Dies ist der dritte Artikel einer mehrteiligen Serie. Der erste Teil wurde am 24. August und der zweite Teil am 25. August 2020 veröffentlicht.
Nachdem Trotzki das Manifest für die Notkonferenz der Vierten Internationale fertiggestellt hatte, wurde sein strikter Arbeitsplan von einem Ereignis unterbrochen, das er lange vorhergesehen hatte, auch wenn der genaue Zeitpunkt nicht absehbar war. In den frühen Morgenstunden des 24. Mai 1940 wurde der Führer der Vierten Internationale von einem bewaffneten Stoßtrupp angegriffen. Die Attentäter unter der Führung des mexikanischen Malers und fanatischen Stalinisten David Alfaro Siqueiros waren mit Thompson-Maschinenpistolen im Kaliber 45, automatischen Gewehren im Kaliber 30 und Brandbomben ausgerüstet.
Die Angreifer mussten Trotzkis Villa an der Avenida Viena nicht stürmen. Der diensthabende Wachmann Robert Sheldon Harte schloss das Eisentor auf und ließ sie eintreten. Sie waren offensichtlich mit der gesamten Anlage vertraut. Eine Gruppe ging zu dem Teil des Hauses, in dem sich das Schlafzimmer von Trotzki und seiner Frau Natalja sowie das ihres Enkels Sewa befand. Eine andere Gruppe bewegte sich rasch zum gegenüberliegenden Ende des Hofs, außerhalb des Bereichs, in dem Trotzkis Wachen untergebracht waren. Während die zweite Gruppe das Feuer in Richtung der Räumlichkeiten der Wachen eröffnete und sie so effektiv festsetzte und handlungsunfähig machte, betrat das erste Schießkommando Trotzkis Schlafzimmer.
Der Raum war dunkel, und die Attentäter feuerten wild in alle Richtungen. Trotzki hatte an dem Abend eine Schlaftablette genommen und war noch etwas benommen, als er von den Schüssen geweckt wurde. Natalja reagierte schneller und rettete Trotzki das Leben. Er schilderte den Angriff in seinem Aufsatz „Stalin will meinen Tod“, den er in der ersten Juniwoche 1940 verfasste:
Meine Frau war bereits aus ihrem Bett gesprungen. Die Schießerei ging unaufhörlich weiter. Meine Frau erzählte mir später, dass sie mir auf den Boden half und mich in die Lücke zwischen Bett und Wand schob. Das stimmte tatsächlich. Sie war an der Wand stehen geblieben, als wolle sie mich mit ihrem Körper schützen. Aber durch Flüstern und Gesten überzeugte ich sie, sich flach auf den Boden zu legen. Die Schüsse kamen von allen Seiten, es war schwer zu sagen, woher genau. Irgendwann konnte meine Frau, wie sie mir später erzählte, eindeutig Feuerfunken von einer Waffe erkennen; also wurde direkt im Zimmer geschossen, obwohl wir niemanden sehen konnten. Mein Eindruck ist, dass insgesamt etwa 200 Schüsse abgegeben wurden, von denen etwa 100 direkt neben uns fielen. Glassplitter der Fensterscheiben und Späne von den Wänden flogen in alle Richtungen. Etwas später hatte ich das Gefühl, dass mein rechtes Bein an zwei Stellen leicht verwundet worden war. [1]
Als die Attentäter den Raum verließen, hörte Trotzki seinen 14-jährigen Enkel Sewa schreien. Trotzki erinnerte sich an diesen schrecklichen Moment:
Die Stimme des Kindes in der Dunkelheit unter den Schüssen bleibt die tragischste Erinnerung an diese Nacht. Der Junge warf sich unters Bett, nachdem der erste Schuss quer über sein Bett geflogen war, wie Spuren an der Tür und der Wand belegen. Einer der Angreifer schoss anscheinend in Panik in das Bett, die Kugel durchschlug die Matratze, traf unseren Enkel in den großen Zeh und blieb im Boden stecken. Die Attentäter warfen zwei Brandbomben und verließen das Schlafzimmer unseres Enkels. Er schrie „Großvater!“ und rannte ihnen in den Innenhof nach, wobei er eine Blutspur hinterließ. Im Kugelhagel stürmte er in das Zimmer einer der Wachen. [2]
Dass er selbst das Attentat überlebte, hielt Trotzki für „einen glücklichen Zufall“.
Die Betten standen im Kreuzfeuer. Vielleicht hatten die Angreifer Angst, sich gegenseitig zu treffen, und schossen instinktiv höher oder tiefer, als sie es hätten tun sollen. Aber das ist nur eine psychologische Vermutung. Es ist auch möglich, dass meine Frau und ich dem glücklichen Zufall zu Hilfe kamen, indem wir nicht den Kopf verloren, nicht durch den Raum rannten, nicht schrien oder um Hilfe riefen, da es hoffnungslos war, nicht schossen, da es sinnlos war, sondern still am Boden liegen blieben und uns tot stellten. [3]
Das Schießkommando machte sich davon – ohne zu wissen, dass die Mission gescheitert war. Trotzki verließ sein Zimmer und betrat den Hof, der noch im Rauch des Kugelhagels lag. Er suchte nach den Wachmännern, die immer noch in ihren Zimmern waren. Keiner von ihnen hatte gelernt, auf einen solchen Angriff zu reagieren. Ihre vereinzelten Bemühungen, das Feuer zu erwidern, blieben wirkungslos. Harold Robins’ Maschinengewehr blockierte schon beim ersten Schuss. Wie er später erfuhr, war die Waffe mit der falschen Munition geladen. Robins erinnerte sich, dass Trotzki bemerkenswert ruhig blieb. Der ehemalige Oberbefehlshaber der Roten Armee, der während des russischen Bürgerkriegs zwischen 1918 und 1921 zahlreiche grausame Schlachten erlebt hatte, war mit Gewehrfeuer vertraut. Aber Robins spürte auch, dass Trotzki über die völlig wirkungslose Reaktion seiner Wachen enttäuscht war. [4]
Die Wachen stellten fest, dass Wachposten der mexikanischen Polizei vor der Villa von den Attentätern gefesselt worden waren. Auf Trotzkis Anweisung wurden sie sofort losgebunden. Noch mehr beunruhigte sie, dass der Wachmann Robert Sheldon Harte mit den Attentätern verschwunden war, was den Verdacht weckte, dass er an der Verschwörung beteiligt gewesen sein könnte. Da es keine eindeutigen Beweise dafür gab, hielt Trotzki daran fest, dass er unschuldig war – eine Einschätzung, die sich zu bestätigen schien, als einige Wochen später Hartes Leiche entdeckt wurde.
Aus nachvollziehbaren Gründen zögerte Trotzki, unmittelbar nach dem Angriff Vorwürfe gegen Harte zu erheben. Aber er schloss die Möglichkeit nicht aus, dass Harte mit der GPU zusammengearbeitet hatte. „Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen“, schrieb Trotzki, „ist es natürlich unmöglich, kategorisch auszuschließen, dass sich ein isolierter Agent der GPU in die Wache einschleichen könnte.“ [5] Hartes Verschwinden nähre zwar den Verdacht, so Trotzki. Aber angesichts der dünnen Beweislage war er nicht bereit, Harte zu beschuldigen. Er schloss jedoch nicht aus, dass Hartes Rolle neu bewertet werden müsste, wenn weitere Informationen auftauchten. Unabhängig davon, wie das Urteil letztlich ausfallen würde, sagte Trotzki: „Wenn entgegen all meiner Vermutungen eine solche Beteiligung bestätigt werden sollte, dann würde dies nichts Wesentliches am Charakter des Attentats ändern. Mit oder ohne Hilfe einer der Wachmänner organisierte die GPU eine Verschwörung, um mich zu töten und meine Archive zu verbrennen.“ [6]
Trotzki vertraute der SWP bei der Auswahl der Wachmänner. „Sie wurden alle von meinen erfahrenen und alten Freunden hierhergeschickt, nachdem man sie sorgfältig ausgewählt hatte.“ [7] Er wusste aber nicht, dass die Socialist Workers Party keine ernsthafte Überprüfung der Personen vornahm, die sie aus den Vereinigten Staaten nach Coyoacán schickte. Der 25-jährige Harte aus New York war in der SWP noch ein eher unbeschriebenes Blatt. Nach dem Verschwinden seines Sohns flog sein Vater Jesse Harte, ein wohlhabender Geschäftsmann und Freund des damaligen FBI-Direktors J. Edgar Hoover, nach Mexiko. Bei Treffen mit der mexikanischen Polizei teilte er mit, dass in der New Yorker Wohnung seines Sohns ein Foto von Stalin gefunden worden sei. Als diese Information etwas später an die Presse durchsickerte, schickte Trotzki Jesse Harte ein Telegramm mit der Bitte, den Bericht zu bestätigen. Harte antwortete mit einem ebenso klaren wie unaufrichtigen Dementi: „ZWEIFELSFREI FESTGESTELLT, DASS KEIN BILD STALINS IN SHELDONS ZIMMER IST.“ [8]
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale leitete 1975 eine Untersuchung zum Mord an Trotzki ein und prüfte alle Beweise hinsichtlich der Rolle von Sheldon Harte bei dem Angriff vom 24. Mai 1940. Das IKVI kam zu dem Schluss, dass Harte tatsächlich an der Verschwörung beteiligt war. Die Socialist Workers Party (SWP) unter der Führung von Joseph Hansen verurteilte dieses Ergebnis und erhielt dabei Unterstützung von ihren Verbündeten in anti-trotzkistischen pablistischen Organisationen auf der ganzen Welt, die die Aufdeckung stalinistischer und anderer Agenten innerhalb der Vierten Internationale erbittert bekämpften. Sie denunzierten die Untersuchung zu Trotzkis Ermordung als „Agentenhatz“. Das IKVI wurde in einer öffentlichen Erklärung der SWP und ihrer internationalen Verbündeten beschuldigt, „das Grab von Robert Sheldon Harte zu schänden“. [9]
Aufgrund der Öffnung der GPU-Archive nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 konnte endgültig festgestellt werden, dass Harte ein stalinistischer Agent war und beim Attentat auf Trotzki vom 24. Mai eine entscheidende Rolle spielte. Einige Tage nach dem Mordversuch belohnte die GPU Harte für seinen Verrat, indem sie ihn ermordete. Siqueiros und seine Komplizen verachteten den jungen Harte und hielten ihn für unzuverlässig. Sie befürchteten, dass er reden könnte, wenn er von der Polizei verhört werden würde. Während Harte schlief, schossen sie ihm eine Kugel in den Kopf. Sie warfen seine Leiche in eine Grube und bedeckten sie mit Kalk. Hartes verweste Überreste wurden einige Wochen später entdeckt.
Obwohl offensichtlich war, dass Stalin den Anschlag auf Trotzki angeordnet hatte, initiierten die Helfershelfer der GPU, die in der Kommunistischen Partei Mexikos operierten, zusammen mit den Gewerkschaften und Medien eine Kampagne, um die öffentliche Meinung in die Irre zu führen. Sie behaupteten, das Attentat vom 24. Mai sei in Wirklichkeit von Trotzki selbst organisiert worden – ein „Selbstangriff“. Trotzki widerlegte die stalinistischen Lügen in zwei vernichtenden Artikeln: „Stalin will meinen Tod“ und „Die Komintern und die GPU“. Letzteren vollendete er erst am 17. August 1940, nur drei Tage vor dem zweiten und erfolgreichen Anschlag durch Ramón Mercader.
In „Die Komintern und die GPU“ entlarvte Trotzki die absurde Behauptung, er hätte den Angriff vom 24. Mai selbst orchestriert oder orchestrieren lassen.
Welche Ziele könnte ich verfolgen, wenn ich mich auf ein so monströses, widerwärtiges und gefährliches Unternehmen einlasse? Niemand hat es bis heute erklärt. Es wird angedeutet, dass ich Stalin und seine GPU anschwärzen wollte. Aber wieso sollte ein weiterer Anschlag überhaupt etwas an dem Ruf eines Mannes ändern, der die gesamte alte Generation der Bolschewistischen Partei ausgelöscht hat? Es wird gesagt, dass ich die Existenz der „Fünften Kolonne“ beweisen will. Warum? Wozu? Außerdem sind GPU-Agenten völlig ausreichend, um einen Angriff durchzuführen; es besteht keine Notwendigkeit für die mysteriöse „Fünfte Kolonne“. Es wird gesagt, dass ich der mexikanischen Regierung Schwierigkeiten bereiten wollte. Welche möglichen Motive könnte ich haben, der einzigen Regierung, die mir Gastfreundschaft gewährt hat, Schwierigkeiten zu bereiten? Es wird gesagt, dass ich einen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko provozieren wollte. Aber diese Erklärung gehört gänzlich in den Bereich der Wahnvorstellungen. Um einen solchen Krieg zu provozieren, wäre es auf jeden Fall zweckmäßiger gewesen, einen Angriff auf einen amerikanischen Botschafter oder auf einen Ölmagnaten zu organisieren, statt auf einen revolutionären Bolschewiken, der den imperialistischen Kreisen fremd und verhasst ist.
Wenn Stalin einen Attentatsversuch auf mich organisiert, ist der Sinn seines Handelns klar: Er will seinen Feind Nummer eins vernichten. Stalin geht dabei keine Risiken ein; er handelt auf große Distanz. Wenn ich hingegen einen „Selbstangriff“ organisiere, muss ich für ein solches Unterfangen selbst die Verantwortung übernehmen. Ich riskiere mein eigenes Schicksal, das Schicksal meiner Familie, meinen politischen Ruf und den Ruf der Bewegung, der ich diene. Was würde ich daraus gewinnen?
Aber selbst wenn man das Unmögliche zuließe, wenn ich also – nachdem ich meinem ganzen Lebensinhalt entsagt und den gesunden Menschenverstand und meine eigenen Lebensinteressen mit Füßen getreten hätte – um eines unbekannten Ziels willen einen „Selbstangriff“ organisiert hätte, dann bleibt doch noch die folgende Frage: Wo und wie habe ich zwanzig Vollstrecker bekommen? Wie habe ich ihnen Polizeiuniformen verschafft? Wie habe ich sie bewaffnet? Wie habe ich sie mit allen notwendigen Dingen ausgestattet? usw. usw. Mit anderen Worten: Wie soll einem Mann, der fast völlig isoliert von der Außenwelt lebt, ein solches Unternehmen gelingen, das nur ein mächtiger Apparat vollführen kann? Ich muss gestehen, dass es mir unangenehm ist, einen Gedanken zu kritisieren, der unter jeder Kritik ist. [10]
Mit seiner Analyse der politischen Vorbereitung des GPU-Attentats stellte Trotzki erneut seinen Scharfsinn unter Beweis. Er machte auf den außerordentlichen Kongress der Kommunistischen Partei Mexikos aufmerksam, der im März 1940 abgehalten wurde. Das Hauptthema, das den Kongress beherrschte, war die Notwendigkeit, den Trotzkismus auszurotten. Es wurde beschlossen, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Mexikos, Hernán Laborde, und den führenden Gewerkschafter Valentín Campa auszuschließen. Trotzki vermutete, dass damit Führungspersonen entfernt werden sollten, die zögerten, die Partei in ein politisch gefährliches und unpopuläres Attentatskomplott zu verwickeln. Trotzki betonte, dass diese Säuberung eindeutig von außen initiiert sein musste, d. h. von der GPU auf Anweisung des Kremlregimes. Um diese brutalen organisatorischen Veränderungen auf dem Kongress durchzusetzen, waren mehrere Monate Vorbereitung notwendig, so Trotzki. Deshalb ging er davon aus, dass der Befehl aus Moskau für den Attentatsversuch im November oder Dezember 1939 gekommen sein musste.
Trotzkis Analyse der langwierigen Vorbereitungen für den Anschlag am 24. Mai 1940 und der Bedeutung des außerordentlichen Kongresses der mexikanischen KP wurde durch Forschungen untermauert, die zeigen, dass die Planung für Trotzkis Ermordung im Frühjahr 1939 begann. Laborde wurde von einem Agenten der GPU angesprochen, der unter dem Deckmantel der Komintern operierte. Die Aufgabe des Agenten „bestand darin, das Sekretariat der mexikanischen KP um Zusammenarbeit bei den Plänen zur Eliminierung Trotzkis zu ersuchen. Laborde beriet sich mutmaßlich mit Campa und Rafael Carrillo [ein weiteres führendes Mitglied der mexikanischen KP] und kam zu dem Schluss, dass ein solcher Schritt nicht nur die Beziehungen der Partei zur Regierung von Cárdenas gefährden würde, sondern auch in jedem Fall unnötig wäre, da Trotzki eine verbrauchte Kraft sei“.[11]
Die GPU stimmte in der Frage von Trotzkis politischem Einfluss nicht mit der Einschätzung von Laborde und Campa überein. Im Mai 1939 reisten Laborde, Campa und Carrillo nach New York, um bei Earl Browder, dem Führer der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten (CPUSA), Unterstützung für ihre Ablehnung des Anschlags zu suchen. Sie waren nicht erfolgreich. Die Entscheidung, einen außerordentlichen Kongress der mexikanischen KP einzuberufen, wurde auf dem Plenum der Nationalkomitees im September 1939 getroffen. Dem Historiker Barry Carr zufolge waren die CPUSA und die Komintern „besorgt über die Unzulänglichkeiten der Anti-Trotzki-Kampagne der mexikanischen Partei und über ihre angeblich oberflächliche Verteidigung der sowjetischen Außenpolitik, insbesondere der Entscheidung, im November 1939 militärisch in Finnland zu intervenieren“. [12]
Der erste öffentliche Aufruf für den außerordentlichen Parteitag erschien im November. Komintern-Delegierte aus Europa, eigentlich Agenten der GPU, kamen nach Mexiko, darunter Vittorio Codovilla, der in Spanien stationiert war. Carr schreibt, dass die Gesandten der Komintern mit den Vorbereitungen und der Tagesordnung des geplanten Kongresses unzufrieden waren.
Codovilla schlug eine komplette Neufassung der Tagesordnung vor – mit Fokus auf einen wesentlichen Punkt, „um die Aufmerksamkeit der Delegierten nicht abzulenken“. Er fuhr fort, den Aufbau der überarbeiteten Tagesordnung zu umreißen, darunter den neuen Punkt über den Kampf gegen die Volksfeinde (wobei das Hauptthema der Kampf gegen den Trotzkismus war...).
Die Gesandten beschränkten ihre Arbeit nicht auf Vorschläge zu den vorläufigen Dokumenten des außerordentlichen Kongresses. Sie drängten die Partei auch dazu, vor dem Parteitag einen „Hausputz“ zu machen und Trotzkisten auszuschließen. [...] Für die letztere Aufgabe wurden die Dienste der exilierten spanischen Kommunisten angeboten. [13]
Stalin sah in Trotzki die größte politische Bedrohung für sein Regime. In der Entscheidung, Trotzki 1929 aus der Sowjetunion auszuweisen, erkannte er seinen größten politischen Fehler. Stalin hatte nicht damit gerechnet, dass Trotzki, isoliert in einem fremden Land, in der Lage sein würde, eine ernsthafte Opposition gegen den Kreml aufzubauen. Aber Stalin hatte sich geirrt. Wie Trotzki bemerkte: „Die Ereignisse haben jedoch gezeigt, dass es möglich ist, am politischen Leben teilzunehmen, ohne über einen Apparat oder materielle Ressourcen zu verfügen.“ [14] Stalins Biograf Dmitri Wolkogonow, der Zugang zu dessen Privatarchiv hatte, schrieb, dass der Diktator von Trotzkis „Geist“ besessen gewesen sei.
Stalin erinnerte sich an Trotzki mit Ingrimm. Während er den Reden Molotows, Kaganowitschs, Chrustschows oder Schdanows [Mitglieder des stalinistischen Politbüros] zuhörte, wird er gedacht haben, wie viel klüger war doch Trotzki als diese Funktionäre! Keiner seiner Mitarbeiter war mit Trotzki zu vergleichen. Weder als Organisator noch als Redner, noch als Publizist. Und Trotzki war klüger und talentierter als er selbst. Im Kreis seiner Vertrauten hat er einmal gesagt, es sei der größte Fehler seines Lebens gewesen Trotzki aus der Sowjetunion herausgelassen zu haben. [...]
Besonders schmerzhaft traf Stalin, dass Trotzki beanspruchte, auch im Namen jener zu sprechen, die in der Sowjetunion zum Schweigen gebracht worden waren. Wenn Stalin die Übersetzungen von Trotzkis Büchern las, [wie Stalins Schule der Fälschung, Ein offener Brief an die Mitglieder der Bolschewistischen Partei oder Der stalinistische Thermidor], muss ihn der Zorn ergriffen haben. [15]
Stalins Hass auf Trotzki war nicht nur und auch nicht vordergründig von persönlichen Motiven getrieben. Seine bis zum Mordrausch gesteigerte Wut brachte in konzentrierter Form die Feindschaft zum Ausdruck, die die herrschende Bürokratie als privilegierte Kaste gegen ihren unerbittlichsten Gegner empfand. Trotzki schrieb in „Die Komintern und die GPU“:
Der Hass, den die Moskauer Oligarchie gegen mich hegt, entspringt ihrer tief verwurzelten Überzeugung, dass ich sie „verraten“ habe. Dieser Vorwurf hat eine eigene historische Bedeutung. Die sowjetische Bürokratie hat Stalin nicht sofort und ohne Zögern an die Spitze gehoben. Bis 1924 war Stalin selbst in den breiteren Parteikreisen, geschweige denn in der Bevölkerung, unbekannt, und wie ich bereits sagte, erfreute er sich in den Reihen der Bürokratie keiner Beliebtheit. Die neue herrschende Schicht hatte die Hoffnung, dass ich die Verteidigung ihrer Privilegien übernehmen würde. Es wurden nicht wenige Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Erst nachdem die Bürokratie davon überzeugt war, dass ich nicht ihre Interessen gegen die Arbeiter verteidigen wollte, sondern im Gegenteil die Interessen der Arbeiter gegen die neue Aristokratie, wurde die vollständige Wende zu Stalin vollzogen und ich zum „Verräter“ erklärt. Dieser Beiname aus dem Mund der privilegierten Kaste ist ein Beweis für meine Loyalität gegenüber der Sache der Arbeiterklasse. Es ist kein Zufall, dass 90 Prozent jener Revolutionäre, die die Bolschewistische Partei aufgebaut, die Oktoberrevolution getragen, den Sowjetstaat und die Rote Armee geschaffen und den Bürgerkrieg geführt haben, in den letzten zwölf Jahren als „Verräter“ vernichtet wurden. Andererseits hat der stalinistische Apparat in dieser Zeit Menschen in seine Reihen aufgenommen, die in den Jahren der Revolution in ihrer überwältigenden Mehrheit auf der anderen Seite der Barrikaden gestanden hatten. [16]
Die politische Degeneration und der moralische Verfall beschränkten sich nicht auf die sowjetische Kommunistische Partei. Derselbe schleichende Prozess war in der gesamten Komintern zu beobachten, deren Führungspersonal in jedem Land entsprechend den politischen und ideologischen Erfordernissen des Kremls ausgewechselt worden war. Die nationalen Parteiführer wurden nicht auf Grundlage ihrer revolutionären Unnachgiebigkeit, ihrer politischen Klugheit und ihrer persönlichen Integrität ausgewählt. Die Personen, die der Kreml in die Führung der nationalen Parteien holte, zeichneten sich vielmehr durch Rückgratlosigkeit, Opportunismus und Befehlsgehorsam aus. Trotzki war mit dem von Stalin bevorzugten Menschentypus sehr vertraut:
Die Führer der Komintern-Sektionen, die keinen unabhängigen Standpunkt, keine unabhängigen Ideen, keinen unabhängigen Einfluss haben, sind sich voll und ganz bewusst, dass ihre Position wie auch ihr Ruf mit dem des Kremls steht und fällt. In materieller Hinsicht leben sie, wie sich später zeigen wird, von den Almosen der GPU. Der Kampf um ihre Existenz führt daher in eine tollwütige Verteidigung des Kremls gegen jegliche Opposition. Sie können nicht umhin, die Richtigkeit und damit die Gefahr der Kritik zu spüren, die von den sogenannten Trotzkisten kommt. Aber das verdoppelt nur ihren Hass auf mich und meine Mitdenker. Wie ihre Herren im Kreml sind die Führer der kommunistischen Parteien nicht in der Lage, die wahren Ideen der Vierten Internationale zu kritisieren, sondern müssen auf Fälschungen und Komplotte zurückgreifen, die in unbegrenzter Menge aus Moskau exportiert werden. Das Verhalten der mexikanischen Stalinisten ist keineswegs „national“; sie übersetzen lediglich die Politik Stalins und die Befehle der GPU ins Spanische. [17]
Trotzki dokumentierte die systematische Korruption der Komintern-Sektionen, die von der GPU gefördert wurde. Bestechungsgelder, untermauert durch Drohungen, ersetzten die politische Auseinandersetzung und dienten als Mittel zur Umsetzung der Politik, die der Kreml forderte.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verstärkte Stalins Furcht vor Trotzki. Auch wenn Stalin verzweifelt darauf hoffte, dass Hitler sich an den Nichtangriffspakt halten und nicht in die Sowjetunion einmarschieren würde, war ihm klar, dass die Gefahr einer deutschen Invasion sehr real war – trotz aller Zugeständnisse, die er Hitler gegenüber gemacht hatte. Wenn es dazu kommen sollte, wäre Stalins Regime aufgrund der katastrophalen Folgen seiner Politik völlig diskreditiert. In einer blutigen Säuberung des Militärs in den Jahren 1937/38 hatte Stalin die erfahrensten und fähigsten Generäle der Roten Armee und etwa drei Viertel des Offizierskorps physisch vernichtet. Erst vor rund 20 Jahren hatten die Niederlagen der zaristischen Armee im Ersten Weltkrieg wesentlich zum Ausbruch der Russischen Revolution beigetragen. Der Zar, der den Oberbefehl über das Militär übernommen hatte, wurde von der Macht gefegt. Bestand also nicht die Möglichkeit, dass ein neuer Krieg zu einem Aufstand innerhalb der Sowjetunion führen würde, insbesondere, wenn dem Kriegsausbruch Niederlagen folgten, die der Inkompetenz des Regimes zuzurechnen wären? Stalin war sicherlich mit dem Essay des berühmten Schriftstellers und Revolutionärs Victor Serge aus dem Jahr 1937 vertraut. Trotz aller Verfolgungen, schrieb Serge, habe das sowjetische Volk den „Alten“ – wie Trotzki von vielen seiner Anhänger liebevoll genannt wurde – nicht vergessen.
Solange der Alte lebt, ist die triumphierende Bürokratie nicht sicher. Ein Kopf der Oktoberrevolution bleibt – und das ist der Kopf eines wahren Führers. Beim ersten Schock werden sich die Massen ihm zuwenden. Im dritten Monat eines Kriegs, wenn die Schwierigkeiten beginnen, wird niemand verhindern können, dass sich die ganze Nation dem „Organisator des Sieges“ zuwendet. [18]
Es gab noch einen weiteren Grund, warum Stalin Trotzkis Tod wollte. Der Kreml-Diktator wusste, dass Trotzki intensiv an einer Biografie Stalins arbeitete. Eines der Ziele der Razzia vom 24. Mai war die Zerstörung von Trotzkis Archiven gewesen. Stalin ging sicherlich davon aus, dass sich unter Trotzkis Papieren das Manuskript der Biografie befand, das die Attentäter vom 24. Mai nicht ausfindig machen und zerstören konnten. Die einzige Möglichkeit, die Fertigstellung der Biografie zu verhindern, war die Ermordung ihres Autors. Stalin fürchtete Trotzkis Enthüllungen über seine Herkunft, seine politische Mittelmäßigkeit, seine geringe Rolle in der Geschichte der Bolschewistischen Partei vor 1917 und während der Revolution, seine Inkompetenz während des Bürgerkriegs und vor allem seine ständige Illoyalität und Tücke, die Lenin Anfang 1923 dazu veranlasst hatten, Stalins Absetzung vom Posten des Generalsekretärs zu empfehlen. Stalins Entschlossenheit, die Fertigstellung und Veröffentlichung der Biografie zu verhindern, war sicherlich ein wichtiger Faktor in der sehr kurzen Zeitspanne – weniger als drei Monate – zwischen dem erfolglosen Anschlag vom 24. Mai und dem Attentat von Ramón Mercader am 20. August 1940.
Das Attentat verhinderte in der Tat die Vollendung der Biografie. Aber Trotzki hinterließ ein umfangreiches Manuskript, das einen außergewöhnlichen Einblick in Stalins Persönlichkeit und politische Entwicklung bot. Erst 1946 wurde die Biografie veröffentlicht, allerdings in einer schlecht lektorierten Ausgabe, in der abgeschlossene Kapitel mit Notizfragmenten und Passagen vermischt wurden, die Trotzki nicht eindeutig in die biografische Darstellung integriert hatte. Der Übersetzer Charles Malamuth arbeitete stümperhaft. Bereits 1939 beklagte sich Trotzki, nachdem er Malamuths erste Übersetzungsversuche von Teilen des Manuskripts gesehen hatte: „Malamuth scheint mindestens drei Qualitäten zu haben: Er kann kein Russisch, er kann kein Englisch, und er ist ungeheuer anmaßend.“ [19]
Es kam noch schlimmer. Nach Trotzkis Ermordung nahm sich Malamuth mit dem Text außerordentliche Freiheiten heraus, indem er willkürlich eigene Worte und Sätze einfügte und der Biografie damit gezielt Standpunkte unterjubelte, die denen des Autors direkt widersprachen. Malamuths Einschübe erstreckten sich häufig über mehrere Seiten, was Trotzkis Darstellung verwässerte und verzerrte. Rund 70 Jahre lang war dies die einzige Fassung der Biografie, die öffentlich zugänglich war. 2016 wurde eine Neufassung veröffentlicht, in der die Übersetzung und Gliederung des Manuskripts und der zuvor nicht aufgenommenen Fragmente weitaus gewissenhafter angegangen wurden. [20]
Im letzten Band seiner Trotzki-Trilogie schrieb Isaac Deutscher, dass die Stalin-Biografie, auch wenn der Autor sie noch zu Ende geschrieben hätte, „wahrscheinlich sein schwächstes Werk geblieben wäre“. Diese Kritik entbehrt jeder Grundlage. Sie entspringt Deutschers politischen Vorbehalten gegen Trotzkis klare Einschätzung des Stalinismus als konterrevolutionär. Die Biografie blieb zwar unvollständig – sowohl inhaltlich als auch redaktionell, sodass der große Schriftsteller nicht die Möglichkeit hatte, in dem Text die ganze Kraft seines künstlerischen Schaffens zum Ausdruck zu bringen. Trotzdem ist Trotzkis Stalin ein Meisterwerk. Es sind unzählige Biografien über Stalin erschienen, darunter eine von Deutscher, die Stalin als politischen Giganten darstellt. Im Hinblick auf politische Tiefe, psychologische Einsicht und literarische Brillanz kann keine andere Biografie Trotzkis Stalin auch nur annähernd das Wasser reichen.
Die Biografie zeugt von einer unübertroffenen Kenntnis der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen, unter denen sich die revolutionäre Arbeiterbewegung in dem riesigen Russischen Reich entwickelte. Trotzkis Darstellung von Stalins Persönlichkeit ist keine Karikatur. Die Persönlichkeit von Dschugaschwili-Stalin wurde, wie Trotzki zeigt, durch die rückständigen Verhältnisse seiner familiären Erziehung und das kulturelle und politische Umfeld geprägt, in dem sich seine frühen politischen Aktivitäten entfalteten.
Dies ist nicht der Ort für eine umfassende und detaillierte Besprechung dieses außergewöhnlichen Werks. Aber ein entscheidendes Element in der Stalin-Biografie verdient besondere Beachtung. Trotzki untersucht in erster Linie, welche objektiven Bedingungen und welche subjektiven Prozesse, in denen sich diese Bedingungen niederschlugen, Stalins Aufstieg zur Macht ermöglichten. Immer wieder weist Trotzki darauf hin, wie sich die soziale Kultur in der Bolschewistischen Partei nach dem Bürgerkrieg veränderte. Die Partei, die die Revolution anführte, war ein heroisches Beispiel der „Solidarität, des idealistischen Aufschwungs, der Hingabe, der Selbstlosigkeit“ – kaum vergleichbar mit anderen Bewegungen in der Geschichte. [21]
Innerhalb der Bolschewistischen Partei gab es interne Debatten, Konflikte, mit einem Wort, all jene Dinge, die ein natürlicher Bestandteil der menschlichen Existenz sind. Was die Mitglieder des Zentralkomitees betrifft, so waren auch sie nur Menschen, aber eine besondere Epoche ließ sie über sich hinauswachsen. Ohne etwas idealisieren zu wollen oder die Augen vor den menschlichen Schwächen zu verschließen, können wir dennoch sagen, dass die Luft, die man in jenen Jahren in der Partei atmete, frisch wie auf einem Berggipfel war. [22]
Aber das Klima veränderte sich nach dem Bürgerkrieg, als neue, unerprobte und klassenfremde Elemente in die Partei strömten. Es gab zwar Episoden, in denen versucht wurde, die Partei vor dem Zustrom von Karrieristen zu schützen. Doch die objektiven Bedingungen drängten in eine ungünstige Richtung.
Nach dem Bürgerkrieg und insbesondere nach der Niederlage der Revolution in Deutschland fühlten sich die Bolschewiki nicht mehr auf dem Vormarsch. Gleichzeitig ging die Partei von der revolutionären Periode in die sesshafte über. Nicht wenige Ehen wurden in den Jahren des Bürgerkriegs geschlossen. Gegen Ende des Bürgerkriegs kamen Kinder zur Welt. Die Frage von Wohnung, Einrichtung, Familie begann eine immer größere Bedeutung zu erlangen. Die Bande der revolutionären Solidarität, mit der die Schwierigkeiten insgesamt überwunden worden waren, wurden zu einem beträchtlichen Teil durch die Bande bürokratischer und materieller Abhängigkeiten ersetzt. Vorher war es möglich, sich allein durch revolutionäre Ideale durchzusetzen. Nun begannen viele Menschen, sich mit Posten und materiellen Privilegien durchzusetzen. [23]
Trotzki plädierte nicht dafür, in einer fortwährenden und unerreichbaren Askese fernab aller privaten und materiellen Sorgen zu leben. Er hatte selbst vier Kinder. Er erklärte vielmehr, wie sich innerhalb der Partei allmählich ein konservatives soziales Umfeld entwickelte. Dieser Wandel fand vor dem Hintergrund weitreichender sozioökonomischer Prozesse in der Sowjetunion statt, die mit der Wiederbelebung des kapitalistischen Markts in der Neuen Ökonomischen Politik zusammenhingen. Die wieder wachsende Bedeutung des privaten Unternehmertums auf dem Land führte dazu, dass soziale Ungleichheit plötzlich akzeptiert und sogar gefördert wurde. Wenn Trotzki und seine Anhänger in der Linken Opposition die Bedeutung der Gleichheit betonten, gerieten sie unter Beschuss. Stalin passte sich dieser Stimmung an und nutzte sie aus. Gleichheit „wurde von der Bürokratie zu einem kleinbürgerlichen Vorurteil erklärt“. Die Ablehnung der Gleichheit ging mit einer wachsenden Feindseligkeit gegenüber der Perspektive der permanenten Revolution einher:
Die Theorie des Sozialismus in einem Lande wurde damals von einem Block der Bürokratie und des Kleinbürgertums der Dörfer und Städte vertreten. Der Kampf gegen die Gleichheit schweißte die Bürokratie enger denn je nicht nur mit diesem Kleinbürgertum, sondern gleicherweise mit der Arbeiteraristokratie zusammen. Die Ungleichheit wurde die gemeinsame soziale Basis und die raison d’être dieser Bundesgenossen. Ökonomische und politische Bande hielten die Bürokratie und das Kleinbürgertum in den Jahren von 1923 bis 1928 zusammen. [24]
Stalins Aufstieg zur Macht war mit der Entstehung des bürokratischen Apparats und dessen wachsendem Bewusstsein für seine besonderen Interessen verbunden. „In dieser Hinsicht nimmt Stalin eine absolute Sonderstellung ein. Er ist weder ein Denker, noch ein Schriftsteller, noch ein Redner. Er ist in den Besitz der Macht gekommen, bevor noch die Massen gelernt hatten, bei den triumphalen Aufmärschen auf dem Roten Platz seine Figur von anderen überhaupt zu unterscheiden. Stalin riss die Macht an sich, nicht aufgrund persönlicher Leistungen, sondern mit Hilfe eines unpersönlichen Apparates. Und es war nicht er, der den Apparat geschaffen, sondern der Apparat hatte ihn geschaffen.“ [25]
Trotzki zerschlug den „Mythos Stalin“, indem er die sozioökonomischen und Klassenbeziehungen offenlegte, aus denen er hervorgegangen war. Dieser Mythos, so schrieb Trotzki, „entbehrt jeder künstlerischen Qualität. Er schafft es lediglich, die Vorstellungskraft mit einem grandiosen Schwung an Schamlosigkeit zu verblüffen, der ganz dem Charakter der gierigen Kaste der Emporkömmlinge entspricht, die schneller den Tag herbeiführen will, an dem sie Herr im Haus ist“. [26]
Trotzkis Beschreibung der Beziehungen, die Stalin zu seinem Gefolge korrupter Satrapen pflegte, erinnert an die Satiren von Juvenal:
Caligula machte sein Lieblingspferd zum Senator. Stalin hat kein Lieblingspferd, und bisher sitzt im Obersten Sowjet kein pferdeähnlicher Abgeordneter. Die Mitglieder des Obersten Sowjets haben jedoch ebenso wenig Einfluss auf den Lauf der Dinge in der Sowjetunion wie Caligulas Pferd – oder sogar ebenso wenig Einfluss wie die Senatoren auf die Angelegenheiten Roms. Die Prätorianergarde stand über dem Volk und in gewisser Weise sogar über dem Staat. Sie brauchte einen Kaiser als endgültigen Schiedsrichter. Die stalinistische Bürokratie ist das moderne Gegenstück zur Prätorianergarde mit Stalin als ihrem Obersten Führer. Die Macht Stalins ist eine moderne Form des Cäsarismus. Es ist eine Monarchie ohne Krone und bisher ohne Erben. [27]
Im Reich der Politik war Trotzki der größte Geist seiner Zeit. Er stellte eine unerträgliche Bedrohung für das stalinistische Regime dar, das letztlich als Agentur des Weltimperialismus fungierte. Das Regime konnte nicht zulassen, dass er am Leben blieb. Trotzki verstand die gegen ihn gerichteten Kräfte sehr gut: „Ich lebe auf dieser Erde nicht in Übereinstimmung mit der Regel, sondern als Ausnahme von der Regel.“ [28] Aber selbst angesichts der größten Gefahr bewahrte Trotzki ein außerordentliches Maß an persönlicher Objektivität:
In einer reaktionären Zeit wie der unseren muss ein Revolutionär gegen den Strom schwimmen. Das tue ich so gut ich kann. Der Druck der Weltreaktion wirkt sich vielleicht in meinem eigenen Schicksal und dem Schicksal jener, die mir nahestehen, besonders unerbittlich aus. Darin sehe ich nicht im Geringsten ein Verdienst meinerseits, sondern es ist das Ergebnis der Verflechtung historischer Umstände. [29]
Fortsetzung folgt
Anmerkungen
[1] Leon Trotsky, „Stalin Seeks My Death“, 8. Juni 1940, in: Writings of Leon Trotsky 1939-40, New York 2001, S. 233 (aus dem Englischen).
[2] Ebd., S. 233–34.
[3] Ebd., S. 235.
[4] Der Autor führte während unserer Zusammenarbeit in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Untersuchung der Ermordung Trotzki, die das Internationale Komitee leitete, zahlreiche Gespräche mit Harold Robins (1908–1987).
[5] Leon Trotsky, „Stalin Seeks My Death“, S. 247 (aus dem Englischen).
[6] Ebd., S. 248.
[7] Ebd., S. 247.
[8] Bertrand M. Patenaude, „Trotzki. Der verratene Revolutionär“, Berlin 2010, S. 314.
[9] „Healy’s Big Lie“, in: Education for Socialists, Dezember 1976, S. 36 (aus dem Englischen).
[10] Leon Trotsky, „The Comintern and the GPU“, in: Writings of Leon Trotsky 1939–40, S. 363–64 (aus dem Englischen).
[11] Barry Carr, „Crisis in Mexican Communism. The Extraordinary Congress of the Mexican Communist Party“, in: Science & Society, Frühjahr 1987, Jg. 51, Nr. 1, S. 50 (aus dem Englischen).
[12] Ebd., S. 51.
[13] Ebd., S. 54.
[14] Leon Trotsky, „The Comintern and the GPU“, S. 352 (aus dem Englischen).
[15] Dimitri Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie, Düsseldorf 1989, S. 359–63.
[16] Leon Trotsky, „The Comintern and the GPU“,S. 350 (aus dem Englischen).
[17] Ebd., S. 351.
[18] Victor Serge, From Lenin to Stalin, New York 1937, S. 104 (aus dem Englischen).
[19] Leon Trotsky, „Letter to Joseph Hansen (March 8, 1939)“, in: Writings of Leon Trotsky. Supplement 1934–40, New York 1979, S. 830.
[20] Der Herausgeber und Übersetzer dieser neuen englischen Ausgabe ist Alan Woods. Obwohl er mit einer linken politischen Tendenz in Verbindung steht, mit der das Internationale Komitee bekannte und grundlegende politische Differenzen hat, verdienen Woods’ Bemühungen bei der Erstellung dieser Neufassung der Stalin-Biografie Anerkennung und Lob. Die aktuellere englische Ausgabe unterscheidet sich von der deutschsprachigen Stalin-Biografie, die im Mehring Verlag erschien. In der Folge wird daher aus beiden Ausgaben zitiert.
[21] Leon Trotsky, Stalin, Hrsg. Alan Woods, London 2016, S. 545 (aus dem Englischen).
[22] Ebd.
[23] Ebd.
[24] Leo Trotzki, Stalin. Eine Biographie, Essen 2001, S. 442 (hier im Mehring Verlag erhältlich).
[25] Ebd., S. 12.
[26] Leon Trotsky, Stalin, S. 672 (aus dem Englischen).
[27] Ebd.
[28] Leon Trotsky, „Stalin Seeks My Death“, S. 250 (aus dem Englischen).
[29] Ebd.