Obwohl die Zahlen der Corona-Fälle in ganz Europa ansteigen, heben die Regierungen die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung auf. Die infektiösere Delta-Variante, die erstmals in Indien entdeckt wurde, entwickelt sich dabei zunehmend zur vorherrschenden Variante. Sie gilt als bis zu 60 Prozent ansteckender als die erstmals in Großbritannien entdeckte Alpha-Variante und soll bis zur viermal häufiger zu Hospitalisierungen führen.
Unter den europäischen Staaten ist die Lage in Großbritannien am weitesten fortgeschritten, da sich die Delta-Variante dort früher ausgebreitet hatte, obwohl das Land eine höhere Impfquote als die meisten EU-Staaten hat. Fast 60 Prozent der Erwachsenen in Großbritannien haben bereits zwei Dosen erhalten.
Am Mittwoch verzeichnete Großbritannien mit 26.068 Fällen am dritten Tag in Folge mehr als 20.000 Neuinfektionen. Die Gesamtzahl über die letzten acht Tage stieg damit auf über 140.000. Im gleichen Zeitraum gab es 113 Todesfälle durch Covid-19, wobei nur die Wirkung des Impfprogramms für diese vergleichsweise niedrige Zahl verantwortlich ist.
Trotz des Wiederauflebens der Pandemie durch die Delta-Variante und mehr als 152.000 Toten durch Covid-19 kündigte der neue britische Gesundheitsminister Sajid Javid in seiner ersten Rede vor dem Parlament die Abschaffung aller Sicherheitsmaßnahmen am 19. Juli an.
Er erklärte: „Wir sehen keinen Grund, die Maßnahmen nach dem 19. Juli fortzuführen. Denn eigentlich birgt jedes Datum, das wir wählen, Risiken. Wir wissen, dass wir es einfach nicht aus der Welt schaffen können. Wir müssen lernen, damit zu leben.“ Javid machte kein Geheimnis daraus, dass seine Hauptsorge der Schutz des Großkapitals ist: „Wir wissen auch, dass die Menschen und die Unternehmen Sicherheit brauchen. Deshalb wollen wir, dass alle Schritte unumkehrbar sind. Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass die Einschränkung unserer Freiheiten ein Ende haben muss.“
Die derzeitige Welle geht zu einem Großteil auf die Infektion von Jugendlichen und Schülern zurück. Am Dienstag veröffentlichte das Kultusministerium neue Zahlen, laut denen letzte Woche in England mehr als 375.000 Schüler wegen der Ausbreitung von Covid-19 nicht zur Schule gekommen sind. Dies entspricht einem Anstieg von mehr als 130.000 innerhalb einer Woche bzw. 66 Prozent oder 5,1 Prozent aller Schüler.
Unter den abwesenden Schülern befinden sich 15.000 bestätigte Covid-19-Fälle und 24.000 Verdachtsfälle. Diese Zahlen bestätigen auf drastische Weise, dass die Regierung an der Politik der Herdenimmunität festhält – in offiziellen Leitlinien wird mittlerweile davon abgeraten, in Schulen Masken zu tragen.
Auch in anderen Ländern führt die Delta-Variante zu einem Anstieg der Fallzahlen, u.a. in Russland und Portugal. Russland meldete am Mittwoch mehr als 21.000 neue Fälle, d.h. fast genauso viele wie in Großbritannien. Allerdings lag die Zahl der Toten etwa 30-mal höher, offiziell bei 669 Toten. Die Impfquote in Russland liegt derzeit bei elf Prozent.
In Portugal gab es am Mittwoch 2.362 neue Fälle. Letzte Woche veröffentlichte das portugiesische Gesundheitsministerium einen Bericht, laut dem die Delta-Variante für mehr als die Hälfte aller Fälle verantwortlich ist. In der Hauptstadt Lissabon gehen mehr als 70 Prozent der Fälle auf die Delta-Variante zurück.
Die deutsche Bundesregierung ordnete am Dienstag eine zweiwöchige Quarantäne für Reisende aus Russland und Portugal an, um die Ausbreitung der Delta-Variante zu begrenzen. Deutschland hat Großbritannien seit Mai als Virusvariantengebiet eingestuft. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach forderte zuletzt auch ein Reiseverbot für Briten in der Europäischen Union.
Bundesinnenminister Horst Seehofer kritisierte am Dienstag die großen Zuschauerzahlen in britischen Fußballstadien im Rahmen der Europameisterschaft. Gegenüber der Augsburger Allgemeinen erklärte er, es sei „unverantwortlich, wenn in Ländern, die als Virusvariantengebiet der hoch ansteckenden Delta-Mutation gelten, zigtausende Menschen auf engem Raum zusammenkommen“. Beim Spiel zwischen England und Deutschland am Dienstagabend war das Stadion mit 45.000 Zuschauern zur Hälfte gefüllt.
In Deutschland selbst breitet sich die Delta-Variante bereits aus und ist vermutlich bereits die vorherrschende Variante. Am Dienstag erklärte der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, dass laut einer landesweiten Analyse der Genomsequenzierungen die Delta-Variante in der Woche vom 14. bis zum 20. Juni für 36 Prozent aller Coronavirus-Fälle verantwortlich war, d.h. mehr als doppelt so viele wie in der Vorwoche (15 Prozent). Auf der Grundlage dieses Trends schätzte Wieler, dass die Delta-Variante mittlerweile für mehr als die Hälfte aller Fälle verantwortlich ist.
Dennoch hebt Deutschland die begrenzten Maßnahmen zur sozialen Distanzierung wie geplant auf. Genau wie im Rest Europas soll die Wirtschaft wieder auf Hochtouren laufen, damit die Profite deutscher Unternehmen erneut steigen. 54,5 Prozent der deutschen Bevölkerung hat die erste Impfstoffdosis erhalten, 36,5 Prozent sind vollständig geimpft.
In Italien und Belgien ist die Delta-Variante bereits für mindestens 20 bzw. 16 Prozent aller Corona-Fälle verantwortlich.
Am Dienstag erklärte der französische Gesundheitsminister Olivier Veran, Delta sei in Frankreich für etwa 20 Prozent der neuen Fälle verantwortlich und entwickle sich stetig zur vorherrschenden Variante. In der südwestfranzösischen Region Landes an der Grenze zu Spanien ist Delta bereits für 70 Prozent aller Infektionen verantwortlich.
Die Leiterin des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, Andrea Ammon, erklärte am 24. Juni, es sei sehr wahrscheinlich, dass Delta im Sommer in weiten Teilen des Kontinents großflächig zirkulieren wird: „Dies könnte ein Risiko für gefährdete Personen bedeuten, die schwer erkranken oder sterben, wenn sie nicht vollständig geimpft sind.“
Weiter erklärte sie: „Es sind immer noch zu viele der Gefahr einer schweren Infektion mit Covid-19 ausgesetzt, die wir so schnell wie möglich schützen müssen.“ Sie kritisierte implizit die Beendigung der sozialen Distanzierungsmaßnahmen: „Bis ein Großteil der gefährdeten Patienten geschützt ist, müssen wir die Verbreitung der Delta-Variante durch strenge Einhaltung der öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen niedrig halten, die auch die Auswirkung der anderen Varianten erfolgreich niedrig gehalten haben.“
Doch die europäischen Regierungen erklären offen, dass sie bei der Eindämmung des Virus auf Impfungen setzen, aber soziale Distanzierungsmaßnahmen ablehnen, weil sie die Profite der Wirtschaft beeinträchtigen würden. Dabei ist nur etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung Europas vollständig geimpft.
Wissenschaftler haben gewarnt, dass eine Politik, die die Ausbreitung des Virus in einer großen und nur teilweise geimpften Bevölkerung zulässt, die Bedingungen für die Entwicklung neuer und noch tödlicherer Varianten schafft, die noch resistenter gegen den bestehenden Impfschutz sein könnten.
Dass diese neuen Varianten sich entwickeln und so dominant werden konnten, war ebenfalls kein unausweichliches und rein biologisches Phänomen. Es war das Ergebnis der Politik der kapitalistischen Regierungen in der Europäischen Union, den USA und dem Rest der Welt. Seit dem Ende der strengeren Lockdown-Maßnahmen im letzten Jahr haben sie faktisch eine Politik der „Herdenimmunität“ verfolgt. Die Ausbreitung des Virus wurde bewusst in Kauf genommen, um die Finanzinteressen der Wirtschaftselite zu schützen.
Deshalb sind in Europa mehr als 1,1 Millionen Menschen gestorben, während im gleichen Jahr das Vermögen der europäischen Milliardäre um eine Billion Dollar gestiegen ist – auf drei Billionen Dollar, die nur 628 Menschen gehören.
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