Nachdem die österreichische Regierung sämtliche Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus aufgehoben hat, steigen die Infektionszahlen wieder stark an. Am vergangenen Donnerstag meldete das Gesundheitsministerium in Wien 157 positive SARS-CoV2-Tests. Das ist der höchste Wert seit dem 10. April.
Die Zahl der bestätigten Infektionen pro 100.000 Einwohner war mit 8,2 innerhalb von sieben Tagen mehr als doppelt so hoch wie im Nachbarland Deutschland mit 3,0. Die Zahl der aktiven Covid-19-Fälle ist seit Mitte Juni von unter 400 auf 1315 gestiegen. Der Durchschnitt der positiv getesteten Fälle ist mehr als viermal so hoch wie Mitte Juni. Zu dieser Zeit war mit der Maskenpflicht in Geschäften und Restaurants auch die letzte Schutzmaßnahme gegen die Pandemie abgeschafft worden. Besonders betroffen von der Zunahme sind neben der Hauptstadt Wien Oberösterreich, Niederösterreich und die Steiermark.
Die Verantwortung für die erneute Ausbreitung trägt die Bundesregierung unter Kanzler Sebastian Kurz, eine Koalition aus rechtskonservativer Volkspartei (ÖVP) und Grünen. Nachdem Mitte März kurzzeitig Maßnahmen zur Eindämmung des Virus beschlossen worden waren, spielte die Regierung in Wien schon Mitte April wieder eine Vorreiterrolle bei der „Lockerungspolitik“. Die sogenannte „Covid-19-Lockerungsverordnung“ hob dann alle Beschränkungen auf. Die Regierung Kurz machte damit deutlich, dass sie keine Beschneidung der wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen zulassen wird, obwohl Experten vor übereilten Lockerungen warnten.
Der Chef der Österreichischen Ärztekammer Thomas Szekeres fordert angesichts der rasant steigenden Zahlen die Wiedereinführung der Maskenpflicht in geschlossenen Räumen. Auch die Wiener Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl wendet sich seit Langem gegen das Ende der Maskenpflicht. In Oberösterreich und teilweise in Kärnten ist die Maskenpflicht in öffentlichen Räumen wieder eingeführt worden.
Obwohl der Schutz der Bevölkerung rasche und weitreichende Maßnahmen erfordert, erklärte Kanzler Kurz am Wochenende gegenüber der Tageszeitung Österreich lediglich lapidar, man müsse „die Maskenpflicht in bestimmten Bereichen wieder einführen“. Welche Bereiche davon betroffen sein werden, wollte mit den zuständigen Ministern besprechen.
Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erklärte: „Die Überlegung ist da, dass man im Supermarkt die Maske wieder tragen soll.“ Eine bundesweite Maskenpflicht im öffentlichen Raum lehnte Kogler dagegen strikt ab.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem in der Alpenrepublik mit knapp 9 Millionen Einwohnern ein oder mehrere weitere Corona-Cluster entdeckt werden. Zuletzt infizierten sich mindestens 34 Mitarbeiter des Schlachthofs Dachsberger im niederösterreichischen Eggenburg. Über 240 Personen mussten in Quarantäne. Wie beim deutschen Schlachtbetrieb Tönnies waren die katastrophalen Arbeitsbedingungen für den Ausbruch verantwortlich. Die Infektionskette könnte bis in die Tschechische Republik reichen, aus der zahlreiche Arbeiter in den österreichischen Schlachtbetrieb pendeln.
Anfang Juli waren rund zwei Dutzend Fälle in einer Schlachterei in der Nähe von Linz aufgetreten. Der Betrieb wurde daraufhin kurzzeitig geschlossen. Ebenfalls in Niederösterreich traten in einer Kirche in der Stadt Wiener Neustadt mindestens neun Fälle und 270 mögliche Kontaktpersonen auf.
Am Wochenende gab es weitere Fälle in zwei serbisch-orthodoxen Kirchen in Wien, die beide geschlossen wurden. Insgesamt seien sieben Personen positiv getestet worden. Es handelt sich um vier Priester und deren Familienangehörige. Ab 1. August sollen die Kirchen bereits erneut geöffnet werden. In den Kirchen waren weder Mundschutz zu tragen noch Abstandsregeln zu beachten.
Nach offiziellen Angaben gab es in Österreich bislang insgesamt 20.000 bestätigte Corona-Infektionen und 711 Menschen, die an den Folgen gestorben sind.
Besonders unverantwortlich ist der Umgang mit der Pandemie in Schulen und Kindergärten. Hier werden massenhafte Infektionen regelrecht provoziert und keine weiteren Gegenmaßnahmen getroffen.
Nachdem in Wien mehrere Corona-Fälle in Schulen und Kindergärten aufgetreten waren, die zur Schließung der Einrichtungen führten, beschloss die rot-grüne Landesregierung, dass es im Interesse der Wirtschaft zu keinen Schließungen mehr kommen dürfe. Die Richtlinien sehen nun vor, dass nur noch Kinder nicht am Unterricht teilnehmen, die Krankheitssymptome aufweisen. Sämtliche Kontaktpersonen, also auch Kinder der gleichen Klasse oder Gruppe, können weiter unterrichtet oder betreut werden.
Gleichzeitig besteht keine Verpflichtung, das Kind auf eine mögliche Covid-19-Infektion testen zu lassen. Die Leiterin des medizinischen Krisenstabs Ursula Karnthaler erklärte sogar, dass Symptome wie Niesen oder Husten noch nicht abgeklärt werden müssten. Erst wenn die Erkrankung so weit fortgeschritten sei, dass „das Kind dem Bildungsangebot nicht mehr folgen kann“, könne ein Test erfolgen.
Maßnahmen werden tatsächlich erst dann ergriffen, wenn bei einem Kind ein positives Testergebnis vorliegt. Dann erst müssen die engen Kontaktpersonen für 14 Tage in Quarantäne. Zur Rechtfertigung erklärte der zuständige Krisenstab, dass an Schulen und Kindergärten fast nur „Einzelfälle“ verzeichnet worden seien. Analysen hätten gezeigt, dass Bildungseinrichtungen kaum Infektionen zugeordnet werden könnten.
Noch vor zwei Wochen mussten im oberösterreichischen Linz und Wels Schulen und Kindergärten für mehrere Tage geschlossen werden, nachdem mehrere Fälle aufgetreten waren. Hinzu kommt, dass gezielt wenige Test durchgeführt werden, um die Zahlen niedrig zu halten. Der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober musste eingestehen, dass zuletzt nur rund 10.000 Tests täglich durchgeführt wurden. Ende März hatte Anschobers Ministerium noch erklärt, man wolle täglich zwischen 15.000 und 17.000 Tests durchführen.
Von den steigenden Fällen sind im Besonderen Kliniken und Pflegeheime betroffen. So waren ein Drittel der an oder mit Covid-19 verstorbenen Menschen in Österreich Bewohner von Pflegeheimen. Vor allem mangelnde Schutzausrüstung und zu wenige Tests sind dafür verantwortlich, wie der Bundesverband Lebenswelt Heim Anfang Juli kommentierte. Die Folge waren „unkontrollierte Ansteckungen in Pflegeheimen“. In einer Einrichtung gab es laut dem Präsidenten des Bundesverbandes Markus Mattersberger nur noch vier gesunde Pfleger für die Betreuung von 30 Heimbewohnern.
Während die Bevölkerung im Interesse der Wirtschaft den Gefahren der Pandemie ausgesetzt wird, nutzt diese die Krise für Angriffe auf Löhne und Arbeitsplätze. So erhält die österreichische Lufthansa-Tochter AUA staatliche Hilfsgelder aus einem 600 Millionen Euro umfassenden Hilfspaket. Gleichzeitig soll die Belegschaft bis 2022 auf 80 Prozent der jetzigen Größe sinken, 1100 Arbeitsplätze werden gestrichen. Darüber hinaus sollen die verbleibenden AUA-Beschäftigten auf Gehälter von insgesamt 300 Millionen Euro verzichten. Die Lohneinbußen sollen sich laut AUA-Management für jeden Beschäftigten auf 13 bis 15 Prozent belaufen. Aktuell sind große Teile der Belegschaft in Kurzarbeit, was schon zu empfindlichen Einbußen führt.
Seit Beginn der Pandemie ist die Arbeitslosigkeit in Österreich stark angestiegen, vor allem in den Bereichen Handel, Gastronomie und Bildung. Waren Ende Februar 2020 400.000 Personen ohne Job, stieg die Zahl bis Ende Juni auf 463.500 Personen. Besonders betroffen davon sind Frauen, häufig alleinerziehend, die bereits in prekären Verhältnissen gearbeitet haben. Auch die in den vergangenen Wochen gesunkene Anzahl der Kurzarbeiter stieg zuletzt wieder an, um mehr als 50.000 innerhalb von einer Woche.