Die Schweizer Wähler haben am Sonntag mit knapper Mehrheit ein Verhüllungsverbot beschlossen, das es muslimischen Frauen untersagt, in der Öffentlichkeit ihr Gesicht zu verhüllen und einen Nikab oder eine Burka zu tragen.
Insgesamt stimmten 1,43 Millionen für das Verbot. Das ist zwar nur ein Sechstel der 8,7 Millionen Einwohner des Landes, von denen 2,2 Millionen keinen Schweizer Pass besitzen und 1,7 Millionen minderjährig sind. Aber bei einer Stimmbeteiligung von knapp über 50 Prozent reichte dies für eine Annahme des Verbots mit 51,2 Prozent.
Die Verfassungsinitiative und die Kampagne dafür dienten dazu, rassistische und antimuslimische Stimmungen zu schüren. Untersuchungen zufolge gibt es in der gesamten Schweiz nur 30 Frauen, die den Nikab tragen. Hinzu kommen einige Hundert Touristinnen aus arabischen Ländern. Burkaträgerinnen gibt es überhaupt keine.
Die Volksabstimmung wurde vom sogenannten Egerkinger Komitee lanciert, in dem Politiker der rechtspopulistischen SVP und unverhohlene Faschisten den Ton angeben. Das Komitee, das laut Neue Zürcher Zeitung über 4500 Sympathisanten verfügt, war bereits 2009 mit einer Gesetzesinitiative erfolgreich, die den Bau von Minaretten in der Schweiz untersagt.
Der Geschäftsführer des Egerkinger Komitees, der 31-jährige Anian Liebrand, bezeichnet sich als „Überzeugungstäter“. Er war mit 16 in die SVP eingetreten und verfolgt das Ziel, den angeblichen „linken Mainstream“ im Land zu brechen. „Die Gesellschaft so zu beeinflussen, dass sich der Trend wieder nach rechts dreht: Das ist eines meiner größten Ziele,“ sagte er der NZZ.
Liebrand wurde wegen mehrfacher übler Nachrede verurteilt, weil er auf einer SVP-Website Fotos junger linker Politiker veröffentlicht und sie als „feige Chaoten“, „erbärmliche Kreaturen“ und Gewalttäter denunziert hatte. Er ist auch in Initiativen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und Sexualunterricht an den Schulen aktiv. Seine größte Angst sei, schreibt die NZZ, „‚dass die Schweizer aussterben‘. Wegen Überfremdung und zu wenig Geburten von Schweizer Kindern.“ Den Holocaust-Gedenktag hat er als „Schuldeinredungsprogramm“ bezeichnet, mit dem die Schweizer an Schulen „umerzogen“ würden.
Liebrand ist nicht das einzige Führungsmitglied des Egerkinger Komitees, das faschistische Vorstellungen vertritt. Der 24-jährige Nils Fiechter, ebenfalls Mitglied der SVP, wurde wegen Verstoßes gegen das Rassendiskriminierungsgesetz verurteilt, weil er ein Hetzplakat gestaltet hatte, auf dem stand: „Millionenkosten für Bau und Unterhalt, Schmutz, Fäkalien, Lärm, Diebstahl etc. Wir sagen Nein zu Transitplätzen für ausländische Zigeuner!“ In der Kampagne für das Burkaverbot trat er verkleidet als Selbstmordattentäter auf, der unter der Burka einen Sprenggürtel trägt.
Auch die Plakate der Kampagne erinnerten in Stil, Form und Inhalt an Nazi-Propaganda: Zwei gefährlich blickende Augen hinter einem Nikab, schwarz auf rotem Grund, mit dem Schriftzug „Extremismus stoppen!“
Im Egerkinger Komitee finden sich auch viele Veteranen früherer fremdenfeindlicher Kampagnen der SVP und ihres Umfelds. Sein Präsident ist Nationalrat Walter Wobmann, der auf dem rechten Flügel der SVP steht. Die SVP hat seit vielen Jahren Initiativen gegen Einwanderer, Flüchtlinge und Muslime initiiert und damit teilweise Erfolg gehabt.
Zum letzten Mal gelang ihr dies vor sieben Jahren mit der sogenannten Masseneinwanderungsinitiative, die mit äußerst knapper Mehrheit angenommen wurde. Sie verpflichtete die Schweizer Regierung, das Freizügigkeitsabkommen mit der EU innerhalb von drei Jahren neu zu verhandeln. Seither sind entsprechende Initiativen gescheitert und der Einfluss der SVP ist etwas zurückgegangen. Dass die Burkaverbots-Initiative nun wieder Erfolg hatte, ist vor allem auf die Unterstützung einiger Liberaler und Feministinnen zurückzuführen, die gemeinsame Front mit den Rechtsextremen machten.
So wurde ein Frauenkomitee für die Burka-Initiative gebildet. Die Schriftstellerin Gisela Widmer erklärte im Tages-Anzeiger, sie habe zwar keine Sympathien für die Initiatoren, werde aber mit Ja stimmen. Es gehe nicht um die politische Agenda, sondern „einzig um die Frage: ‚Verhüllungsverbot ja oder nein?‘“. Und diese Frage müsse ein linksliberaler Mensch mit Ja beantworten. Denn der Nikab sei „die Kutte des politischen Islam“. Auch Regina Probst, frühere Mitarbeiterin von Terre de femmes, sagte dem Spiegel, sie stimme mit Ja.
Die deutsche Feministin Alice Schwarzer, die schon in der Flüchtlingskrise gegen muslimische Männer gehetzt hatte, meldete sich in der NZZ zu Wort und unterstützte die Initiative mit der Begründung: „Ist es das, was wir nach 200 Jahren Aufklärung und 50 Jahren Kampf um Gleichberechtigung wollen? Verhältnisse, in denen eine Frau unsichtbar sein muss, um sich vor Männerblicken zu schützen?“
Es gab allerdings auch zahlreiche andere Stimmen, die den Rassismus der Kampagne anprangerten und das Verbot als Angriff auf das demokratische Recht auf Religions- und Meinungsfreiheit verurteilten, das muslimische Frauen diskriminiere, die im Falle eines Verstoßes – ob freiwillig oder unter Zwang – als einzige dafür bestraft würden.
Auch wenn nicht jeder, der für das Burka-Verbot stimmte, ein überzeugter Rechtsextremer ist, zeigt die Annahme dieser undemokratischen und diskriminierenden Initiative, dass auch die Schweiz vor der Rückkehr faschistischer Strömungen nicht gefeit ist, wie sie sich in den USA (Trump), Deutschland (AfD), Spanien (Vox) und zahlreichen anderen Ländern zu Wort melden.
Die Schweiz wird oft so dargestellt, als sei sie immer eine Oase der Demokratie gewesen, die gegen Faschismus und Nationalsozialismus immun war. Doch das stimmt nicht. Um 1930 herum entwickelte sich auch in der Schweiz eine umfangreiche Frontenbewegung, die für völkische, antisemitische und faschistische Ziele eintrat. Aus ihr ging die Partei Nationale Front hervor, die 1935 mit 9000 Mitgliedern ihren Höhepunkt erreichte und mit eigenen Abgeordneten im Schweizer Parlament vertreten war.
Von der Nationalen Front führt eine direkte Linie zum Egerkinger Komitee. Ulrich Schlüer, der politische Förderer von Anian Liebrand, der das Komitee mit gegründet hat und bei der Minarett-Initiative federführend war, hatte in den 1970er Jahren als Sekretär für James Schwarzenbach gearbeitet. Schwarzenbach, ein Mitglied des Schweizer Nationalrats, rief 1968 die „Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat“ ins Leben, die den Anteil ausländischer Bevölkerung in jedem einzelnen Kanton auf maximal 10 Prozent beschränken wollte. Eine entsprechende Initiative wurde nach einem erbitterten Abstimmungskampf mit 54 Prozent abgelehnt. Wäre sie angenommen worden, hätten 300.000 bis 400.000 Menschen die Schweiz verlassen müssen.
Schwarzenbach hatte in seiner Jugend den spanischen Diktator Franco bewundert und war Mitglied und später sogar Parteichef der Nationalen Front gewesen. Im November 1934 wurde er aktenkundig, weil er sich an einem Überfall auf das Cabaret Pfeffermühle beteiligt hatte. Das Cabaret war von Erika und Klaus Mann, den Kindern des berühmten Schriftstellers Thomas Mann, in München gegründet worden und wegen der Verfolgung durch die Nazis nach Zürich umgezogen. Schwarzenbach rechtfertigte den Überfall damit, dass es Zeit sei, Emigranten und Juden zu zeigen, dass für sie in der Schweiz kein Platz sei, wenn sie das Gastrecht missbrauchten.
Die Rückkehr dieser faschistischen Kräfte ist eine Reaktion auf die tiefe Krise des Kapitalismus, die auch die Schweiz nicht verschont. Gemessen am BIP pro Einwohner gehört das Land zwar zu den reichsten der Welt, aber es ist auch, wie kaum ein anderes Land, von der Weltkonjunktur abhängig. Der überdimensionierte Bankensektor, der Tourismus für die Oberklasse und die hochspezialisiere Industrie reagieren äußerst empfindlich auf konjunkturelle Schwankungen.
Hinzu kommen die scharfe soziale Polarisierung, die von einer steinreichen Oberschicht bis zu Saisonarbeitern ohne festen Aufenthaltsstatus reicht, und ein unterentwickeltes Sozialsystem. Die Coronakrise hat diese Gegensätze verschärft. Trotz hoher Infektionszahlen hat die Regierung die Interessen der Wirtschaft über das Leben der Menschen gestellt. Skigebiete, Hotels und Restaurants blieben, ebenso wie Fabriken, größtenteils offen. Als Folge haben sich 565.000 Menschen an Corona infiziert, gemessen an der Bevölkerungszahl mehr als doppelt so viel wie in Deutschland. Über 10.000 sind gestorben.
Wie überall auf der Welt bereitet sich die herrschende Klasse mit der Förderung faschistischer Kräfte auch in der Schweiz auf heftige Klassenkämpfe vor.