Ein zeitgemäßer „Fidelio“ für Millionen Online-Besucher

Bis zum 11. Juli kann man auf der Arte-Mediathek Beethovens Oper „Fidelio“ aus dem Theater an der Wien verfolgen, wo sie 1805, noch unter dem Namen „Leonore“, uraufgeführt wurde. Erst ab 1814, nachdem der Komponist große Teile der Oper änderte, wurde sie ein Erfolg. Der aktuellen Inszenierung von Christoph Waltz mit den Wiener Symphonikern unter Leitung von Manfred Honeck liegt Beethovens zweite Fassung von 1806 zugrunde.

Im tiefsten Keller des Staatsgefängnisses bei Sevilla liegt seit zwei Jahren ein Oppositioneller, streng getrennt von anderen Staatsgefangenen. Florestan (Eric Cutler) war dabei, Machtmissbrauch unter der Gefängnisaufsicht von Don Pizarro (Gábor Bretz) ans Licht zu bringen. Bevor der zuständige Minister Don Fernando informiert werden kann, wird Florestan heimlich verhaftet. Für die Außenwelt, einschließlich seiner Frau Leonore (Nicole Chevalier), ist er verschollen.

Sie ahnt etwas. Als Mann verkleidet, bewirbt sie sich am Staatsgefängnis und wird als Gehilfe des Kerkermeisters Rocco (Christof Fischesser) angestellt. Seine Tochter Marzelline (Mélissa Petit) verliebt sich zum Ärger des bisherigen Verehrers Jaquino (Benjamin Hulett) in den jungen ernsthaften „Fidelio“. Marzelline träumt von Heirat, einem gemeinsamen Glück. Jaquino, der Ansprüche auf sie erhob, ist fassungslos.

Als Minister Don Fernando ankündigt, den Gerüchten über willkürliche Verhaftungen unter Pizarro nachzugehen, soll Florestan schnell aus dem Weg geräumt werden. Da Rocco sich weigert, muss Pizarro den Mord ausführen. Vorher soll Rocco in der Ecke des Verlieses ein Grab schaufeln. Fidelio, sein Gehilfe, ist voll Mitleid angesichts des halbverhungerten Gefangenen, dem Rocco die Verpflegung kürzen musste. Fidelio reicht ihm Wasser und Brot und erkennt Florestan. Als Pizarro kommt, wirft Leonore sich schützend vor ihn, gibt sich als Florestans Frau zu erkennen und zieht eine Pistole.

Trompetensignale kündigen den Minister an. Rocco entreißt Fidelio die Waffe und verschwindet mit Pizarro. Leonore bricht hoffnungslos zusammen. Wenig später sind Racherufe einer aufgebrachten Volksmenge zu hören. Leonore ist voll Angst. Doch Rocco führt den Minister, umringt vom Volk, zum Kerker. Der ordnet die sofortige Freilassung aller unschuldigen Gefangenen an. Das Ende ist Jubel. Leonore nimmt Florestan die Ketten ab, während das Volk singt: „Wer ein holdes Weib errungen, stimm´ in unsern Jubel ein! Nie wird es zu hoch besungen, Retterin des Gatten sein.“

Für den anfänglichen Misserfolg der Oper mögen künstlerische Gründe eine Rolle gespielt haben. Die vier verschiedenen Ouvertüren weisen auf Beethovens Ringen mit einer dem Stoff angemessenen Form. Generell gehörte es zu Beethovens Arbeitsweise, viel zu ändern und zu verwerfen. Der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen bezeichnet ihn in seinem neu erschienenen Buch „Ludwig van Beethoven – Musik für eine neue Zeit“ als „Formexperimentator schlechthin“.

Die später berühmt gewordene und häufig gespielte Leonoren-Ouvertüre von 1806 ist ein selbstständiges Stück, dessen Dramatik den späteren Erschaffer des Musikdramas Richard Wagner tief beeindruckte. In der Oper finden sich heitere Elemente des traditionellen Singspiels (Marzelline/Jaquino), erinnernd an Mozart, die mit hoch dramatisch-tragischen Szenen zu kollidieren scheinen, schließlich das oratorienhafte Pathos der Chöre. In gewisser Weise entsprachen Beethovens Formexperimente den gesellschaftlichen Brüchen und Kollisionen seiner Zeit.

Der Ausbruch der französischen Revolution hatte Begeisterung geweckt, aber auch die alten, feudalen Kräfte mobilisiert. Nach dem Tod des Reformkaisers Joseph II. Anfang 1790 rollte eine Welle der Reaktion über Wien, die fortschrittliche Künstler wie Mozart isolierte. Dessen „Zauberflöte“ (1791), eine Gesellschaftskritik in Form einer Zauberoper, erschien 14 Jahre vor Beethovens „Leonore“. 1792 marschierten auch österreichische Truppen gegen Frankreich.

Als sechs Jahre später der französische Dramatiker und Jurist Jean Nicolas Bouilly das Bühnenstück „Leonore“ veröffentlichte, das dem Libretto von Beethovens Fidelio zugrunde liegt, hatte der lange Bürgerkrieg die Hoffnung auf Gleichheit und Brüderlichkeit weitgehend erstickt. Das Stück beruht auf einer realen Geschichte, die Bouilly als Verwalter in Tours erlebte, als eine Frau in Männerkleidung ihren offenbar unschuldig inhaftierten Mann aus dem Gefängnis zu befreien versuchte. Aus Zensurgründen verlegte Bouilly die Handlung des Stücks nach Spanien. Die Beliebtheit des Stoffes zeigt etwas von der Stimmung der einfacheren Bevölkerung. Vor Beethoven wurde „Leonore“ bereits dreimal im Stil der volkstümlich-abenteuerlichen „Rettungsoper“ auf die Bühne gebracht.

Napoleons Kaiserkrönung Ende 1804 schockiert alle, die demokratische Hoffnungen in ihn gesetzt hatten, einschließlich Beethoven, der seine dritte Sinfonie „Eroica“ (1803) ursprünglich Napoleon widmete. Die Besetzung Wiens 1805 (kurz vor der Opern-Premiere) durch nunmehr kaiserlich-französische Besatzungstruppen verhöhnte endgültig die alten Revolutionsideale. Den französischen Offizieren, die der Uraufführung beiwohnten, missfiel Beethovens Oper und auch manch einem Wiener, der sich mit der neuen Macht arrangierte, dürfte Beethovens ernsthaftes Pathos und manche Textstelle aktuell aufgestoßen sein.

So wenn der Gefangenenchor singt: „Sprecht leise, haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick.“ Oder Pizarro, der Rocco anlügt, um ihn zum Mord zu bewegen: „Dem Staate liegt daran, den bösen Untertan schnell aus dem Weg zu räumen.“ Nicht nur Rocco weiß, wie schnell jemand offiziell zum Verbrecher erklärt wird, der „mächtige Feinde hat“. Der Kerkermeister, der bereitwillig Florestans Grab schaufelt – das Grab für die Ideale der Revolution – repräsentiert den kleinbürgerlichen Opportunismus. Der bürgernahe Beamte Don Fernando, Abgesandter eines gerechten Königs, entsprach den gängigen Hoffnungen in eine konstitutionelle Monarchie.

Beethoven hatte aus dem profanen Sensationsstück früherer Inszenierungen eine ernsthafte Oper gemacht, die die persönliche Rettungsaktion aus Liebe auf eine höhere Ebene stellte und zeitweise verboten war. Ganz im Zeichen der vorrevolutionären Hoffnung und Aufklärungsideale besteht für Florestan die höchste moralische Pflicht in Liebe und Treue zur Wahrheit. Ohne Wahrheit – kein Recht. Dafür bringt er große persönliche Opfer. Leonores eheliche Treue besteht darin, dass sie Florestans Grundsätze teilt. („Ich hab in Gott und Recht Vertrauen“). Die Wachsoldaten Pizarros kennen dagegen Treue nur als Befehlsgehorsam.

Der Musikwissenschaftler Dieter Rexrodt weist in seiner Beethovenbiografie darauf hin, dass die heute gespielte Oper „Fidelio“, die einen Monat nach der Abdankung Napoleons im Mai 1814 ihre erfolgreiche Premiere erlebte, die Frage der Befreiung stärker als utopisches Fernziel behandelt, als die ursprüngliche Fassung. Es entsprach der Realität der Restaurationszeit. Die alten Kräfte hatten gesiegt. Trotzdem war nicht alles beim Alten.

Beethovens Hauptfiguren sind Vertreter der unteren Stände, die vor der Revolution verachtet wurden. Sie sind nun die Träger tiefer Gefühle und Sehnsüchte, ihre Handlungen tragisch, kämpferisch, dramatisch. Lange war dies den Heldenfiguren des Hochadels vorbehalten. Auch eine Frau, wie Marzelline, wird ernst genommen, wenn sie ihre rein häusliche Vorstellung von Glück äußert. (Sie und Jaquino erinnern nur entfernt an Papagena und Papageno in Mozarts „Zauberflöte“) Rocco, der sich als Staatsbeamter unterordnet und anpasst, wird nicht als typisierte Figur, sondern widersprüchlich und dynamisch gezeigt.

Roccos Gold-Arie – „Hat man nicht auch Gold beineben kann man nicht ganz glücklich sein“ – hatte Beethoven in seiner zweiten Aufführung von 1806 gestrichen. Sie war aber beim Publikum so beliebt, dass sie in seiner letzten Fassung von 1814 wieder aufgenommen wurde. Und auch Christoph Waltz‘ heutige Fassung will nicht auf sie verzichten.

Zweifellos spricht aus der Oper die Erfahrung mit der realen Revolution. Nichts ist selbstverständlich. Vernunft und Wahrheit: Alles wird durch Kampf entschieden. Ohne Leonores Kampf wäre Florestan tot. Das verleiht der Musik jene Dringlichkeit, die immer Menschen in ihren Bann gezogen hat.

2015 kritisierte die WSWS eine postmoderne Fidelio-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, die diese Kraft geradezu zu fürchten schien und sie zur selbstzerstörerischen Leidenschaft im Innern des in sich gefangenen Individuums erklärte. Schlimmer kann man Beethoven nicht verfälschen.

Die Inszenierung von Christoph Waltz entspricht dem auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ausgerichteten Freiheitsideal der Oper. Gefängnis und Gefangene wecken Assoziationen zur Gegenwart. Das Bühnenbild besteht aus einer sich durch Zeit und Raum windenden Treppe, die sich durch unterschiedliche Beleuchtung, der Szene gemäß, wandelt. Mal findet man sich im finsteren Kerker, durch den Rocco und Fidelio sich mit Taschenlampe ihren Weg bahnen, mal erscheint das große Oval zwischen den Treppen, begleitet von aufwühlenden Orchesterpassagen, wie das Auge des Taifuns. Die arbeitsuniformhafte Kleidung aller Beteiligten unterstreicht die allgemeine Gefängnisatmosphäre der Welt.

Eine andere Inszenierung dieses Jahres in Bonn hat, mit der Verlegung der Handlung in die Türkei, diese Gefängnisatmosphäre mit Vorurteilen aufgeladen, als könne man nur das Regime von Erdogan mit dem konterrevolutionären Regime im Wien und Paris um 1805 vergleichen.

Dem Gefangenenchor hat Waltz eine große Dimension verliehen. Da taumeln nicht realistischer Weise kranke Häftlinge ans Licht. Unverbrauchte, normale Menschen warnen: „Vorsicht, wir sind belauscht“. Das verbindet heute jeder mit der globalen Überwachung, die Edward Snowden ans Licht brachte. Die Umstände der Verhaftung Florestans und seine Folter erinnern, ohne dass man speziell darauf hinweisen müsste, an Julian Assange und Chelsea Manning. Und wenn Leonore singt: „Die Grausamkeit des Tyrannen gibt mir Kraft“, versteht dies ein heutiges Publikum.

Waltz hat große Sorgfalt auf das lebendige Spiel der Darsteller verwandt, ein gelungener Kontrast zur drückend, grauen Atmosphäre. Dabei kam ihm die große Erfahrung als Filmschauspieler zugute, das Gefühl für Genauigkeit und die feinen Nuancen, die eine Filmkamera registriert. Das Bühnen-Volk besteht aus Individuen, die unmittelbar vor dem Fall des Vorhangs im gleißenden, fast weiß-kühlen Zukunftslicht miteinander verschmelzen. Die Botschaft der Oper, „Alle Menschen werden Brüder“, die auch Beethovens 9. Sinfonie kennzeichnet, ist eindeutig und bekommt durch die aktuelle Corona-Krise zusätzlich auffordernde Konkretheit.

Die Premiere der gelungenen Inszenierung mit hervorragendem Ensemble, die aus Corona-Not heraus zur reinen Fernseh- und Internetpremiere wurde, erreichte letztlich ein viel breiteres Publikum und es bleibt zu wünschen, dass sich die Möglichkeit in Zukunft weiter etabliert.

Loading