Am Samstag demonstrierten mehrere zehntausend Menschen in mehr als 100 Städten Russlands für die Freilassung des rechten Putin-Gegners Alexei Nawalny. Dieser war am vorangegangenen Sonntag nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhaftet worden, weil er gegen Bewährungsauflagen im Zusammenhang mit einer Bewährungsstrafe wegen Geldwäsche aus dem Jahr 2014 verstoßen hat. Vor seiner Ankunft in Moskau hatte der Kreml öffentlich angekündigt, er werde Nawalny sofort nach seiner Ankunft in Russland verhaften.
Vor seiner Rückkehr hatte Nawalny fünf Monate in Deutschland verbracht, nachdem er während eines Flugs von Tomsk nach Moskau erkrankt war. Aufgrund der direkten Intervention von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde er per Flugzeug direkt in die Berliner Charité gebracht. Laut einem Bundeswehrlabor wurde er mit dem hochgradig tödlichen Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet. Obwohl es dafür keine Beweise gab, erklärten westliche Regierungen und Medien Putin zum Schuldigen.
Die größte Protestveranstaltung fand in Moskau statt. Laut der russischen Wirtschaftszeitung Kommersant nahmen daran mehr als 15.000 Menschen teil. Reuters nennt eine deutlich höhere Teilnehmerzahl von 40.000, die jedoch von anderen Medien nicht bestätigt und selbst vom Spiegel, der sehr positiv über Nawalny berichtet, angezweifelt wurde. Auch die Behauptung von Nawalnys Stab, im ganzen Land hätten Hunderttausende demonstriert, wurde von anderen Medien nicht berichtet.
Kommersant wies darauf hin, dass trotz der Versuche von Nawalnys Anhängern, auf der beliebten Social-Media-Plattform TikTok für die Demonstrationen zu werben, in Moskau nur relativ wenige Jugendliche teilnahmen. Im Jahr 2017 konnte Nawalnys Opposition die allgemeine soziale und politische Unzufriedenheit ausnutzen und eine größere Anzahl von Jugendlichen zu seinen Demonstrationen mobilisieren.
Am Samstag beschränkten sich die Forderungen der Demonstranten auf Parolen gegen Korruption, „Weg mit Putin“ und die Freilassung Nawalnys. Die gewaltige soziale Krise im Land und die Corona-Pandemie, die laut offiziellen Schätzungen mehr als 3,5 Millionen Menschen infiziert und mehr als 65.000 Todesopfer gefordert hat, wurden nicht erwähnt.
Die Polizei ging mit großer Härte gegen die Proteste vor. Laut russischen NGOs wurden mehr als 3.300 Menschen verhaftet, mehr als 1.400 davon in Moskau. Leonid Wolkow, einer von Nawalnys engsten Verbündeten, erklärte in einem Interview mit dem Spiegel, in vielen Regionen seien die Inhaftierten fast ausschließlich lokale Mitarbeiter von Nawalny gewesen.
Wolkow brüstete sich damit, dass Teile des Sicherheitsapparats, vor allem der Polizei, zur Opposition überlaufen würden. Berichte der russischen Presse deuten darauf hin, dass die stalinistische KPRF, die lange Zeit eine wichtige Stütze des Putin-Regimes war, jetzt in Bezug auf Nawalny zerstritten ist; einige ihrer führenden Mitglieder unterstützen ihn.
Der angebliche Giftanschlag des Kremls auf Nawalny ist ein rätselhafter Fall voller Lügen und offener Widersprüche. Entgegen den Behauptungen der New York Times und anderer Medien ist bisher weder bewiesen, dass Nawalny mit Nowitschok vergiftet wurde noch dass Putin oder der russische Geheimdienst irgendetwas damit zu tun haben.
Gleich nach Nawalnys Rückkehr nach Russland und seiner Verhaftung veröffentlichte sein YouTube-Kanal ein zweistündiges Video über die Korruption des Putin-Regimes. Es enthüllte angeblich den Bau eines riesigen „Palastes“, den Putin an der Küste des Schwarzen Meeres unter Einsatz von Steuergeldern bauen ließ. Nawalnys Team listet auch eine Reihe von Funktionären aus Putins Umfeld auf und verlangt, dass sie von der Europäischen Union sanktioniert werden. Darunter befinden sich mehrere der reichsten Oligarchen Russlands wie Roman Abramowitsch und Alischer Usmanow.
In dem Video, das bis zum Montagmorgen mehr als 80 Millionen Mal angesehen wurde, hieß es, Putins Weg vom KGB-Agenten in Ostdeutschland in den 1980ern zum Kreml-Chef sei geprägt gewesen von „Korruption“ und „Diebstahl“. Ein Großteil der Fakten und Zahlen sind jedoch bereits seit Langem bekannt.
Das Mantra der „Korruptionsbekämpfung“, das den Mittelpunkt von Nawalnys angeblicher Opposition gegen Putin bildet, ist ein Markenzeichen rechter, pro-kapitalistischer Tendenzen. Es lässt sich von den imperialistischen Mächten leicht manipulieren und ausnutzen, die ihre eigenen räuberischen Interessen hinter der Behauptung verbergen, ihnen ginge es um die demokratischen Rechte der Bewohner des Landes, in das sie sich einmischen wollen. Die westlichen Medien verschweigen ihren Lesern bewusst die politische Orientierung und die Vorgeschichte dieses „internationalen Helden“, wie ihn die New York Times nennt.
Nawalny spricht trotz seiner demagogischen Rhetorik gegen Korruption letzten Endes für die gleichen Klasseninteressen wie Putin. Es ist kein Zufall, dass Nawalny in all seinen „Enthüllungen“ nicht einmal den Begriff „Kapitalismus“ erwähnt. Egal wie kriminell Putins Laufbahn war, sie war nicht einzigartig: Die Plünderung des gesellschaftlichen Vermögens mit gleichzeitiger Verarmung der Arbeitermassen war kennzeichnend für die stalinistische Zerstörung der Sowjetunion 1991 und die Wiedereinführung des Kapitalismus. Nawalny und die Kräfte, für die er spricht, waren genauso Teil dieses Prozesses wie Putin und Oligarchen wie Abramowitsch.
Nwalnys Vater war Offizier in der Roten Armee, seine Mutter Ökonomin und Mitglied der Kommunistischen Partei. In den 1990ern eröffneten sie eine Fabrik, Nawalny selbst ging in die Bankbranche und wurde Unternehmer. Beispielhaft für die sozialdarwinistischen und sogar faschistischen Gesinnungen, die in dieser parasitären Schicht vorherrschten, war Nawalnys spätere Äußerung: „Ich wollte eine Marktwirtschaft in ihrer bösartigsten Form: Die Stärksten überleben, der Rest ist einfach überflüssig.“
Nawalnys Hass auf die Arbeiterklasse äußert sich am deutlichsten in seiner politischen Nähe zu rechtsextremen Kräften. Er ist in der Vergangenheit auf zahlreichen rechtsextremen Demonstrationen aufgetreten und hat dort, wie er es auch heute tut, über „Korruption“ und die „Verbrecher und Diebe“ an der Spitze gesprochen. In einem politisch üblen Hetzvideo der nationalistischen Gruppe NAROD verglich er die Abschiebung von Migranten mit der Arbeit eines Zahnarztes, der ein Loch im Zahn entfernt und die gesunden Wurzeln erhält.
Er fordert ein rechtes Programm, das geprägt ist von freien Märkten, wirtschaftlicher Austerität, Steuersenkungen und Bürokratieabbau für Konzerne, die Privatisierung der halbstaatlichen Unternehmen und die Einbindung Russlands in das globale Finanzkapital.
Nawalny spricht für eine Sektion der herrschenden Klasse und der oberen Mittelschicht Russlands, die größeren Zugang zu einem Großteil des Reichtums und der Ressourcen will, die momentan von Putin und seinen Verbündeten kontrolliert werden. Daneben treten sie auch für eine Außenpolitik ein, die enger an die Ziele des westlichen Imperialismus angelehnt ist. Nawalny hat Putin öffentlich für Russlands Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine und seine Beziehungen zum chinesischen Präsidenten kritisiert.
Die Unterstützung für Nawalny durch die USA und andere imperialistische Mächte liegt auf einer Linie mit ihrer Unterstützung für Regimewechsel-Operationen an anderen Orten. Der Putsch in der Ukraine im Jahr 2014, der von Washington und Berlin inszeniert wurde, stützte sich ebenfalls auf rechtsextreme Kräfte und Teile der Oligarchie. In der künftigen Biden-Regierung in Washington sitzen viele der Persönlichkeiten, die damals eine zentrale Rolle gespielt haben.
Die Begeisterung für Nawalny in den letzten Monaten muss im Kontext der Krise betrachtet werden, die die Pandemie ausgelöst hat. Die imperialistischen Mächte, vor allem die USA und Deutschland, haben versucht, durch die antirussische Kampagne von den wachsenden Klassenspannungen abzulenken und ihre Kriegsvorbereitungen zu forcieren. Gleichzeitig sind sie sich der Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse Russlands bewusst und versuchen, Nawalny aufzubauen, um die Putin-Regierung zu destabilisieren und ein Regime einzusetzen, das ihren geopolitischen Interessen eher entspricht.