Oberster Gerichtshof der USA: Asylsuchende haben kein Recht auf Habeas Corpus oder rechtmäßiges Verfahren

Am Donnerstag fällte der amerikanische Oberste Gerichtshof ein Urteil, demzufolge Asylsuchende keinen Anspruch auf das verfassungsmäßige Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren oder Habeas Corpus (Schutz der persönlichen Freiheit) haben. Damit wird ihnen verweigert, gegen eine drohende Abschiebung vor Gericht zu ziehen.

Gebäude des Obersten Gerichts am Capitol Hill in Washington, 3. Mai 2020 (AP Photo/Patrick Semansky)

Das Urteil wurde mit einer Mehrheit von 7 zu 2 Stimmen gefällt. Es beruht auf der Mehrheitsentscheidung der fünf Republikanischen Richter, ergänzt durch die Stimmen zweier Demokratischer Richter, Ruth Bader Ginsburg und Stephen Breyer.

Die Mehrheitsentscheidung, verfasst von Samuel Alito, erinnert in mehrerer Hinsicht an das berüchtigte Urteil im Fall Dred Scott v. Sandford von 1857.

Genau wie im Fall Dred Scott hat der Gerichtshof auch in diesem Fall, Department of Homeland Security vs. Thuraissigiam, ein weitreichendes, extremes und undemokratisches Urteil möglich gemacht. Dabei ist er sogar weiter gegangen, als es die Regierung für nötig erachtet hatte. Er wies nicht nur die Eingabe des tamilischen Immigranten Vijayakumar Thuraissigiam auf Habeas Corpus zurück, sondern entschied auch, dass alle neueren Asylsuchenden überhaupt kein Recht haben, ihre Abschiebung juristisch anzufechten.

Im Fall Dred Scott hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass die Verfassung nicht für Sklaven gilt, weil diese keine „Menschen“ seien. Auch das aktuelle Urteil hat eine Unterklasse von Menschen geschaffen, die durch das Gesetz nicht geschützt sind, weil ihnen die „etablierten Beziehungen in diesem Land“ fehlen, wie es in der Mehrheitsentscheidung heißt.

Tatsächlich haben neue Asylbewerber nach der Entscheidung vom Donnerstag weniger Rechte als entflohene Sklaven in den zehn Jahren vor dem Bürgerkrieg. Geflohene Sklaven hatten zumindest das Recht, vor einem Richter zu erklären, warum sie nicht aus dem Norden abgeschoben werden sollten. Sie konnten außerdem besondere Gründe nennen, die ihnen erlauben würden zu bleiben, u.a. wenn sie während der Revolution in der Kontinentalarmee gedient hatten.

In dem aktuellen Fall ging es um einen tamilischen Einwanderer aus Sri Lanka, der sofort verhaftet wurde, nachdem er die amerikanisch-mexikanische Grenze überschritten hatte. Thuraissigiam beantragte Asyl und erklärte den Agenten der Zoll- und Grenzschutzbehörde (CBP), er habe sein Heimatland verlassen, nachdem er von Schlägern der Regierung in einem zivilen Kleintransporter entführt und brutal verprügelt worden war, weil er zu der seit langem verfolgten tamilischen Minderheit gehört. Thuraissigiam wurde außerdem durch simuliertes Ertrinken (Waterboarding) gefoltert.

Ein Beamter und Sachbearbeiter der Asylbehörde erklärte, Thuraissigiam zeige keine „glaubhafte Angst“ vor der Abschiebung und bereitete seine Rückreise nach Sri Lanka vor, wo ihm wahrscheinlich Verfolgung oder Tod droht. Nach den Regeln des „beschleunigten Abschiebeverfahrens“, das der Kongress im Illegal Immigration Reform and Immigrant Responsibility Act (IIRAIRA) von 1996 eingeführt hatte – unterstützt von beiden Parteien –, werden Immigranten, die glaubhaft Angst zeigen, in den Einbürgerungsprozess aufgenommen und können Hilfe beantragen. Falls sie keine glaubhafte Angst zeigen, werden sie sofort abgeschoben.

Thuraissigiams Anwälte beantragten bei einem Bundesbezirksgericht Habeas Corpus. Dieses Verfahren, dessen lateinischer Name bedeutet „du sollst den Körper haben“, ist ein jahrhundertealtes demokratisches Recht, nach dem Inhaftierte von ihren Gefängniswärtern fordern können, sie vor einen Richter zu bringen, um über die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung zu entscheiden.

Die Anwälte schilderten in ihrer Petition die kafkaeske Aneinanderreihung von Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip, das zu der Feststellung führte, es fehle die glaubwürdige Angst. Aufgrund von Übersetzungsproblemen verstanden die Beamten nicht, was Thuraissigiam über seine frühere Verfolgung erklärte. Die Beamten wollten ihn möglichst schnell abschieben und gaben keine vernünftige Erklärung, warum er keine glaubhafte Angst zeige.

Das Bezirksgericht erklärte, es habe keine Befugnis dazu, Thuraissigiams Antrag auf Habeas Corpus anzuhören. Als Rechtfertigung nannte es eine Vorgabe des IIRAIRA, laut dem an der Grenze aufgegriffene Immigranten kein Recht auf Habeas Corpus haben. Dieses Statut wurde im Repräsentantenhaus u.a. mit den Stimmen von Nancy Pelosi, Bernie Sanders, James Clyburn und fast der ganzen Demokraten-Fraktion angenommen. Nachdem der Senat dafür gestimmt hatte, wurde es von dem Demokraten Bill Clinton unterzeichnet.

Nachdem das Bezirksgericht gegen Thuraissigiam entschieden hatte, erklärte das Berufungsgericht des neunten Gerichtsbezirks dieses Urteil für ungültig und urteilte, dass die Statuten des IIRAIRA, die Habeas Corupus vorenthalten und beschleunigte Abschiebungen erlauben, verfassungswidrig seien. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs wiederum hat das Urteil des Berufungsgerichts außer Kraft gesetzt. Richter Samuel Alito machte sich in seiner Urteilsbegründung zynisch über den verängstigten Flüchtling lustig: „Die Regierung entlässt ihn gerne [aus der Haft] – vorausgesetzt, er sitzt dann in einem Flugzeug nach Sri Lanka.“

Das Urteil ist eine verfassungsrechtliche Katastrophe.

Es gibt der Exekutive die Macht, tausende Menschen ohne jede juristische Kontrolle festzuhalten und die Gewaltenteilung mit den Füßen zu treten. Es kommt einem Freibrief für die Einwanderungs- und Zollbehörde gleich, gegen das Gesetz zu verstoßen.

Das Urteil legt fest, dass auch ohne richterliche Überprüfung dem „Rechtsstaatsprinzip“ Genüge getan sei. Damit wird die diktatorische Doktrin von Barack Obamas Justizminister Eric Holder vom Obersten Gerichtshof zum Präzedenzfall erhoben. Holder hatte Drohnenmorde an US-Staatsbürgern mit der Behauptung gerechtfertigt, die Überprüfung der Todeslisten durch Beamte des Weißen Hauses würde eine Überprüfung durch ein Gericht erübrigen, da die Verfassung „nur ein rechtsstaatliches Verfahren, aber kein Gerichtsverfahren“ garantiere.

Die Entscheidung ermöglicht es, Millionen von nicht gemeldeten Immigranten, die vor der Gewalt und Armut fliehen, die der US-Imperialismus verursacht hat, willkürlich und ohne Prozess abzuschieben.

Letzte Woche genehmigte das für Washington DC zuständige Berufungsgericht die Entscheidung der Trump-Regierung, das beschleunigte Abschiebeverfahren nach dem IIRAIRA auszuweiten. Es soll nicht mehr nur für Asylbewerber gelten, die an der Grenze zwei Wochen nach deren Überschreiten verhaftet wurden (in diese Kategorie fiel Thuraissigiam), sondern für Immigranten in allen Teilen des Landes, die innerhalb der letzten zwei Jahre ins Land gekommen sind. Dieses Verfahren ging von zwei Demokraten aus: Patricia Millett, von Obama ernannt, und Harry Edwards, von Jimmy Carter ernannt.

In der Praxis wird das Urteil von Donnerstag zum Tod zahlloser Flüchtlinge und Asylbewerber führen, die verfassungswidrig abgeschoben werden, ohne dass sie ihre beschleunigte Abschiebung juristisch anfechten können.

Doch es müssen auch gewisse politische Schlüsse gezogen werden. Das Mehrheitsurteil ist ein verhängnisvolles Zeichen dafür, dass sich die herrschende Klasse darauf vorbereitet, dem wachsenden gesellschaftlichen Widerstand der Arbeiterklasse mit verstärkten Angriffen auf demokratische Rechte zu begegnen.

Dass das Urteil nicht mit der knappen Mehrheit von 5 zu 4 Stimmen gefällt wurde (was auf eine Abstimmung nach Parteizugehörigkeit hindeuten würde), sondern mit einer klaren Mehrheit von 7 zu 2, zeigt, dass die herrschende Klasse die Massendemonstrationen gegen Polizeigewalt und die Streikwelle gegen gefährliche Arbeitsbedingungen angesichts des Coronavirus als Gefahr für ihre Klassenherrschaft ansieht. Donald Trump hat mit seinem versuchten Militärputsch Anfang des Monats zwar vorläufig eine Niederlage erlitten, doch die Entscheidung vom Donnerstag zeigt, dass die grundlegenden Tendenzen zu Diktatur in der herrschenden Klasse stärker werden – sowohl bei Trumps Unterstützern unter den Republikanern als auch bei seinen Rivalen, den Demokraten.

Das Urteil ist eine eindringliche Warnung. Die Arbeiterklasse muss vereint gegen alle Versuche kämpfen, sie auf der Grundlage von Hautfarbe, Nationalität, Ethnie oder Immigrantenstatus zu spalten. Ihr gemeinsames Ziel muss soziale Gleichheit und die Verteidigung demokratischer Rechte sein.

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