Eine neue Sicht auf Mozart (2)

Buchbesprechung: Helmut Perl, Der Fall Mozart. Aussagen über ein missverstandenes Genie, Zürich Mainz 2005

Die Zauberflöte - ein politisches Lehrstück

Wenn Tugend und Gerechtigkeit

der Großen Pfad mit Ruhm bestreut,

dann ist die Erd ein Himmelreich

und Sterbliche den Göttern gleich.

(Finale des ersten Aktes der Zauberflöte)

Helmut Perls Buch ist auch deshalb so lesenswert, weil er Mozarts politische Gesinnung nicht von seinem Werk trennt. Anhand seiner letzten Opern Zauberflöte und La Clemenza di Tito weist er nach, dass Mozart sogar nach Einsetzen der Reaktion in Wien das politische Programm der Aufklärung musikalisch zum Ausdruck brachte.

Schon früher haben Mozartforscher auf die Freimaurersymbolik in der Zauberflöte verwiesen - Symbole wie die drei Hammerschläge, die schon in der Ouvertüre auftauchen und an das Willkommensritual für die Lehrlinge, Gesellen und Meister in der Freimaurerloge anklingen; überhaupt die Zahl Drei (drei Damen, drei Knaben); die Gegenüberstellung von Nacht und Tag, Licht und Dunkel; die Prüfungen von Tamino und Papageno analog des Aufnahmezeremoniells in den Logen usw. - ohne jedoch den politischen Inhalt der Oper zu analysieren.

Viele Inszenierungen, wie Helmut Perl aufzeigt, verwandeln die Zauberflöte in eine reine Märchenoper oder in ein Mysterienspiel oder verdrehen sogar die ursprünglichen Intentionen Mozarts und seines Librettisten Emanuel Schikaneder, beispielsweise wenn Sarastro als Bösewicht oder Dämon gezeigt wird und seine Priester in Soutanen klerikaler Orden auftreten.

Die Zauberflöte ist ein politisches Lehrstück, das das Publikum in Mozarts Tagen sehr gut verstand. Das Märchenhafte war der Notwendigkeit geschuldet, aufgrund der verschärften Zensur nach dem Tod Kaiser Josephs eine "Gratwanderung zwischen notwendiger Camouflage einerseits und Verständlichkeit der Botschaft andererseits" zu vollziehen. Eine antifeudale Aussage musste in ein harmloses Geschehen auf der Bühne verwandelt werden, was Schikaneder mit Einführung von bekannten Wiener Theaterelementen gelang: Dazu gehören die Figur des Papageno und seine Ähnlichkeit mit Kasperlgestalten der Wiener Komödie, oder Handlungsmomente wie die Verwandlung der alten Frau in ein jugendliches Weib, ebenfalls die Verlegung des Geschehens nach Altägypten.

Dass es aber um die Ideen der Aufklärung geht, wird an vielen Motiven der Oper deutlich. So erinnerte in der ursprünglichen Fassung der runde Tempel auf der Bühne, aus dem die drei verschleierten Damen kamen, an die Fassade einer jesuitischen Kirche in Rom. Die drei Damen waren schwarz gekleidet wie Kapuzinerinnen der Wiener Klöster, das heißt sie wurden gleich als Vertreter der Gegenreformation und des Klerus identifiziert. Dazu passte die Szene mit der Flucht des Helden Tamino vor der Schlange, eine Allegorie für die Erbsünde, die eben nur die Kirche, vertreten durch die drei Damen, überwinden kann.

Die Musik Mozarts unterstreicht diese Bedeutung: Die Damen singen im liturgischen Rezitationston die Absolutionsformel: "Die Königin begnadigt dich, erlässt die Strafe Dir durch mich" (mit der barocken musikalischen Figur d-f-e-g). Dies wird musikalisch parodiert durch wiederholte Beteuerung des vom Zölibat verlangten Liebesverzichts: "Würd’ ich mein Herz der Liebe weih’n ... Wir wären gern bei ihm allein, bei ihm allein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, das kann nicht sein!" Das Motiv "Schloss vor den Mund" war ebenso sofort erkennbar als Anspielung auf das Publikationsverbot der Kirche für unliebsame Autoren

Das zu Beginn eingeführte Konzept der Erbsünde wird im Verlauf der Oper dem Konzept der irdischen Glückseligkeit gegenübergestellt. Im zweiten Auftritt wird ein weiteres Thema der Aufklärung angesprochen: Im Dialog von Tamino und Papageno wird letzterer eher negativ gezeichnet und nicht, wie in späteren Inszenierungen, als sympathischer Naturbursche.

Papageno hat keine Ahnung von Politik und Religion und empfindet sein Unwissen nicht als Manko, sondern als notwendige Unterordnung. Tamino hat sogar ein Problem, ihn als Mensch anzuerkennen: "Ich zweifle, ob du Mensch bist!" Die Figur des Papageno soll den unmündigen und manipulierbaren Menschen zeigen - analog zum berühmten Kant’schen Imperativ, Aufklärung sei "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit".

Schließlich widerlegt Helmut Perl die Auffassung, die Königin der Nacht habe sich im Verlauf der Oper vom Guten zum Bösen gewandelt. Nachdem die drei Damen Tamino dazu verleitet haben, gegen den "Bösewicht" Sarastro, in dessen Einflussbereich sich Pamina befindet, den Kampf aufzunehmen, erscheint die Königin der Nacht auf einem Thron, "welcher mit transparenten Sternen geziert ist". Sie "erscheint so, wie das Publikum sie aus den zahllosen Berichten über vorgebliche Marienerscheinungen in aller Welt kannte." (Der Fall Mozart. Aussagen über ein missverstandenes Genie, S. 104)

Das heißt, laut Helmut Perl war mit der Königin der Nacht niemand anderes als Maria gemeint, allerdings weniger in ihrer Eigenschaft als Mutter Christi, denn als Symbolfigur der katholischen Kirche. "Unmissverständlicher konnte das gar nicht formuliert und dargestellt werden. Die Königin greift denn auch im Stile der zeitgenössischen klerikalen Literatur sogleich die Polemik gegen die Aufklärer auf: Die Tochter - also die gläubige Gemeinde - fehle ihr; ‚ein Bösewicht, ein Bösewicht’ - mit emphatischer Empörung durch Herausheben in Stimme und Orchester - ‚entfloh mit ihr’." (ebd. S. 105)

Auch hier unterstreicht Mozart diese Interpretation mit musikalischen Mitteln. Die Arie der Königin der Nacht beginnt zunächst im Stil von Kirchenmusik, um dann plötzlich in virtuose Koloraturen umzuschlagen, ohne dass es einen erkennbaren Bezug zum Text gäbe. Mozart parodiert damit den italienischen Gesangsstil, karikiert die angeblich gutmeinende Königin und zeichnet sie ins Negative.

Eine Marienerscheinung auf die Bühne zu bringen war provokant und hat sicher die klerikalen Antireformer in Kaiser Leopolds Staat erst recht gegen Mozart aufgebracht. Inszenierungen nach Mozarts Tod haben deshalb gezielt diese Szene umgedeutet und die Königin der Nacht zumindest im ersten Teil der Oper als gute Fee dargestellt, deren Mordgedanken lediglich aus Liebe zur Tochter Pamina entstanden seien.

Am Ende des ersten Aktes wird die programmatische Stoßrichtung der Zauberflöte deutlich: Die Bühnenanweisung sieht drei Tempel - Weisheit, Vernunft, Natur - in einem Götterhain vor. Hier residieren Sarastro, in dem vermutlich der Meister der Loge "Zur wahren Eintracht" Ignaz von Born dargestellt wurde, und seine Priester. Der Bezug zur Aufklärung und deren Idealen ist auffallend: Die menschliche Gesellschaft sollte der Vernunft und den Gesetzen der Natur gehorchen, anstatt die religiös begründeten Machtverhältnisse des Absolutismus aufrecht zu erhalten.

Zur Zeit Mozarts waren gerade Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und Kritik der reinen praktischen Vernunft (1788) sowie L’Esprit des Lois von Montesquieu (auf Deutsch 1782) publiziert worden und wurden von den Illuminaten diskutiert. Die Zauberflöte griff diese Vorstellungen auf: Eine wahrhaft menschliche Gesellschaftsordnung kann es nur geben, wenn der Herrscher nicht mehr Macht beansprucht, als zum allgemeinen Wohlergehen des Volkes nötig ist: "...dann ist die Erd ein Himmelreich und Sterbliche den Göttern gleich" singt der Chor der Priester.

Im Kern war dies der Contrat social, den Jean-Jacques Rousseau schon 1762 gefordert hatte. Kant formulierte diese Vorstellung in Idee zu einer allgemeinen Geschichte noch deutlicher als die Notwendigkeit der "Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft".

Jeder wusste in Wien, dass Kant die französische Revolution begrüßt hatte und verteidigte. Auch hier wurden die Forderungen nach Demokratie immer lauter. Mit der beginnenden Reaktion unter Leopold II. wurde offensichtlich, dass der absolute Staat nicht reformierbar war.

Mozarts Zauberflöte stellte in dieser Situation klar: Wir Illuminaten teilen die Ideen der Revolution, aber lehnen Gewaltakte ab: "In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht! ... In diesen heil’gen Mauern, wo Mensch den Menschen liebt, kann kein Verräter lauern, weil man dem Feind vergibt. Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein." (Arie des Sarastro, 2. Aufzug, 12. Auftritt)

Einige Schlussbemerkungen

Ein Artikel reicht nicht aus, um Mozarts Musik zu charakterisieren. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes unerschöpflich. Man könnte vieles sagen zur Art und Weise, wie Mozart barocke Kompositionsformen, Sonate, Fuge, Rezitativ usw. übernimmt und diese Formen spielerisch aufbricht. Man könnte seine ständige Suche nach neuen Klangmöglichkeiten, vor allem in seinen letzten Lebensjahren, aufzeigen: seine Einbeziehung neuer Instrumente wie der Klarinette, des Bassetthorns, der Glasharmonika und seine manchmal ungewöhnliche Besetzung von Kammerorchestern.

Es würde sich auch lohnen, seine Streichquartette zu untersuchen, die als neue Gattungsform in seiner Zeit in Mode kamen. Man könnte aufzeigen, wie in Mozarts Quartetten die Instrumente geradezu in den Dialog, in eine gleichberechtigte Diskussion zueinander treten, sich die Tonfiguren wie Bälle zuwerfen, sie auffangen und wieder zurückgeben - also das demokratische Programm der Aufklärung und der Revolution sozusagen in der Sprache der Musik wiedergeben.

Was ist das Neue, Rebellische an Mozarts Musik, was unterscheidet sie von der Musik seiner barocken Vorgänger? Was lässt noch heute den aufmerksamen Zuhörer immer wieder aufhorchen?

Es ist nicht mehr die polyphone Musik des Barock, die noch die feudale Ordnung und die Beziehung der Menschen zu Gott widerspiegelt. Es ist auch noch nicht die romantische Musik, die die Gefühle und die Einsamkeit des Individuums thematisiert. Mozart und die Wiener Klassik repräsentieren vielmehr den kulturellen, geistigen und politischen Aufbruch zur Zeit der bürgerlichen Revolution, die Teilhabe der Musik an der Schaffung einer neuen, vernünftigen und gerechteren Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Man spürt Mozarts Verpflichtung diesem gesellschaftlichen Aufbruch gegenüber, die Diesseitigkeit seiner Musik, den Optimismus und die Hoffnung auf eine neue Zukunft, die noch kaum von Weltschmerz und Todessehnsucht, wie beispielsweise bei Schubert, getrübt ist.

Helmut Perl weist darauf hin, dass zu Mozarts Zeit die Musik "keineswegs nur als Unterhaltung verstanden wurde. Sie trat gleichberechtigt oder gleichwertig neben Philosophie und Naturwissenschaften, die in den Logen betrieben und gelehrt wurden. Musik, traditionell seit Jahrhunderten unter den Humaniora, stand nunmehr direkt im Zusammenhang mit der modernen bürgerlichen Emanzipationsbewegung, der Aufklärung. Musik selbst wurde als Medium der Aufklärung verstanden, Zauberflöte, Sinfonien und Maurermusiken reden in einer Sprache. Die sogenannten Wiener Klassiker waren Mitglieder der Illuminatenlogen, oder sie standen, wie Beethoven, ihren Ideen geistig nahe." (ebd. S. 17)

An späterer Stelle macht Perl einen weiteren wichtigen Punkt: "Europa brannte innen und außen. Und die Epoche war künstlerisch so produktiv, dass sie mit dem Namen Klassik belegt wurde. Der Begriff assoziiert uns heute ein ‚Hochkünstlerisch’, aber auch eine Art ideologischer und politischer Neutralität, die wir jenen klassischen Kunstprodukten und denen, die sie schufen, zuordnen. Das scheint ein Missverständnis zu sein." (ebd. S. 132)

Als Programmmusik, als "Predigt der Aufklärung", bezeichnet Ekkehart Krippendorff Mozarts Musik in seinem Buch "Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart" (Frankfurt/M. 1999). Das Todesjahr von Händel und Bach, 1750, habe das Ende der christlichen, kulturellen Verbindlichkeiten bedeutet. Die Musik musste sich auf der Grundlage einer "Bürgerreligion der Vernunft und Humanität" neu orientieren, die "Komplexität, aber auch den Reichtum und die Vielgestaltigkeit, die Vieldimensionalität der neu zu entdeckenden und neu zu erfahrenden Humanität zur Sprache" bringen.

Genau das fasziniert an Mozarts Musik: Sie ist unglaublich facettenreich, menschlich, rebellisch, befreiend und für jedermann verständlich. Vielleicht können wir heute die fortschrittliche Botschaft seiner Musik besser verstehen, weil erneut die Veränderung der herrschenden Ordnung, die Schaffung einer gerechteren, menschlicheren Gesellschaft zur dringenden Aufgabe wird.

Siehe auch:
Eine neue Sicht auf Mozart (1)
(5. Mai 2006)
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