Rund 30 führende deutsche Kulturinstitutionen haben sich am 9. Dezember in einer gemeinsamen Erklärung gegen die BDS-Resolution gewandt, die der Deutsche Bundestag vor eineinhalb Jahren, am 17. Mai 2019, verabschiedet hatte. Auch mehr als 1000 Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland, Israel und der ganzen Welt haben sich der Kritik angeschlossen.
Die Bundestagsresolution „BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ war von den Fraktionen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD sowie der Oppositionsparteien FDP und Grüne gemeinsam eingebracht worden. Sie richtete sich vordergründig gegen die Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“, die sie des Antisemitismus bezichtigte.
BDS ruft nach dem Vorbild der Bewegung gegen die Apartheid in Südafrika zum Boykott Israels auf und fordert u.a. das Ende der Besatzung arabischen Landes, den Abriss der Mauer zu den besetzten Gebieten, rechtliche Gleichheit von Juden und Arabern sowie ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge, wie es in der UN Resolution 194 vereinbart worden war.
Die Verurteilung von BDS durch den Bundestag diente dazu, jede Kritik an der Politik der israelischen Regierung, die im Zentrum der imperialistischen Intrigen und Kriegsvorbereitungen im Nahen Osten steht, als „antisemitisch“ zu denunzieren und zu unterdrücken. Die Bundestagsresolution rief dazu auf, Organisationen und Personen, die in irgendeiner Verbindung zu BDS oder mit ihren Zielen sympathisieren, öffentliche Räume und finanzielle Förderung zu verweigern. Sie richtete sich damit auch gegen Kritik an der Außenpolitik der Bundesregierung, die trotz gelegentlicher taktischer Differenzen ihre imperialistischen Ziele im Nahen Osten in enger Zusammenarbeit mit Israel verfolgt und zu dessen wichtigsten Waffenlieferanten zählt.
Es ist bezeichnend, dass die Bundestagsresolution inhaltlich auch von der AfD unterstützt wurde, die die Verbrechen der Nazis verharmlost und zahlreiche Antisemiten und Neonazis in ihren Reihen duldet. Die Fraktion der AfD enthielt sich bei der Abstimmung nur deshalb der Stimme, weil sie einen eigenen, wesentlich schärferen Antrag eingebracht hatte, der ein Verbot von BDS forderte. Auch Die Linke brachte einen eigenen Antrag ein, der BDS mit denselben Worten wie der offizielle Antrag verurteilte, aber einige salomonische Phrasen über Versöhnung zwischen Juden und Palästinensern hinzufügte.
Die Erklärung der Kulturinstitutionen macht nun unmissverständlich deutlich, dass die Allparteienresolution des Bundestags nicht der Bekämpfung des Antisemitismus, sondern der Unterdrückung der Meinungsfreiheit diente. Seither sind zahlreiche Künstler und Intellektuelle, darunter auch jüdische, von geplanten Veranstaltungen ausgeladen oder boykottiert worden, weil sie die Politik der israelischen Regierung kritisieren oder die Rechte der Palästinenser verteidigen.
„Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt“, lautet einer der Kernsätze der Erklärung. Die Kultureinrichtungen hatten sich zum Arbeitskreis „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ zusammengefunden, in dessen Namen sie die Erklärung veröffentlichten. Der Name bezieht sich auf die in Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes festgeschriebene Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.
Neben international renommierten Kultureinrichtungen wie den Berliner Festspielen, dem Deutschen Theater Berlin und dem Bündnis Internationaler Produktionshäuser haben sich der Initiative auch wissenschaftliche Institutionen wie das Einstein Forum Potsdam, das Wissenschaftskolleg zu Berlin, das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, sowie staatsnahe Organisationen wie das Goethe-Institut, die Kulturstiftung des Bundes, die Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss und das Haus der Kulturen der Welt angeschlossen.
Letztere treibt nicht zuletzt die Furcht, dass die Ausgrenzung jeder Israel-kritischen Meinung ihre Arbeit in anderen Ländern gefährdet. Doch im Zentrum der Erklärung steht die Sorge, dass die Unterdrückung kritischer Auffassungen rechte, autoritäre Tendenzen fördert und die Freiheit der Kultur erstickt.
„Der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und jede Form von gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus steht im Zentrum unserer Initiative,“ heißt es in der Erklärung. Die historische Verantwortung Deutschlands dürfe „nicht dazu führen, andere historische Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung moralisch oder politisch pauschal zu delegitimieren. Konfrontation und Auseinandersetzung damit müssen gerade in öffentlich geförderten Kultur- und Diskursräumen möglich sein.“
Den Boykott Israels durch den BDS lehnt die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ ab, weil „wir den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch für grundlegend halten“. Doch auch „die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestages ausgelöst hat“, sei gefährlich.
Die Erklärung endet mit der Feststellung, dass eine weltoffene Gesellschaft, die öffentlichen Diskurs und Dissens zulässt, die Grundlage sei, „welche es den Künsten und Wissenschaften erlaubt, ihre ureigene Funktion weiterhin auszuüben: die der kritischen Reflexion der gesellschaftlichen Ordnungen und der Öffnung für alternative Weltentwürfe“.
Als Beispiel für die negativen Folgen der Bundestagsresolution wird die Auseinandersetzung um den kamerunischen Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe angeführt, der in diesem Jahr die Begrüßungsrede zur Ruhrtriennale halten sollte und mit Antisemitismusvorwürfen überhäuft wurde, weil er die israelische Besatzungspolitik als eine Form des Kolonialismus bezeichnet und mit der Apartheidpolitik Südafrikas verglichen hatte. Die Intendantin der Ruhrtriennale weigerte sich allerdings, ihn wieder auszuladen. Schließlich sagte die nordrhein-westfälische Landesregierung die Veranstaltung wegen Corona ab.
Mbembe ist aber nur einer von vielen, die als Folge der Bundestagsresolution angegriffen und zensiert wurden. Zu den Künstlern, gegen die der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wurde, gehören die in London lebende Autorin Kamila Shamsie, der die Stadt Dortmund den Nelly-Sachs-Preis aberkannte, oder der Rapper Tali Kweli, der vom Open Source Festival in Düsseldorf ausgeladen wurde. Der jüngste Fall traf ausgerechnet israelische Studierende der Kunsthochschule Weißensee, die eine zionismuskritische Veranstaltungsreihe konzipiert hatten und von der Hochschulleitung gestoppt wurden.
Münchens Stadtrat hatte am 13. Dezember 2017 mit großer Mehrheit Veranstaltungen in städtischen Räumen verboten, die sich mit der BDS-Kampagne „befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben“. Die Klage dagegen wurde zunächst vom Verwaltungsgericht abgewiesen. Erst im Berufungsverfahren im November 2020 vom Oberverwaltungsgericht erhielten die Kläger Recht.
Der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, Peter Schäfer, hatte eine Podiumsdiskussion mit der jüdischen Philosophin und Feminismusforscherin Judith Butler und dem Antizionisten und emeritierten Professor Micha Brumlik durchgeführt. Gegen den daraufhin u. a. auf Druck der israelischen Botschaft erzwungenen Rücktritt Schäfers haben mehr als 400 jüdische Wissenschaftler vor allem aus den USA, Israel und Deutschland protestiert. Brumlik kritisierte die Vorwürfe gegen Schäfer als Zeichen eines Verfalls liberaler Dialogkultur und eines neuen McCarthyismus gegen alle, die unter „BDS-Verdacht“ gerieten.
Der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, der die Erklärung gegen den BDS-Beschluss unterzeichnet hat, sagte, in der Praxis führe er zur „Ausladung von Künstlern und Wissenschaftlern, die seit vielen Jahren in Deutschland gearbeitet haben, ohne dass ihre Arbeit gegen die Werte unseres Grundgesetzes verstößt“.
Hartmut Dorgerloh, der Generalintendant der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, wies auf den wachsenden Rechtsradikalismus im öffentlichen Leben in Deutschland hin und meinte: „Wir leben in einer Zeit der Abkehr von rationalem Handeln auf höchster politischer Ebene. […] Wir leben in einer Zeit, in der kritische Positionen gegenüber der israelischen Regierung mit Antisemitismus gleichgesetzt werden, während nationalistische und offen rassistische Kräfte an Fahrt gewinnen.“
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman, seit 20 Jahren Direktorin des Einstein Forums Potsdam, erklärte im Deutschlandfunk, als Jüdin werde sie wütend, wenn die Mehrheit der jüdischen Diskussionen weltweit hier gar nicht zu Wort käme, sondern allein sehr konservative Stimmen. Kritik an der israelischen Regierung müsse möglich sein: „Nach der Logik des BDS-Beschlusses würde weder Albert Einstein noch Hannah Arendt in Deutschland einen Vortrag halten dürfen, weil sie beide, obwohl sie den Staat Israel unterstützt haben, extrem kritisch waren, was das Unrecht gegenüber den Palästinensern angeht.“
Der Antisemitismus-Vorwurf gegen Linke und Intellektuelle spielt Rechtsradikalen und Faschisten – wie Donald Trump, Viktor Orbán, Matteo Salvini, Rodrigo Duterte und der AfD – in die Hände, die sich mit der rassistischen Politik der israelischen Regierung identifizieren und in Jerusalem als Staatsgäste geehrt werden. In Deutschland nahm im letzten Jahr die Zahl antisemitischer Taten durch Rechtsradikale massiv zu. In Polizei und Bundeswehr werden immer mehr Fälle von Antisemitismus und Naziverherrlichung bekannt. Dennoch wird der Vorwurf des Antisemitismus gegen Linke erhoben, die die Politik der äußerst rechten israelischen Regierung kritisieren.
Die Bundesregierung und ihr Antisemitismusbeauftragter Felix Klein haben den Aufruf der Kulturschaffenden scharf zurückgewiesen. Die Bundesregierung wiederholte ihr Mantra, das Existenzrecht des Staates Israel sei nicht verhandelbar. Ein Sprecher des Auswärtigen Amts sagte, man habe jegliche Zusammenarbeit mit der BDS-Bewegung bereits vor der Resolution ausgeschlossen und keine Projekte gefördert, die der Unterstützung der Bewegung dienten. Die CDU-Fraktion des Leipziger Stadtrats will gegen den Leiter der DOK Filmfestivals vorgehen, der den Aufruf unterschrieben hat.
Als Vehikel für solche Verleumdungen fungiert die Definition des Antisemitismus, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) aufgestellt wurde und politische Kritik am Staat Israel rundweg kriminalisiert. Im BDS-Beschluss des Bundestags wird sie als Regierungspolitik festgeschrieben.
Auch international wird der Antisemitismus-Vorwurf benutzt, um selbst die zahmsten linken Kritiker zu verfolgen. In Großbritannien wurde der ehemalige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn unter dem völlig konstruierten Vorwurf des Antisemitismus aus der Partei ausgeschlossen und Zehntausende seiner Anhänger aus der Partei hinausgesäubert.
In den USA wurde dem BDS-Mitgründer und bekannten palästinensischen Politiker Omar Barghouti die Einreise verwehrt, als er an der Harvard Universität einen Vortrag halten sollte. Die Regierung Netanjahu verweigerte den US-Kongress-Abgeordneten Ilhan Omar und Rashida Tlaib die Einreise. Der israelische Staat hat eine umfangreiche Schwarze Liste von Personen verfasst, denen wegen BDS-Nähe die Einreise verweigert wird.
Antisemitismus, d. h. Rassenhass gegen Juden, ist eine Ideologie der extremen Rechten. In Deutschland hat er mit dem Holocaust grausamste Ausmaße angenommen. Aber auch in anderen Ländern diente er den Herrschenden als Mittel, die Wut meist kleinbürgerlicher, vom Abstieg bedrohter Bevölkerungsschichten gegen den jüdischen Teil der Bevölkerung abzulenken. Sozialisten haben das Gift des Antisemitismus dagegen aufs Schärfste bekämpft und sich immer wieder gegen derartige Diskriminierungen oder Pogrome gewandt.
Die Diffamierung von linker Kritik an der rechten Politik der israelischen Regierung als Antisemitismus ist, wie auch die Hetze gegen den Islam, Bestandteil des Rechtsrucks der herrschenden Klasse. Innenpolitisch soll sie regierungskritische Stimmen kriminalisieren und außenpolitisch Kriegspolitik und Unterdrückung im Nahen Osten und anderen Teilen der Welt rechtfertigen.
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