In einer aufwändig inszenierten Videopressekonferenz stellten der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag eine gemeinsame Initiative für einen Fonds von 500 Milliarden Euro zur „wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise“ vor.
Die Summe soll von der EU-Kommission in Form langfristiger Anleihen aufgenommen und von den Mitgliedsstaaten entsprechend ihrem Anteil am EU-Haushalt im Laufe von zwanzig Jahren zurückbezahlt werden. Im Gegensatz zu dem 540-Milliarden-Paket, auf das sich die Mitglieder der Europäischen Union im April geeinigt hatten, soll der neue Fonds nicht in Form von Krediten, sondern von nichtrückzahlbaren Zuschüssen vergeben werden.
Merkel und Macron priesen die Initiative als Akt der europäischen Solidarität. Merkel sprach von einer „außergewöhnlichen, einmaligen Kraftanstrengung“, mit der Deutschland und Frankreich „für die europäische Idee“ einträten. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire jubelte über „einen historischen Schritt“ für Frankreich, Deutschland und die gesamte Europäische Union.
Lob kam sowohl von der Financial Times wie von Le Monde. Das britische Finanzblatt bezeichnete den Vorschlag als „bedeutender Durchbruch im Streben nach Solidarität zwischen den EU-Staaten“. Die französische Tageszeitung feierte ihn als „kleine Revolution für Europa“.
Der italienische Regierungschef Giuseppe Conte lobte den Vorschlag als „guten Start“, der „finanziell noch ausbaubar“ sei. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, mit der die Initiative offensichtlich abgestimmt war, unterstützte sie.
Ablehnend reagierten lediglich die sogenannten „sparsamen Vier“ – Schweden, Dänemark, Österreich und die Niederlande. Er wolle solidarisch mit Staaten sein, die besonders hart von der Krise getroffen wurden, sagte der österreichisch Bundeskanzler Sebastian Kurz. „Allerdings glauben wir, dass Kredite der richtige Weg sind, nicht Zuschüsse.“
In Deutschland stellten sich neben den Regierungsparteien CDU, CSU und SPD auch die Grünen und die Linkspartei hinter den Vorschlag. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch nannte die Initiative „grundsätzlich richtig“ und drängte darauf, sie „notfalls nur mit und für die Staaten, die vorangehen“, zu verwirklichen, wenn sich nicht alle EU-Mitglieder darauf einigen könnten.
Tatsächlich hat die Initiative mit „Solidarität“ nicht das Geringste zu tun – weder mit den von der Corona-Pandemie besonders hart getroffenen Ländern, noch mit den Millionen Arbeitern, Angestellten und kleinen Selbständigen, die wegen der Krise ihr Einkommen, ihre Existenz oder gar ihr Leben verlieren. Merkel und Macron haben sich nach wochenlangem Streit über die Finanzierung des Fonds „zusammengerauft“, wie Merkel auf der Pressekonferenz sagte, weil sie die Krise als Chance betrachten, die Stellung ihrer Länder auf dem Weltmarkt zu stärken und die europäische Wirtschaft neu aufzustellen – im Interesse der mächtigsten Konzerne und auf Kosten der Arbeiterklasse.
Bei der Vorstellung der gemeinsamen Initiative warb Merkel ausdrücklich dafür, dass die EU-Staaten künftig ihre Unternehmen „auf dem globalen Markt stärken“. Bereits jetzt fördere die EU „strategische Projekte“, etwa bei der Produktion von Computer-Chips oder Batteriezellen. Diese Bestrebungen werde man jetzt mit den Investitionen zur Krisenbewältigung bestärken. Wie andere Länder werde man sich um die Entwicklung „globaler Champions“ bemühen.
Auch der Wortlaut der gemeinsamen Initiative spricht dies unmissverständlich aus. Der 500-Milliarden-Euro-Fonds ist darin nur einer von mehreren Vorschlägen. An erster Stelle steht die Forderung nach „strategischer Souveränität im Gesundheitssektor“. „Wir streben eine strategisch positionierte europäische Gesundheitsindustrie an,“ heißt es dort, die „die europäische Dimension des Gesundheitswesens auf eine neue Stufe hebt und Abhängigkeiten der EU reduziert.“
Punkt 4 der Initiative – „Stärkung der wirtschaftlichen und industriellen Widerstandsfähigkeit und Souveränität der EU und neue Impulse für den Binnenmarkt“ – macht deutlich, dass dies Hand in Hand mit Handelskriegsmaßnahmen gegen ökonomische Rivalen, insbesondere gegen China, geht.
„Der Neustart der europäischen Wirtschaft und ihre Anpassung an die Herausforderungen der Zukunft erfordern eine widerstandsfähige und souveräne Wirtschaft und industrielle Basis ebenso wie einen starken Binnenmarkt“, heißt es dort. Um „strategische Bereiche (darunter Gesundheit – Medikamente, Biotechnologie etc.)“ vor außereuropäischen Investoren zu schützen, sollen diese stärker überprüft und die Rückansiedlung von Investitionen in Europa ermutigt werden. Zur Stärkung des Binnenmarkts gehöre außerdem „die uneingeschränkte Funktionsweise des Schengenraums … durch Stärkung der gemeinsamen Außengrenzen“.
Auch die europäische Wettbewerbspolitik soll „modernisiert“ werden – was im Klartext bedeutet, dass die Fusion von Großkonzernen zu europäischen „Champions“ zukünftig nicht mehr durch europäische Wettbewerbsregeln verhindert wird, wie dies noch im letzte Jahr mit dem geplanten Zusammenschluss der Zug-Sparten von Siemens und Alstom der Fall war. Insbesondere in „Schlüsselbereichen“ wie „Digitales, Energie und Kapitalmärkte“ soll durch beschleunigte Gesetzgebung „ein umfassender integrierter Markt“ geschaffen werden.
Die „Stärkung der wirtschaftlichen Widerstandfähigkeit der EU“ geht mit massiven Angriffen auf Löhne, Arbeitsplätze und soziale Rechte einher. Die 500 Milliarden des Fonds sollen von der EU-Kommission „auf der Grundlage von EU-Haushaltsprogrammen und im Einklang mit europäischen Prioritäten“ vergeben werden, heißt es in der gemeinsamen Initiative. „Er wird Resilienz, Konvergenz und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaften steigern.“
Dass sind Schlagworte für den massiven Abbau von sozialen Rechten und Errungenschaften. Schon zur Zeit der Eurokrise „wollte Merkel die Krisenländer durch ‚Reformverträge‘ zu Einschnitten zwingen – in der Coronakrise kommt sie nun darauf zurück“, bemerkt das konservative Magazin Cicero. Die Brüsseler EU-Kommission, die für die Vergabe der Gelder und die daran geknüpften Bedingungen zuständig wäre, warte „schon seit langem auf eine Gelegenheit, ihre liberalen wirtschaftspolitischen Empfehlungen durchzusetzen“.
Um Unterstützung für diese neoliberalen „Reformen“ zu mobilisieren, werden sie als „Green Deal“ verkauft. „Jetzt ist der Moment, um die Modernisierung der europäischen Volkswirtschaften und ihrer Geschäftsmodelle voranzutreiben. In diesem Sinne bekräftigen wir den Europäischen Green Deal als die neue EU-Wachstumsstrategie,“ heißt es zynisch im Text der gemeinsamen Initiative.
Die Befürworter sogenannter Eurobonds heben hervor, dass die deutsche Regierung mit der Initiative erstmals von ihrem bisherigen Grundsatz abgewichen sei, keine gemeinsamen europäischen Schulden zu akzeptieren. Doch sie zahlt dafür einen geringen Preis. Erstens haftet sie nur für einen Viertel der Gesamtsumme von 500 Milliarden Euro, die aus dem EU-Haushalt zurückgezahlt wird. Selbst wenn dieser entsprechend aufgestockt würde, entspräche dies höchstens 7 Milliarden Euro im Jahr. Wahrscheinlicher ist aber, dass der EU-Haushalt an anderer Stelle – z.B. bei Sozial- oder Kulturausgaben – zusammengestrichen wird.
Im Vergleich zu den Summen, die sie deutschen Konzernen und Banken in den Rachen wirft, handelt es sich um einen geringen Betrag. Die EU-Kommission hat ausgerechnet, dass mehr als die Hälfte der bisher in Europa genehmigten Corona-Hilfen auf Deutschland entfallen. Die französischen Hilfen machen einen Anteil von 17, die italienischen von 15,5 und die polnischen von 2,5 Prozent aus.
Die herrschende Klasse Deutschlands rechnet fest damit, dass sie ihre Vomachtstellung in Europa aufgrund der Corona-Krise ausbauen kann. Da sind einige Milliarden im Jahr ein kleiner Preis, um dem Kollaps der Europäischen Union entgegenzuwirken.
Die deutsch-französische Initiative wird die nationalen und sozialen Gegensätze in Europa weiter vertiefen. Nur eine gemeinsame Offensive der Arbeiterklasse kann den Rückfall des Kontinents in Nationalismus, Krieg und Barbarei verhindern. Ihr Ziel muss die Errichtung Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa sein. Sie muss für die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und Banken und ihre Verwandlung in demokratisch kontrollierte, öffentliche Einrichtungen kämpfen. Die Milliarden, die jetzt auf die Konten der Reichen, der Banken und Konzerne fließen, müssen eingesetzt werden, um die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie zu bekämpfen.