Nach über 9 Millionen Fällen und 250.000 Toten durch Covid-19 in diesem Jahr steht Europa am Rande einer Katastrophe. Das Wiederaufflammen der Pandemie hat deutlich gemacht, dass die Aufhebung der Lockdowns durch die europäischen Regierungen in diesem Frühjahr in katastrophaler Weise verfrüht war. Sie führte insbesondere in Europa zu einer weltweiten Rückkehr der Krankheit, was nun droht, die Gesundheitssysteme Europas völlig zu überfordern.
Jeden Tag verzeichnet Europa nun über 200.000 neue Fälle und 2.000 Todesfälle durch Covid-19. Die Zahlen verdoppeln sich etwa alle 10 Tage. Wenn dieser Trend nicht gestoppt wird, ist es nur eine Frage von Wochen, bis die Krankenhäuser in den am schlimmsten betroffenen Ländern überrannt und Massen von Menschen von medizinischer Behandlung abgeschnitten werden. Die Hälfte der französischen und über ein Viertel der spanischen Krankenhausbetten mit Beatmungseinheiten sind bereits mit schweren Covid-19-Fällen belegt. Länder wie Großbritannien, Italien, Polen und Belgien, die täglich über 20.000 Fälle verzeichnen, oder Deutschland mit rund 18.000 Fällen, liegen höchstens wenige Wochen zurück.
Europa steht ein Verlust an Menschenleben in einem Ausmaß bevor, wie es die Bevölkerung des Kontinents seit den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts nicht mehr gesehen hat. Mehrere Millionen Menschenleben stehen auf dem Spiel. Im März legte das deutsche Innenministerium der Regierung einen Bericht vor, in dem es heißt, dass über eine Million Menschen in Deutschland sterben würden, wenn es zu einer Durchseuchung der Bevölkerung kommt. Gestern Abend erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron in einer landesweiten Fernsehansprache, dass in Frankreich, wenn keine Sofortmaßnahmen ergriffen würden, 400.000 Menschen sterben könnten.
Vor dem Hintergrund der wachsenden Wut in der Bevölkerung und der zunehmenden Rufe wichtiger medizinischer Institutionen, dass die Menschen Schutz in ihren Wohnungen suchen, um eine Katastrophe abzuwenden, kündigten die europäischen Regierungen plötzlich an, dass sie Lockdowns entweder in Erwägung ziehen oder wieder einführen. Nachdem sowohl Irland als auch Wales in der letzten Woche Lockdowns angekündigt hatten, kündigte Macron gestern Abend eine vierwöchige Sperre in Frankreich an, die möglicherweise verlängert wird.
Bei diesen offiziellen Ankündigungen handelt es sich jedoch nicht um Anordnungen, zuhause zu bleiben, die es Jugendlichen und allen Beschäftigten in nicht essentiellen Wirtschaftszweigen ermöglichen, in ihren Wohnungen zu bleiben und Infektionen zu vermeiden. Bei der Verhängung neuer Sperren verfolgen die europäischen Regierungen dasselbe Ziel, das auch hinter der vorzeitigen Aufhebung der früheren Lockdowns stand: Jugendliche in der Schule und Arbeiter am Arbeitsplatz zu halten, um die Profite der Finanzaristokratie zu sichern.
Die Arbeiter müssen gewarnt werden: Die von den europäischen Regierungen vorgeschlagenen Maßnahmen werden die Pandemie nicht aufhalten und einen katastrophalen Verlust an Menschenleben nicht abwenden. Die Durchsetzung einer echten „Stay-at-Home“-Politik zum Schutz der Bevölkerung vor der globalen Pandemie erfordert eine unabhängige, internationale Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die europäischen Regierungen.
Sowohl Deutschland als auch Frankreich haben gestern Teilschließungen beschlossen und Kultureinrichtungen und Restaurants einen Monat lang geschlossen. In dem „Beschlusspapier“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel heißt es, dass „Schulen und Kindergärten verlässlich geöffnet bleiben“ sollen und „Industrie, Handwerk und Mittelstand sicheres Arbeiten möglichst umfassend ermöglich[t]“ werden soll. Macron sagte: „Die Schulen werden geöffnet bleiben, die Arbeit wird fortgesetzt, die Altersheime werden für Besuche geöffnet sein.“ Und so wird sich das Virus weiter ausbreiten.
Auch in Ländern in ganz Europa, in denen strengere Lockdown-Maßnahmen verabschiedet wurden, bleiben nicht lebenswichtige Industriezweige und die Schulen offen. Die irische Regierung kündigte einen „sechswöchigen Coronavirus-Lockdown“ an, durch den die Bewegungsfreiheit der Bürger auf einen Umkreis von fünf Kilometern um ihre Häuser beschränkt wird. Anders als im März bleiben jedoch Schulen, Baustellen und die Industrie, darunter auch Fleischverarbeitungsbetriebe, die Hotspots neuer Ausbrüche sind, weiter geöffnet.
Während die europäischen Regierungen vorgeben, dass sie die Absicht hätten, Lockdowns einzuführen, setzen sie damit im Wesentlichen ihre mörderische Strategie der „Herdenimmunität“ fort und lassen die weitere Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung geschehen.
Die Kontrolle der Gesundheitspolitik darf nicht in den Händen der Kapitalistenklasse bleiben. Die Kraft, die mobilisiert werden kann, um eine rationale Politik auf wissenschaftlicher Grundlage durchzusetzen, ist die europäische Arbeiterklasse, die unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie mit einer internationalen und sozialistischen Perspektive für die Enteignung des Reichtums kämpft, den sich die Finanzaristokratie unrechtmäßig angeeignet hat.
Es war die Arbeiterklasse, die im vergangenen Frühjahr die ersten Lockdowns erzwungen hat. Eine Welle spontaner Streiks, die Anfang März in italienischen Auto-, Stahl- und Maschinenbauwerken begann, breitete sich über Spanien, Frankreich und Großbritannien aus, unterbrach die Lieferketten und brachte die Industrie in ganz Europa zum Stillstand. Während sich Covid-19 in verheerender Weise in der Bevölkerung ausbreitete, änderten die europäischen Regierungen, geschockt von der Bewegung von unten, plötzlich ihren Kurs und führten Lockdowns ein.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass aus dieser Erfahrung politische Lehren gezogen werden. Während die Arbeiterklasse ihre Fähigkeit bewiesen hat, eine wissenschaftlich fundierte Politik durchzusetzen, hatte die Bewegung einen spontanen Charakter. Nachdem die Streiks beendet und die anfänglichen Lockdowns beschlossen waren, verblieben die Staatsmacht und die Kontrolle über die Banken und das Wirtschaftsleben weiter in den Händen der Finanzaristokratie und der verschiedenen Gewerkschaftsbürokratien. Dafür zahlt die Bevölkerung Europas nun einen bitteren Preis.
Die Maßnahmen der Regierungen zielten nicht darauf ab, die Bevölkerung zu schützen, sondern den Reichtum der Superreichen zu retten. Großbritannien verabschiedete ein Rettungspaket im Wert von 645 Milliarden Pfund, die Eurozone eine Bankenrettung in Höhe von 1,25 Billionen Euro und die Europäische Union ein Rettungspaket für die Wirtschaft im Wert von 750 Milliarden Euro. Abgesehen von einem winzigen Bruchteil, der für die Arbeitslosenversicherung und für Kredite an kleine Unternehmen ausgegeben wurde, flossen diese Summen in die Rettung der Bankkonten und Aktienportfolios der Superreichen und in die Umstrukturierung großer europäischer Unternehmen, um mit Amerika und China konkurrieren zu können.
In einer Kolumne in der französischen Tageszeitung Le Monde hieß es, dass der wachsende globale Kampf zwischen den kapitalistischen Großmächten um Märkte einer dauerhaften „Stay-at-home“-Politik im Weg steht und stattdessen Massensterben notwendig mache. „Neue Strategien für die Rückholung von Werken, vielfältigere Lieferketten und die Kontrolle über Schlüsseltechnologien, die in Europa und den USA bereits erforscht wurden, haben jetzt absolute Priorität“, schrieb Le Monde und fügte hinzu: „Deshalb trifft die Trump-Regierung die schreckliche Entscheidung, der Wirtschaft den Vorrang zu geben und einen Teil der Bevölkerung zu opfern, damit die Chinesen kein offenes Spielfeld vorfinden.“
Auch die europäische Bourgeoisie verfolgte diese Politik. In Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und pseudolinken Parteien wie Podemos in Spanien und der Linkspartei in Deutschland, die die EU-Rettungspakete unterstützten, begannen die Regierungen eine Kampagne, um die Bevölkerung an die Arbeitsplätze zurück zu zwingen. Keine Lüge – auch nicht, dass Kinder das Virus nicht verbreiten oder dass es kein Geld geben würde, um Arbeitern und kleinen Unternehmen zu helfen, eine längeren Lockdown zu überstehen – war zu dreist, als sie die Arbeiter zurück an die Arbeit prügelten. Sie sollten weiter Profite erwirtschaften, um eine Basis für die massiven Summen an öffentlicher Geldern zu schaffen, die den Superreichen übergeben wurden.
Die Eindämmung der Pandemie und die Durchsetzung einer wissenschaftlichen „Stay-at-home“-Politik hat sich im Rahmen des europäischen Kapitalismus als unmöglich erwiesen. Notwendig ist eine bewusste politische Mobilisierung der Arbeiterklasse mit einem sozialistischen Programmen gegen den Kapitalismus in ganz Europa. Eine solche Mobilisierung führt in einen Kampf, um die Macht der Finanzaristokratie zu zerschlagen und die öffentlichen Gelder, die den Superreichen in gewerkschaftlich unterstützten Rettungsaktionen unrechtmäßig zur Verfügung gestellt wurden, zu beschlagnahmen. Nur so können die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden, um die Gesundheitsversorgung massiv zu verbessern und Arbeiter und Kleinunternehmer bei der Bewältigung der Pandemie zu unterstützen.
Die europäischen Sektionen des IKVI rufen zum Aufbau unabhängiger Aktionskomitees für Sicherheit in Fabriken, Büros und Schulen auf, um internationale Generalstreiks gegen die kriminelle Pandemie-Politik der Bourgeoisie vorzubereiten. Dies kann ein erster Schritt bei der Enteignung der Finanzaristokratie und der sozialistischen Neuordnung der Gesellschaft auf einer rationalen, wissenschaftlichen Grundlage sein, um den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden. Notwendig ist der Sturz der Europäischen Union und der Aufbau der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.