Der britische Premierminister Boris Johnson hat bestätigt, dass am 19. Juli in England alle Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aufgehoben werden.
Die soziale Distanzierung, die bereits auf einen Meter Abstand reduziert wurde, soll ganz abgeschafft werden, das Tragen von Masken nur noch freiwillig sein.
Gleichzeitig wurden in den letzten sieben Tagen 218.503 Neuinfektionen verzeichnet. In der Vorwoche waren es noch 170.856. Mit 203 Toten lag die Zahl der an Covid Verstorbenen in der letzten Woche um 66 Prozent höher als in der Woche davor (122).
Mit ihren Plänen verschärft die konservative Regierung ihre Politik des sozialen Mordes, die schon mehr als 152.000 Todesopfer gefordert hat. Die London School of Hygiene and Tropical Medicine veröffentlichte am Montag neue Modellstudien, laut denen eine 80-prozentige Verringerung sämtlicher Schutzmaßnahmen, wie Maskenpflicht und soziale Distanzierung, zu 46.000 Todesopfern bis Ende des Jahres führen könnte.
Johnson kündigte die Abschaffung der Sicherheitsmaßnahmen auf einer Pressekonferenz in der Downing Street an. Angesichts der erneuten Ausbreitung des Virus im ganzen Land erklärte er: „Es ist absolut entscheidend, dass wir jetzt vorsichtig vorgehen. Ich kann es gar nicht deutlich genug sagen: Diese Pandemie ist noch nicht vorbei.“
Weiter erklärte er, die Menschen sollten vorsichtig sein und es am 19. Juli „nicht übertreiben“, er selbst „erwarte und empfehle“, dass in überfüllten geschlossenen Räumen weiterhin Masken getragen würden. Die Abschaffung der rechtlichen Einschränkungen sollte „nicht als Einladung an alle verstanden werden, eine große Jubelarie anzustimmen und die Freiheit von jeglicher Vorsicht oder Mäßigung zu feiern“.
Johnsons Gerede von Mäßigung ist einfach nur grotesk. Nur einen Tag zuvor hatte seine Regierung die weltweit größte Superspreader-Veranstaltung seit Beginn der Pandemie genehmigt. Dutzende Millionen durften sich ungehindert treffen, um das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft zwischen England und Italien zu sehen.
Mehr als 60.000 Zuschauer durften dies im Wembley-Stadion in London tun, die meisten von ihnen ohne Maske. Um das Stadion versammelten sich weitere Tausende, und Hunderte von ihnen durchbrachen die Sicherheitszäune und verschafften sich Zugang zum Stadion. Viele weitere Tausende strömten auf die zentralen Plätze der Hauptstadt und andere „Fanzonen“ und versammelten sich in Pubs im Stadtzentrum, und weitere Millionen trafen sich in Privatwohnungen.
Johnsons Öffnungsankündigung sollte mit der Europameisterschaft zusammenfallen. Letzte Woche nahm er am Halbfinalspiel zwischen England und Dänemark im Wembley-Stadion teil und feierte ohne Maske. Englands ersten Finaleinzug seit 55 Jahren wollte Johnson für eine Feier der „nationalen Einheit“ nutzen und demonstrieren, wie freudig die Abschaffung der Einschränkungen sein würde. Sogar die Ausrufung eines öffentlichen Feiertags im Falle eines englischen Siegs war im Gespräch.
Das Spiel endete jedoch mit einem Debakel für England. Es gab rassistische Angriffe in den sozialen Medien auf drei schwarze Spieler, die Elfmeter verschossen hatten und die unvermeidlichen Diskussionen darüber, warum England keine Fußballturniere gewinnen kann. Johnsons Vorhaben war damit zwar gescheitert, doch das Ergebnis sollte ihn nicht von seiner Mission ablenken. Trotz des Anstiegs der Infektionen in Folge der Wiederöffnung eines Großteils der Wirtschaft am 17. Mai, verkündete er, alle verbliebenen Eindämmungsmaßnahmen zu beenden.
Als das Endspiel zwischen Italien und England vorbei war, fasste die technische Leiterin des Arbeitsbereichs Covid-19 bei der Weltgesundheitsorganisation, Maria Van Kerkhove, die erschütternden Ereignisse kurz und brutal zusammen: „Soll ich es genießen, dass vor meinen Augen Übertragungen stattfinden? Die Corona-Pandemie macht heute Abend keine Pause... Die Delta-Variante von Sars-Cov-2 wird sich ungeimpfte Menschen suchen, die ohne Masken in Menschenmengen schreien und singen. Verheerend.“
Zum Zeitpunkt von Johnsons Rede hatte sich die Zahl der Neuinfektionen am sechsten Tag in Folge um mehr als 30.000 erhöht. Neue Dokumente der wissenschaftlichen Beratergruppe der Regierung für Notfälle (SAGE) schätzen, dass auf dem Höhepunkt der bevorstehenden Welle in England täglich zwischen 1.000 und 2.000 Menschen mit Covid-19 ins Krankenhaus eingewiesen werden und die Zahl der Todesopfer zwischen 100 und 200 pro Tag betragen könnte.
In einem Härtefallszenario könnte die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen auf 4.800 steigen und damit nicht nur den Spitzenwert von 4.000 auf dem Höhepunkt der Pandemie im Januar übertreffen, sondern auch die endlos wiederholte Lüge widerlegen, die Impfkampagne habe den Zusammenhang zwischen Infektionen, Hospitalisierungen und Todesfällen durchbrochen.
Kurz vor Johnsons Rede hatte Gesundheitsminister Sajid Javid vor dem Parlament erklärt, der 19. Juli werde „uns einen Schritt näher an unser bisheriges Leben zurückführen“.
Er erklärte stolz: „Das ist die richtige Zeit, unsere Nation näher an das normale Leben zu bringen. Denjenigen, die sagen ,warum machen wir diesen Schritt jetzt?‘ sage ich: ,Wenn nicht jetzt, wann dann?‘ Es wird nie eine perfekte Zeit für diesen Schritt geben.“
Javid erklärte offen: „Die Fallzahlen werden noch weiter steigen, bevor sie sinken... Aber wir glauben nicht, dass die Infektionsraten einen untragbaren Druck auf den NHS [National Health Service] ausüben werden.“
Die Behauptung der NHS könne mit Tausenden von Covid-19-Hospitalisierungen fertigwerden, ist eine Lüge. In den letzten Wochen haben bereits mehrere Krankenhäuser den Notstand ausgerufen. Das Manchester Royal Infirmary rief vor zwei Wochen wegen wachsendem Druck auf seine Notfallabteilung durch Personal- und Bettenmangel den Notstand aus. Letzten Mittwoch verschoben drei schottische Krankenhäuser, das Aberdeen Royal Infirmary, Dr. Gray’s Hospital in Elgin (Moray) und das Raigmore Hospital in Inverness, wegen der steigenden Zahl an Corona-Patienten nicht-dringende freiwillige Operationen und erklärten, sie seien voll ausgelastet.
Javid selbst hatte nur einen Tag zuvor gegenüber dem Sunday Telegraph erklärt, auf den Wartelisten des NHS, auf denen wegen der Hunderttausenden Corona-Behandlungen während der Pandemie bereits fünf Millionen Menschen stehen, könnten in den kommenden Monaten 13 Millionen stehen. Ein derartiges Infektionsniveau würde Menschen in geschwächtem und gefährlichem Zustand daran hindern, sich behandeln zu lassen, und viele Tausende würden außerdem an den schrecklichen Folgen von Long Covid erkranken.
Mit der mörderischen Entscheidung, alle Einschränkungen zugunsten des Profitstrebens der Konzerne aufzuheben, setzt sich die Regierung über die Warnungen von Dr. Mike Ryan hinweg, dem Leiter der Weltgesundheitsorganisation für Notfallprogramme. Zudem haben 122 Wissenschaftler letzte Woche in der wichtigsten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie die Aufhebung der Einschränkungen am 19. Juli als „gefährliches und unethisches Experiment“ bezeichneten.
Die Regierung weiß das nur zu gut. Der konservative Abgeordnete Dan Poulter, der stellvertretende Vorsitzende der Allparteiengruppe zum Coronavirus (APPG), erklärte gegenüber dem Guardian, vermutlich würden „gefährliche Mutationen“ des Virus auftauchen und eine „Rückkehr zur Normalität“ bis mindestens 2022 verzögern. Die hochgradig ansteckende und tödliche Delta-Variante hat sich in Großbritannien innerhalb weniger Wochen zur dominanten Variante entwickelt. Poulter warnte, ein „größerer Pool des Virus“ bedeute „eine höhere Wahrscheinlichkeit von Mutationen“. Die größte Gefahr ist die Entstehung einer Variante, gegen welche die derzeitigen Impfstoffe wirkungslos wären.
Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Aufhebung der Einschränkungen ab. Die Zeitung The Observer gab eine Studie in Auftrag, laut der fast 73 Prozent der Teilnehmer auch weiterhin das Tragen von Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln unterstützen. 50 Prozent erklärten trotz der unablässigen rechten Propagandakampagne die Aufhebung der Einschränkungen sollte verschoben werden.
Johnson und seine Verbrecherbande können nur deshalb grünes Licht für weitere Todesfälle und soziales Elend geben, weil im politischen Establishment keine Opposition dagegen existiert.
Der Schatten-Gesundheitsminister der Labour Party, Jonathan Ashcroft, erklärte als Reaktion auf Javids Äußerung: „Wir wollen, dass die Wirtschaft ausgewogen, sicher und nachhaltig wieder geöffnet wird.“ Auf die Frage, ob es sinnvoller wäre, angesichts der dritten Welle im Sommer regelmäßig die Daten zu überprüfen, schlug er aber nur eine Fortsetzung der Maskenpflicht vor.