91.600 Menschen an Covid-19 gestorben. In ganz Europa gab es über 1,1 Millionen Corona-Tote und weltweit erlagen offiziell mehr als 4,2 Millionen dem Virus. Aktuelle Studien legen nahe, dass die tatsächlichen Todeszahlen noch weitaus höher liegen.

Die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) haben von Anfang an betont, dass der Kampf gegen die Pandemie nicht nur eine medizinische Frage ist. Er erfordert die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms. Um das Virus einzudämmen und Leben zu retten, müssen Arbeiter und Jugendliche unabhängige Aktionskomitees für sicherere Arbeitsplätze und Bildung aufbauen. Diese müssen den Kampf gegen das Virus in die eigene Hand nehmen und Streiks und Proteste zur Durchsetzung aller wissenschaftlich notwendigen Maßnahmen organisieren.

Im Wahlaufruf der SGP heißt es:

Der Kampf um die Eindämmung der Pandemie entwickelt sich zu einem Klassenkampf, der immer deutlicher zeigt, dass die großen Klassen der Gesellschaft – die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse – unversöhnlich entgegengesetzte Interessen haben. Die offizielle Pandemiepolitik stellt Profit vor Leben. Wir fordern:

Sofortiger Lockdown aller nicht lebensnotwendigen Betriebe bis die Pandemie unter Kontrolle ist! Voller Lohnersatz für alle betroffenen Arbeiter sowie echte Hilfen für Selbstständige und umfassende Unterstützung für arme Haushalte! Ein global koordiniertes Impfprogramm statt Impfstoff-Nationalismus und -Geschäftemacherei!

Die Entwicklung einer mörderischen vierten Pandemiewelle unterstreicht die Bedeutung des Wahlkampfs der SGP und die Dringlichkeit dieses Programms.

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