In dem jüngsten Grenzzusammenstoß zwischen China und indien sind vor einer Woche Dutzende indische und chinesische Soldaten getötet worden. Am 18. Juni behauptete der hochrangige US-Diplomat David Stilwell, ein chinesischer Einmarsch habe den Grenzkonflikt ausgelöst – eine Aussage mit großer geostrategischer Bedeutung.
Stilwell, der das Amt eines Staatssekretärs des US-Außenministeriums für Ostasien und den Pazifik innehat, erklärte bei einer Pressekonferenz, die chinesische Volksbefreiungsarmee sei in das „umstrittene Gebiet“ zwischen Indien und China eingedrungen, und bezeichnete dies als exemplarisch für Aggressionen von Seiten Chinas.
Als sich im Mai die Grenzspannungen zwischen Peking und Neu-Delhi verschärften, mischte sich die US-Regierung bereits durch Kritik an Chinas „Aggression“ in den Streit ein. Doch bis zu dieser Pressekonferenz am Donnerstag hatte sie auf den Zusammenstoß vom 15. Juni und die umfangreichen Verlegungen indischer und chinesischer Truppen in die Region nur verhalten reagiert.
Jetzt erklären sich die USA jedoch eindeutig mit Indien solidarisch, obwohl sie wissen und damit rechnen, dass dies die Regierung in Neu-Delhi zu einer harten und provokanten Haltung gegenüber China ermutigt. Sie tun dies außerdem unter gefährlichen Bedingungen: Wie indische Medien berichten, werden innerhalb der indischen Regierung und Militärführung die Rufe nach Vergeltung gegen China immer lauter.
Die Trump-Regierung wirft alle Hemmungen über Bord und schürt einen Konflikt zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern, die außerdem rivalisierende Atommächte sind.
Stilwell, ein ehemaliger General der US Air Force, reagierte mit seiner Aussage auf die Frage eines Journalisten des rechten Washington Examiner, der nahelegte, dass der indisch-chinesische Grenzzusammenstoß Bestandteil einer ganzen Reihe von chinesischen Aggressionen in Süd- und Ostasien sei. Stilwell erklärte: „Wir beobachten den indisch-chinesischen Grenzstreit natürlich sehr aufmerksam … Die Volksbefreiungsarmee ist in dieses umstrittene Gebiet tiefer und länger und mit noch mehr Menschen als je zuvor eingedrungen.“
Stilwell fuhr fort: „Nochmal: ich weiß nicht, ob es Teil ihrer Verhandlungstaktik war, oder ob sie dem Gegner nur eins auf die Nase geben wollten, um ihre Überlegenheit zu demonstrieren.“
Der ganze Austausch basierte auf dem falschen anti-chinesischen Narrativ, das die US-Regierung seit Jahrzehnten immer vehementer propagiert. Die USA stellen China regelmäßig als Aggressor dar, der die „internationale Ordnung“ und die „Rechtsstaatlichkeit“ störe. In Wirklichkeit ist der US-Imperialismus die Kraft, die eine unablässige und immer weiter eskalierende diplomatische, wirtschaftliche und militärisch-strategische Offensive gegen Peking betreibt, um dessen „Aufstieg“ zu verhindern.
Im Jahr 2011 entwickelte die Obama-Regierung ihre „Pivot to Asia“-Strategie, die sich gegen China richtet. Sie beinhaltete u.a. die mittlerweile umgesetzten Pläne, die Mehrheit der US-Militärkapazitäten in den asiatischen Pazifik zu verlagern. Trump verzichtet zwar auf den Begriff „Pivot to Asia“, hat jedoch die US-Kampagne gegen Peking dramatisch verschärft.
Das Pentagon hat China ausdrücklich als „strategischen Konkurrenten“ in einer neuen Ära der „Großmachtkonflikte“ eingestuft. Die Washingtoner Regierung verfolgt das Ziel, China wirtschaftlich zu vernichten, indem sie versucht, Chinas Entwicklung zu einem Hightech-Konkurrenten zu unterbinden. Mittlerweile drängt die Trump-Regierung auch amerikanische und europäische Konzerne dazu, sich aus China „abzukoppeln“.
Die steigenden Spannungen an der chinesisch-indischen Grenze stehen in direktem Zusammenhang mit der US-Offensive gegen China.
Zum einen hat sich die käufliche herrschende Klasse Indiens von den USA mit Angeboten strategischer Gefälligkeiten und Investitionen ködern lassen und sich Washingtons Anti-China-Kurs angeschlossen. Narendra Modi und seine ultrarechte Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) haben Indien in einen Frontstaat in der Offensive der USA gegen China verwandelt. Sie haben Indiens Luftwaffen- und Marinestützpunkte für amerikanische Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe geöffnet, sich der Haltung der USA im Streit um das Südchinesische Meer angeschlossen und ein Netz von bilateralen, trilateralen und quadrilateralen Militär- und Sicherheitsabkommen mit den USA und ihren wichtigsten Verbündeten im Indopazifik, Australien und Japan, abgeschlossen.
Daraus ergibt sich ein zweiter Aspekt, der die Spannungen zusätzlich verschärft. Die USA versuchen, China wirtschaftlich zu erdrosseln, indem sie die Engpässe im Indischen Ozean und im Südchinesischen Meer militärisch kontrollieren. Um diese Pläne zu durchkreuzen, entwickelt China an der Grenze zu Pakistan einen Wirtschaftskorridor, der u.a. durch die chinesisch kontrollierte, aber von Indien beanspruchte Region Aksai Chin verläuft.
Was Stilwells Äußerung zusätzlich Gewicht verleiht, ist sein Rang als hoher US-Diplomat für Ostasien und die Pazifik-Region. Bei der Pressekonferenz sprach er auch über das Ergebnis einer sechsstündigen Verhandlung, die US-Außenminister Mike Pompeo mit Yang Jiechi führte, dem Politbüromitglied der KP Chinas und chinesischen Außenminister. Diese Verhandlungen fanden am Tag vor der Pressekonferenz, am Mittwoch, den 17. Juni, in Honolulu (Hawaii) statt.
Die USA haben wenig über die Verhandlungen in Honolulu erwähnt, und auch Stilwell äußerte sich am Donnerstag kaum darüber, obwohl er daran teilgenommen hatte. Das wenige, was er sagte, macht jedoch deutlich, dass die USA die Gespräche zum Anlass genommen haben, eine Reihe von provokanten Forderungen an China zu richten. Von diesen Forderungen, so unterrichteten sie Peking, werde die Zukunft der chinesisch-amerikanischen Beziehungen und die Handelsbeziehungen abhängig sein.
Stilwells Worten war zu entnehmen, dass die USA erneut China wegen der Corona-Pandemie beschuldigt haben. Die US-Vertreter hätten die Pekinger Delegation aufgefordert, alles zu verraten, „was sie über den Beginn dieser Pandemie wissen“.
Dies ist Teil einer Kampagne, mit der die Trump-Regierung von ihrer verantwortungslosen Pandemiepolitik in den USA abzulenken versucht. Diese hat zu einer erschreckend hohen Zahl an Todesopfern geführt. Gleichzeitig soll ein Vorwand für weitere Aggressionen gegen China geschaffen werden.
Stilwell nannte noch weitere Themen, in denen die USA von Peking „Taten sehen wollen“: Dabei geht es beispielsweise um den Streit um das Südchinesische Meer, um Taiwan und Hongkong und um das Schicksal der Uiguren. Die letzteren Punkte beziehen sich auf Washingtons Versuche, das autoritäre Vorgehen des chinesischen Staats als fadenscheinigen Vorwand zu nutzen, um im Namen der „Menschenrechte“ eigene räuberische Interessen durchzusetzen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Diese Kritik an Chinas diktatorischen Maßnahmen ausgerechnet aus Washington ist absurd: Die Trump-Regierung begegnet selbst den Protesten gegen den Polizeimord an George Floyd mit massiven staatlichen Angriffen, setzt das Militär im Innern ein und versucht, eine Militärdiktatur zu errichten. Darauf ging natürlich an der Pressekonferenz kein einziger Reporter ein. Ebenso wenig verloren sie ein Wort über Washingtons Unterstützung für autoritäre und diktatorische Regimes auf der ganzen Welt.
Eine weitere Aussage Stilwells verdeutlicht das feindliche Klima, unter dem die Verhandlungen mit China am Mittwoch stattfanden: „Der Präsident spielt nicht länger herum. Er tut, was notwendig ist, um die Interessen der USA zu schützen. An erster Stelle steht natürlich das Handelsabkommen.“ Er konnte jedoch nichts darüber sagen, wie sich die chinesisch-amerikanischen Beziehungen weiter entwickeln würden.
Allerdings behauptete Stilwell, es gebe zwei mögliche Bereiche, in denen Peking und Washington zusammenarbeiten könnten. Natürlich erwies sich dies als vergifteter Vorschlag: Washington will, dass China seinen engen Verbündeten Nordkorea unter Druck setzt, sich den Forderungen der USA zu beugen. China soll sich außerdem an geplanten Atomverhandlungen mit Russland beteiligen, was Peking jedoch bisher verweigert hat, da sein Atomarsenal nur einen Bruchteil der Größe der anderen beiden Mächte hat.
Extrem provokativ und gefährlich ist in diesem Kontext die Entscheidung der USA, sich öffentlich an die Seite Indiens zu stellen – im Unterschied zu einem früheren indisch-chinesischen Konflikt, als sich 2017 China und Bhutan um einen Gebirgszug stritten. Es ist umso gefährlicher, als die USA den jetzigen Konflikt mit dem Konflikt im Südchinesischen Meer in Zusammenhang bringen.
Washington hat ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen dem indisch-chinesischen Grenzstreit und der strategischen Konfrontation zwischen den USA und Peking hergestellt. Dies macht den Konflikt besonders brisant und unlösbar, weil alles, was daraus folgt – ob ein weiterer militärischer Zusammenstoß oder ein Deeskalationsversuch – ausschließlich danach bewertet wird, was es für Auswirkungen auf die Konfrontation zwischen den USA und China hat.
Die US-Intervention ermutigt die kriegslüsternen Elemente der indischen herrschenden Elite. Die Kriegstreiber von der Modi-Regierung und ihren hindu-chauvinistischen Verbündeten schüren Nationalismus und Chauvinismus gegen China, und die feige Opposition unterstützt sie darin.
Im Innern hat die BJP-Regierung unter Covid-19-Bedingungen mit ihrem schlecht vorbereiteten Lockdown eine doppelte Katastrophe angerichtet. Während die Pandemie exponentiell anwächst, hat der Zusammenbruch der Wirtschaft mehr als einhundert Millionen verarmte Arbeiter ihre Stellen gekostet. Unter diesen Bedingungen nutzt die Regierung den Konflikt mit China, um die soziale Wut in reaktionäre Kanäle abzulenken.
Außenminister Mike Pompeo und der amerikanische Botschafter in Indien haben den Familien der zwanzig indischen Soldaten, die bei dem Zusammenstoß am vorigen Montag getötet wurden, ihr Beileid ausgesprochen. Botschafter Kenneth Juster twitterte: „Ihre Tapferkeit und ihr Mut werden nie vergessen werden.“ Diese Äußerung verdeutlicht, dass sich Washington öffentlich hinter Indien stellt.
Ein weiteres Zeichen für die drohende Gefahr, die die USA schüren, war die Aussage des Republikanischen Senatsfraktionschefs Mitch McConnell vor dem Senat am Donnerstag: „Die Volksbefreiungsarmee hat offenbar den gewalttätigsten Zusammenstoß zwischen Indien und China seit dem Krieg von 1962 angezettelt, um Territorien zu besetzen.“ Damals waren tausende Soldaten getötet oder verwundet worden, doch noch keiner der beiden Staaten verfügte über Kernwaffen.