Perspektive

Bidens Rede zur Corona-Pandemie: Mission erfüllt

Nur zwei Monate nach der blutigen Invasion des Irak hielt der damalige Präsident George W. Bush am 1. Mai 2003 an Bord des Flugzeugträgers USS Abraham Lincoln eine im Fernsehen übertragene Rede. Unter einem Banner mit der Aufschrift „Mission Accomplished“ („Mission erfüllt“) verkündete Bush, dass „die größeren Kampfhandlungen im Irak beendet“ seien. Auf seine Proklamation folgte eine imperialistische Besatzung, die den Tod von einer Million Irakern und fast 4.500 amerikanischen Soldaten zur Folge hatte.

Die zur Prime Time übertragene Rede von US-Präsident Joe Biden am Donnerstagabend anlässlich des ersten Jahrestags der Coronavirus-Pandemie hatte einen ähnlichen Charakter. In der Pose des gütigen alten Großvaters präsentierte Biden die Pandemie, als sei sie jetzt, da die Demokratische Partei am Ruder ist, unter Kontrolle. Er versicherte den Amerikanern, dass sie auf dem besten Weg seien, Covid-19 zu besiegen, und ermutigte sie, „unsere Unabhängigkeit von diesem Virus zu feiern“, indem sie am 4. Juli – dem Unabhängigkeitstag – mit ihren Freunden, Familien und Nachbarn zusammenkommen.

US-Präsident Joe Biden bei einer Rede zum American Rescue Plan, einem Coronavirus-Hilfspaket, im Rosengarten des Weißen Hauses am Freitag, 12. März 2021 (AP Photo/Alex Brandon)

Während Biden diese Kommentare abgab, haben Wissenschaftler in den USA und auf der ganzen Welt Alarm geschlagen. Sie verweisen auf die dringende Notwendigkeit zur Ergreifung von Maßnahmen, um eine tödliche neue Welle der Pandemie zu stoppen. Immer mehr Infektionen und tödliche Varianten des Virus breiten sich aus, während wegen des schleppenden Fortschritts der globalen Impfkampagne ein dramatischer Anstieg der Fälle droht. Doch die Regierungen auf der ganzen Welt, einschließlich der Biden-Administration, heben alle noch bestehenden Maßnahmen zur Eindämmung des Virus auf.

„Schauen Sie“, erklärte Biden, „wir wissen, was wir tun müssen, um dieses Virus zu besiegen: Wir müssen die Wahrheit sagen.“ Doch seine gesamte Rede basierte auf einer Reihe von irreführenden, verzerrten und schlichtweg erlogenen Behauptungen.

Erstens sagte Biden fast nichts darüber, was diese Katastrophe hervorgerufen hat. Nur ein einziges Mal deutete er an, dass irgendetwas oder irgendjemand verantwortlich gewesen sein könnte: „Vor einem Jahr“, erklärte er, „wurden wir von einem Virus heimgesucht, dem man mit Schweigen begegnete und das sich unkontrolliert ausbreitete. Es wurde tagelang, wochenlang, dann monatelang geleugnet.“

Wer hat das Virus geleugnet und in wessen Interesse? Dazu sagte Biden nichts. Er nahm nicht ein einziges Mal auf die Politik seines Vorgängers Trump Bezug. Die schreckliche Zahl der Toten ist das Ergebnis einer bewussten Politik von Regierungen auf der ganzen Welt, von konservativen und liberalen gleichermaßen. Sie ließen es geschehen, dass sich das Virus ausbreitete. Maßnahmen wie etwa vollständige Lockdowns mit Entschädigungen für Arbeiter und kleine Unternehmen waren tabu, weil sie die Anhäufung von Profiten durch die Superreichen gestört hätten.

In den Vereinigten Staaten beteiligten sich sowohl die Demokraten als auch die Republikaner an der Umsetzung dieser mörderischen Politik. Die Demokraten und Republikaner im Kongress wurden bereits sehr frühzeitig über die Gefahren durch das hochansteckende neuartige Coronavirus aufgeklärt. Doch beide Parteien schwiegen und gaben keine ernsthaften Warnungen an die Öffentlichkeit heraus.

Zweitens behauptete Biden, dass die Pandemie einen verheerenden Einfluss auf alle Schichten der Gesellschaft gehabt habe. „Auch wenn es für jeden von uns anders war – wir alle haben etwas verloren. Ein kollektives Leiden, ein kollektives Opfer."

In Wirklichkeit haben manche Menschen nicht nur nichts verloren, sondern sehr viel Gewinn gemacht. Seit dem Beginn der Pandemie vor einem Jahr konnten die Milliardäre in den USA ihr Vermögen um 1,4 Billionen Dollar steigern. Als die Finanzmärkte im vergangenen März abstürzten, verabschiedete der Kongress in Windeseile den CARES Act, durch den der Wall Street Billionen von Dollar ausgehändigt wurden.

„Licht in der Dunkelheit zu finden, ist etwas sehr Amerikanisches“, erklärte Biden und sagte damit vielleicht mehr, als er beabsichtigte. Die herrschende Klasse lebt nach dem Motto „Man soll keine Krise ungenutzt verstreichen lassen", und das gilt zweifellos auch für die Pandemie.

Drittens behauptete Biden, seine eigene Administration tue alles, was sie könne, um die weitere Ausbreitung des Virus zu stoppen. "Ich nutze alle Befugnisse, die ich als Präsident der Vereinigten Staaten habe", behauptete Biden, "um uns auf Kriegskurs zu bringen, damit wir den Job erledigen können.“ Er prahlte damit, dass er alle Erwachsenen bis zum 1. Mai zur Impfung zulassen würde, bevor er zugab, dass dies „nicht bedeutet, dass jeder sofort die Impfung bekommt, aber es bedeutet, dass man sich auf die Liste setzen lassen kann.“ Dutzende Millionen Menschen werden monatelang warten müssen, bevor sie geimpft werden können.

Anstatt Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen und Arbeiter und ihre Familien zu schützen, während die Bevölkerung geimpft wird, hat sich Biden an die Spitze der Öffnung der Schulen für den Präsenzunterricht gestellt. Dies hat bereits erneut zu großen Ausbrüchen im ganzen Land geführt. Am Donnerstag prahlte Biden damit, dass die Wiedereröffnung der Mehrheit der Grund- und Mittelschulen bis April die „oberste Priorität" seines Bildungsministers sei.

Viertens stellte Biden die Krise in einen ausschließlich nationalen Zusammenhang und zeichnete zugleich ein rosiges Bild von der Pandemieentwicklung. Der Inhalt seiner Ausführungen ließ nicht erahnen, dass es noch andere Länder auf der Welt geben könnte – abgesehen von Bidens Drohung an ausländische Regierungen, niemals „gegen“ die Vereinigten Staaten zu „wetten“.

Die Wahrheit ist, dass die Pandemie eine globale Krise ist, für die es keine nationale Lösung gibt. Die weltweiten Entwicklungen werden auf die USA zurückfallen. Die Rate der Neuinfektionen steigt weltweit wieder rapide an und erreicht einen Sieben-Tage-Durchschnitt von mehr als 422.000 neuen Fällen pro Tag. Fast 8.500 Todesfälle werden täglich registriert.

An der Spitze des Anstiegs steht derzeit Brasilien, das sich mit mehr als 70.000 neuen bestätigten Fällen und 1.940 Todesfällen am Samstag in der bisher schlimmsten Phase der Pandemie befindet. Die Zahl der Fälle steigt in Europa wieder an und bringt Krankenhäuser in Polen und Tschechien an den Rand des Zusammenbruchs. Deutschland befindet sich nach der unsicheren Wiederöffnung der Schulen mitten im Beginn einer dritten Ausbreitungswelle. Auf dem gesamten Kontinent ist die Verteilung von Impfstoffen ein Fiasko und die Regierungen konkurrieren um Zugriff auf einen sehr begrenzten Impfstoffbestand. Die Impfraten liegen in den meisten Ländern im einstelligen Bereich.

Was die Vereinigten Staaten selbst betrifft, so sterben immer noch etwa 1.500 Menschen täglich an Covid-19 – eine Todesrate, die deutlich diejenige der zweiten Welle im Sommer übertrifft – und der Rückgang der Neuinfektionen hat sich dramatisch verlangsamt. Obwohl die Zahl der verabreichten Impfdosen landesweit auf mehr als zwei Millionen pro Tag angestiegen ist – und damit Bidens Ziel von 100 Millionen Impfungen vor Ablauf seiner ersten 100 Tage im Amt mehrere Wochen früher erreicht werden wir – sind nach wie vor nur 10 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

Gegen Ende seiner Rede lieferte Biden schließlich die durchsichtigste und offenkundigste Fälschung von allen. „Vor über einem Jahr“, sagte er, „hätte sich niemand vorstellen können, was uns bevorstand.“

Tatsächlich haben Wissenschaftler und Epidemiologen schon lange vor der Gefahr einer Pandemie von genau diesem Charakter gewarnt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem derartigen Ausbruch kommen würde, wie er nun stattfindet. Außerdem war bereits vor einem Jahr klar, dass die Coronavirus-Pandemie ohne Sofortmaßnahmen verheerende Folgen für die Bevölkerung der gesamten Welt haben würde. Dies wurde in der Pandemieerklärung der Weltgesundheitsorganisation dokumentiert, und in unzähligen Erklärungen auf der World Socialist Web Site.

Vor über einem Jahr, am 7. März 2020, veröffentlichte die Sozialistische Gleichheitspartei eine Erklärung, in der sie die fahrlässige und inkompetente Reaktion der Regierungen der Welt – vor allem derjenigen der Vereinigten Staaten und Europas – auf die Pandemie anklagte. Der Tod von Millionen von Menschen könnte vermieden werden, erklärte sie, wenn aggressive Maßnahmen im Einklang mit den Empfehlungen der Epidemiologen ergriffen würden:

Bei unserer Reaktion auf diese gefährliche Krankheit müssen wir uns von einem Grundsatz leiten lassen: Die Bedürfnisse der Menschen stehen an erster Stelle. Die Bekämpfung einer Epidemie, die Millionen Menschenleben bedroht, darf nicht dem privaten Profitstreben untergeordnet werden.

Die Antwort der Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft bestand darin, das Leben dem Profit zu opfern und Millionen Menschen dazu zu verdammen, im Interesse der Wall Street zu sterben.

Was die Pandemie im letzten Jahr offengelegt hat, ist der fundamentale Widerspruch zwischen den Interessen der Gesamtheit der Gesellschaft einerseits, und denen der herrschenden Elite und des kapitalistischen Systems andererseits. Wie bei allen anderen Bedrohungen der Menschheit gibt es auch für die Pandemie unter dem Kapitalismus und dem nationalstaatlichen System keine progressive Lösung. Nur die internationale Arbeiterklasse, die auf der Grundlage eines sozialistischen Programms kämpft, um den Kapitalismus zu stürzen und die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse neu zu organisieren, kann die Menschheit voranbringen. Dies ist letzten Endes die Wahrheit, die Biden natürlich nicht aussprechen wird.

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