Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder haben am Mittwoch in einer Videokonferenz einen Katalog von Maßnahmen beschlossen, die private Kontakte zwischen Personen einschränken. Sie treten am 2. November deutschlandweit in Kraft und sollen zunächst bis Ende November gelten.
Gastronomiebetriebe, Kosmetikstudios, Sporthallen, Schwimmbäder, Fitnesstudios, Theater, Kinos, Freizeitparks und ähnliche Einrichtungen werden vollständig geschlossen. In der Öffentlichkeit dürfen sich nur noch maximal zehn Personen aus zwei Haushalten treffen. Touristische Übernachtungen werden verboten, und von Reisen wird dringend abgeraten.
Nicht betroffen sind die Haupttreiber der Pandemie: Schulen, Kitas und Betriebe. Im Beschluss der Konferenz heißt es: „Auch in der Pandemie wollen wir in Industrie, Handwerk und Mittelstand sicheres Arbeiten möglichst umfassend ermöglichen… Schulen und Kindergärten bleiben offen.“
Die Regierungschefs reagieren mit dem Maßnahmen auf den dramatischen Anstieg der Infektionszahlen in Deutschland und ganz Europa.
Gestern meldete das Robert-Koch-Institut mit nahezu 15.000 Corona-Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden einen neuen Rekord. Damit hat sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Pandemie innerhalb einer Woche nahezu verdoppelt.
Laut DIVI-Intensivregister befanden sich am Mittwoch in Deutschland insgesamt 1569 Covid-19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, jeder zweite davon musste invasiv beatmet werden. Seit dem Vortag gab es 370 Neuaufnahmen, nur noch 7546 Intensivbetten sind bundesweit frei.
Sowohl bei der Zahl der Corona-Intensivpatienten als auch bei der Zahl der invasiv Beatmeten – von denen mehr als jeder Zweite im Verlauf der Behandlung stirbt – zeichnet sich ein exponentiell wachsender Verlauf ab. Von den insgesamt rund 30.000 Intensivbetten in Deutschland sind jedoch laut Professor Stefan Kluge vom UKE in Hamburg 20 bis 30 Prozent aufgrund des eklatanten Mangels an geschultem Fachpersonal nicht bepflegbar. Dies sei bereits vor der Pandemie der Fall gewesen, erklärte er gegenüber dem NDR.
„Wir Intensivmediziner befürchten, bei weiter steigenden Infektionszahlen die intensivmedizinische Versorgung in Deutschland bald nicht mehr in vollem Umfang gewährleisten zu können,“ warnte DIVI-Präsident Uwe Janssens gestern in einem eindringlichen YouTube-Video. Der „überproportionale Anstieg der Corona-Infektionen in Deutschland und ganz Europa“ sowie „die sich füllenden Betten“ bereiteten ihm und seinen Kollegen „große Sorgen“.
Die Zahlen lassen keinen Zweifel daran, dass Betriebe, Schulen und Kitas umgehend flächendeckend geschlossen werden müssen. Falls dies nicht geschieht, droht in den nächsten Wochen und Monaten eine exponentielle Ausbreitung der Pandemie und eine Überlastung der Krankenhäuser mit Tausenden oder Zehntausenden Toten. Doch Politik und Wirtschaft haben sich verschworen, einen Shutdown unter allen Umständen zu vermeiden.
Bereits am Tag vor der Vidokonferenz hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder erklärt, Schulen und Kitas sollten – sofern überhaupt „nötig“ – zuletzt geschlossen werden und als Erstes wieder öffnen: „Das Prinzip muss sein: Unsere Kinder müssen betreut werden.“ Von Pädagogen und Schulpersonal verlangte Söder „maximale Flexbilität“: „Schule und Kita hat ja auch den Zweck, die Wirtschaft laufen zu lassen.“
„Übersetzt bedeuten diese Sätze doch: Die Bildung und die Sozialkontakte der Kinder sind uns eigentlich scheißegal“, kommentierte ein User namens Georg auf dem Lehrerportal News4Teachers. „Sie müssen aber verwahrt werden, damit die Eltern arbeiten gehen können. Die Interessen der Lobbyisten aus der Wirtschaft sind nämlich so wichtig, dass ein paar Menschenleben von Lehrern, Schülern und Eltern dagegen zu einem Nichts verblassen. Tote durch Corona-Infektionen aus der Schule? Macht nix. (…) Die Rendite muss gesichert werden. Menschen, die Angst haben, sich und ihre Familien krank zu machen? Egal, Mercedes und VW müssen auf ihre Verkaufszahlen kommen. Das ist das Weltbild unserer Politiker.“
Diese arbeiterfeindliche und menschenverachtende Haltung ist unter allen Bundestagsparteien Konsens. Der Videokonferenz vom Mittwoch war eine intensive Kampagne vorausgegangen, einen Lockdown unter allen Umständen zu verhindern, auch wenn dies unzählige Menschenleben kostet.
Als Führer der Anti-Lockdown-Koalition trat bezeichnenderweise der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei in Erscheinung. Im Vorfeld des Gipfels im Kanzleramt schloss Ramelow eine Zustimmung zu einem möglichen Lockdown-Beschluss kategorisch aus und beschwerte sich über eine „Panik wegen der Corona-Pandemie“.
Dem vollkommen ungenügenden Maßnahmenkatalog der Regierungschefs stimmte er schließlich zu, allerdings mit dem Vorbehalt, dass Thüringen nur „verhältnismäßige“ und „geeignete“ Maßnahmen mitträgt und der thüringische Landtag, wo die AfD die zweitgrößte Fraktion stellt, ihnen zustimmt.
Der Standpunkt der Linkspartei unterscheidet sich nicht von dem der rechtesten Kräfte in Wirtschaft, Politik und Medien. So trat die „Chefökonomin“ der Zeitung Die Welt, Dorothea Siems, in einem Kommentar dafür ein, statt der Pandemie „vor allem die Panik bekämpfen“. Ein „neuerlicher Lockdown“ sei „keine sinnvolle Option“. Die Wirtschaft spüre schon die Folgen der zunehmenden Panik, die Konjunktur breche wieder ein, klagte Siems. Dies liege „weniger an den steigenden Corona-Zahlen als an der wieder verbreiteten These, dass Gesundheit allemal wichtiger sei als die Ökonomie“.
Siems weiß, dass das Töten der Schwächsten im Interesse des Profits wegen der Verbrechen der Nazis auf heftigen Widerstand stößt: „Gerade in Deutschland gelten wirtschaftliche Argumente moralisch eher als verwerflich“, schreibt sie. „Die Wirtschaft noch einmal lahmzulegen“ sei jedoch „keine sinnvolle Option. … Durch diese Pandemie kommt kein Land, wenn es ökonomisch tot ist.“
Auch einige Akademiker und Vernbandsfunktionäre plädieren dafür, mehr Menschen sterben zu lassen. So erklärte der Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar von der Universität Hamburg am Dienstag gegenüber dem Deutschlandfunk, die Politik müsse „mehr Risiken (eingehen), um die Wirtschaft zu stärken“. Mit Blick darauf, „wie nervös Anlegerinnen und Anleger an den Börsen reagieren“, müssten „auch höhere Infektionszahlen in Kauf genommen werden“.
Auf die Frage des Senders, ob sich die Bevölkerung „daran gewöhnen“ müsse, „dass es einfach mehr Neuinfektionen gibt“ und „dass die Intensivstationen noch einmal deutlich stärker belegt werden“, antwortete Straubhaar: „Ganz genau! Damit werden wir leben müssen.“ Ebenso sei es nötig, sich „an diese Gleichung (zu) gewöhnen, dass wir höhere Infektionszahlen zulassen, damit die deutsche Wirtschaft weiter überleben kann. … Ich weiß, dass das unbeliebt ist in Deutschland, aber ich denke, das muss man sich doch ehrlich eingestehen.“
Die Ablehnung eines Lockdowns und die zunehmende Weigerung, breite Schichten der Bevölkerung auf eine bestehende Infektion hin zu untersuchen, zeigen, dass Politik und Wirtschaft bereit sind, im Interesse des Profits über Leichen zu gehen.
Wissenschaftlichen Studien zufolge haben die ursprünglichen Lockdown-Maßnahmen im Frühjahr, die unter einem überwältigenden Druck der Öffentlichkeit verhängt wurden, in elf europäischen Ländern insgesamt 3,1 Millionen Menschenleben gerettet. Den Einfluss von Schulschließungen auf die Reduktion des kritischen R-Wertes beziffert eine aktuelle Studie von Wissenschaftlern der Universität Oxford auf 41 Prozent, während ein Papier österreichischer und französischer Forscher feststellt, dass „Schulschließungen in den Vereinigten Staaten die Covid-19-Inzidenz und Moratlität um rund 60% reduziert“ haben.