Corona-Krise: Künstler und kulturelle Institutionen kämpfen ums Überleben

Deutschlands Theater, Kinos und Museen sind wegen drastisch angestiegener Corona-Infektionszahlen seit Anfang November geschlossen. Der Grund ist, dass die Bundesregierung alles daran setzt, Schulen und Kitas, den Einzelhandel und die Betriebe offen zu halten. Während sich die Corona-Krise infolgedessen weiter verschärft, sehen sich zahlreiche kulturelle Institutionen und Künstler vom Bankrott bedroht. Die Regierung weigert sich, eine angemessene Finanzierung für sie bereitzustellen.

Der zweite Shutdown in der Kulturlandschaft hat die relativ große Zahl unabhängiger und freier Künstler und Musiker am härtesten getroffen. Bereits vor der Pandemie lebten einige am Rande der Existenz. Jetzt, da alle Konzerte, Ausstellungen, Kunst- und Filmfestivals abgesagt und Clubs geschlossen bleiben, sind sie jeglicher Einkommensquelle beraubt. Ohne reguläre Einkünfte sitzen sie vor Bergen von Rechnungen und wissen nicht, wie sie Miete, Strom, Krankenkasse und den Lebensbedarf für sich und ihre Familie bezahlen sollen.

Als der erste Lockdown vom März wieder aufgehoben wurde, öffneten die Theater, Kinos und Museen langsam wieder ihre Pforten, doch Hygiene-bedingte Einschränkungen drückten weiterhin die Anzahl der Besucher. In großen Städten wie Berlin, München und Frankfurt ist das kulturelle Angebot eng mit dem Tourismus verzahnt, welcher über den Sommer praktisch zum Stillstand kam.

Die Krise hat dazu geführt, dass in jedem Industriezweig eine große Anzahl von Arbeitern entweder den Arbeitsplatz ganz verloren, oder dass sie Kurzarbeit mit entsprechenden Lohneinbußen hatten. Einer Umfrage zufolge, gaben beinahe 64 Prozent der Deutschen an, in diesem Jahr weniger Geld für kulturelle Veranstaltungen auszugeben. Auch die Reisebranche und Gastronomie sind (beide mit 57 Prozent) ebenfalls stark betroffen.

Zu Beginn der Corona-Krise und nach dem Lockdown vom März hat die Koalitionsregierung praktisch unbegrenzte Gelder für Großkonzerne und Banken zur Verfügung gestellt. „Dafür holen wir die Bazooka raus“, wie sich Finanzminister Olaf Scholz (SPD) ausdrückte. Künstler und Selbstständige mussten sich dagegen mit einem Hungerlohn begnügen.

Abgesehen von einigen wenigen Hilfsprogrammen einzelner Bundesländer können sich Kulturschaffende lediglich für begrenzte Finanzunterstützung anmelden. Sie wird nach früheren Einkünften und Ausgaben bemessen, die minutiös nachzuweisen sind. Für den Lebensunterhalt an sich ist keinerlei Unterstützung vorgesehen. Vielen Kulturschaffenden wird schlicht ein adäquater Ausgleich für ihre Einkommenseinbußen verweigert.

Hier ein Beispiel für den Klassencharakter der Großzügigkeit der Bundesregierung: Im Frühjahr hat ein einzelner Konzern, die Lufthansa, allein neun Milliarden Euro von der Regierung erhalten. Zur selben Zeit wurde in den meisten Bundesländern praktisch nichts für die Künste und strauchelnde Künstler ausgegeben. In Berlin konnten selbstständige Künstler und Freiberufler eine Einmalzahlung von 5.000 Euro beantragen, und auch diese Summe wurde nicht allen gewährt.

In Petitionen und offenen Briefen machen die Künstler ihrem Unmut Luft. Die weltberühmten Violinistinnen Anne-Sophie Mutter und Lisa Batiashvili, die Dirigenten Christian Thielemann und Thomas Hengelbrock und die Opernsänger René Pape und Matthias Goerne fragen in einem offenen Brief, auch stellvertretend für weniger bekannte Künstler: „Sind wir nur beliebt, wenn die Zeiten rosig sind?“ Sie fordern, „Künstlerinnen und Künstler in den Stand zu setzen, die nächsten acht, neun, vielleicht auch zwölf Monate zu überbrücken, ohne in unverschuldetes und unverdientes Elend oder in die totale Depression abzugleiten“.

Nichts davon hat die Regierung umgesetzt, und heute, im aktuellen Teil-Lockdown, ist die Situation noch schlimmer. „Neustart Kultur“, das Rettungsprogramm der Bundesregierung, geht davon aus, dass die Kultur- und Unterhaltungsindustrie des Landes bis zu 28 Milliarden Euro an Einnahmen verlieren könnte. Für Kunst und Kultur sieht das Programm jedoch lediglich die völlig unzureichende Summe von einer Milliarde Euro vor. Ein Viertel davon soll in öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen fließen, weniger als eine halbe Milliarde soll für Kulturschaffende bereitgestellt werden.

Wie wenig dieses Programm individuelle Künstler erreicht, kann daran abgelesen werden, wie sich die Anzahl der Bewerbungen zu der Anzahl der verfügbaren Stipendien verhält. Im Bereich „bildender Künstler“ wird nur 675 von 5.602 Bewerbern eine Unterstützung gewährt. Laut Zweckbestimmung ist dieses Geld auch überhaupt nicht als „ökonomische Hilfe“ zu betrachten, sondern es wird vielmehr auf Grundlage von leistungsorientierten Kriterien einer vermeintlichen „künstlerischen Qualität“ vergeben, ganz unabhängig von der finanziellen Ausgangssituation der Bewerber. Daher ist es auch völlig ungeeignet, eine ausreichende Unterstützung für Künstler in finanzieller Schieflage zu gewähren.

Auch einzelne Bundesländer haben lauthals öffentlich Initiativen und Stipendien für Künstler angekündigt. Sie sind jedoch alle nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Nichts davon kann die Notlage der Kulturschaffenden wirklich lindern. Im August hat der Berliner Senat ein „Stipendien-Sonderprogramm“ für Berliner Künstler gestartet, um Musikern, Komponisten, Tänzern, Schauspielern, Kuratoren, Autoren und bildenden Künstlern zu helfen. Doch von über 8.000 Bewerbern konnten nicht einmal 2.000 ein Stipendium ergattern. Auch diese Vergabe richtete sich nicht nach der finanziellen Notlage der Bewerber.

Der „berufsverband bildender künstler*innen berlin“ (bbk) kommentierte, es gebe mehr Verlierer als Gewinner. Das „Neustart Kultur“-Programm ignoriere die Bedürfnisse der Künstler zugunsten der „Förderung einer Elite“.

Jeglicher Art von Einkommen beraubt, sind Zehntausende Künstler gezwungen, die kümmerlichen Hartz IV-Sätze zu beantragen. Statt Kulturschaffende angemessen zu entschädigen, will die SPD jetzt das Antragsprozedere für Hartz IV „vereinfachen“.

In einer Pressemitteilung vom 5. November unter dem Titel: „Die SPD stellt die HartzIV-Falle“ prangert die bbk berlin an, dass die SPD sich weigert, adäquate „Überbrückungshilfen“ zur Verfügung zu stellen, und stattdessen Hartz IV-Zahlungen befürwortet.

An den ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD, Carsten Schneider, gerichtet, heißt es in der Stellungnahme: „Nein, Herr Schneider, nein, Damen und Herren Sozialdemokraten, es geht nicht um weitere Verschlimmbesserungen des schon berüchtigten ‚vereinfachten Zugangs‘ zum Arbeitslosengeld II. Künstler*innen wie auch andere Soloselbständige, deren berufliche Existenz durch die Corona-Folgen bedroht ist, sind nicht arbeitslos. Sie sind erwerbstätig. Sie bedürfen auch keiner Leistungen der Sozialfürsorge.“

In der Pressemitteilung spricht sich die bbk für „unbürokratisch zugängliche Programme“ aus, „die es ihnen ermöglichen, ihre berufliche Existenz durch die Pandemiekrise hindurch aufrechtzuerhalten“, und sie fährt fort: „Was sie brauchen – und was die ganze Gesellschaft braucht – ist eine Gleichbehandlung von selbständiger mit unselbständiger Arbeit, wenn sie nicht nach der Corona-Krise in den Trümmern der Kulturlandschaft in Deutschland stehen will.“

Zusätzlich zu der Misere der selbstständigen Künstler und Kulturschaffenden ergreift die aktuelle Krise auch die führenden Theater und Opernhäuser des Landes. Der Direktor der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier berichtet, dass trotz sinkender Einkünfte viele Bürger ihre Besorgnis über die Situation der Kultur in Deutschland ausgedrückt hätten und ungeduldig die Rückkehr in die Theater, Kinos und Opernhäuser herbeisehnten.

In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit betonte Ostermeier auch die internationalen Auswirkungen der Krise auf die Wanderbühnen. Er erklärt: „Wir haben vor der Pandemie etwa zwanzig Länder pro Jahr angesteuert und damit rund zweieinhalb Millionen Euro eingespielt. Ich weiß von unseren Partnerbühnen in New York, London, Paris und im fernen Asien, dass die Pandemie massive finanzielle Verheerungen bei ihnen anrichtet, insbesondere in den USA und Großbritannien. Das National Theatre in London musste einem Drittel der Belegschaft kündigen, die Theater in New York werden vor Herbst 2021 ihre Türen wohl nicht öffnen. Die Brooklyn Academy of Music und das Armory Theatre sind in ihrer Existenz bedroht, weil auch deren Sponsoren mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben.“

Die große Mehrheit der Künstler und Kulturschaffenden in Deutschland akzeptieren die Notwendigkeit, schützende Lockdown-Maßnahmen zu ergreifen, um die Coronavirus-Pandemie einzudämmen. Zeitgleich wachsen jedoch Wut über und Proteste gegen die Regierung, die kläglich dabei versagt hat, das Kunstleben in Deutschland zu schützen.

Zahlreiche Ensembles und Opernhäuser, einschließlich der Münchner Philharmoniker, dem Bayrischen Rundfunkorchester, der bayrischen Staatsoper und der Staatskapelle Berlin, nahmen Anfang November an einem Video-Protest teil. „20 Minuten Stille“ (#sangundklanglos) unterstrich die sozialen Auswirkungen auf Orchester und Ensembles, deren Arbeit zum Stillstand verurteilt ist.

Einer der führenden Musiker des Landes, der Trompeter Till Brönner, veröffentlichte ein Video, in dem er seine Wut über das Versagen der Regierung, Künstler in der Not zu unterstützen, zum Ausdruck brachte. Auf die Frage, was ihn denn so wütend mache, antwortete Brönner: „Ich bin stinksauer darüber, dass ich seit Februar mit ansehen muss, wie sich die Regierung Deutschlands, die Regierung einer Kulturnation, offenbar überhaupt keine Gedanken über die Lebens- und Berufswirklichkeit von Künstlern macht.“

Ganz besonders verurteilt Brönner die Degradierung der Kunst und Kultur durch die Regierung zur „Freizeitwirtschaft“, die sich der „echten Wirtschaft“ unterordnen müsse. Was Brönner und andere Künstler beunruhigt und wütend macht, besteht darin, dass die Regierung die gegenwärtige Krise auszunutzen versucht, um die Gelder, die momentan noch für Kultur ausgegeben werden, drastisch zu kürzen, um an anderer Stelle die Finanzierung der Großkonzerne, der Banken und des Militärs auszuweiten.

In einer Perspektive, die den hervorragenden Pianisten Igor Levit gegen antisemitische Angriffe verteidigt, zitiert die WSWS aus dem berühmten Aufsatz „Kunst und Revolutiond“ von Leo Trotzki: „Die Kunst kann weder der Krise entkommen noch sich von ihr lossagen. Sie kann nicht nur sich selbst retten. Sie wird zwangsläufig verfallen – wie die griechische Kunst unter den Ruinen der Sklavenhalterkultur verfiel –, falls die gegenwärtige Gesellschaft sich nicht zu verändern vermag. Dieses Problem hat einen unbedingt revolutionären Charakter.“

Und wir betonten: „Diese Worte finden heute einen starken Widerhall, angesichts der Pandemie und der Krise des Weltkapitalismus, die das Überleben der großen Kulturinstitutionen sowie unzähliger Künstler bedroht, während die Bourgeoisie dabei ist, alle noch verbliebenen sozialen, demokratischen und kulturellen Rechte der Arbeiterklasse abzubauen.“

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