Perspektive

Merkels Corona-Rede an die Nation: kriminelle Verantwortungslosigkeit

Merkels gestrige Rede an die Nation bestand aus einer zentralen Botschaft: die Bundesregierung wird nichts tun, um eine Katastrophe von der Bevölkerung abzuwenden. Obwohl Europa laut Ansicht der Weltgesundheitsorganisation inzwischen das Zentrum der Corona-Pandemie ist und sich täglich weit über zehntausend Menschen neu infizieren und mehrere hundert sterben, verkündete die Kanzlerin keine einzige konkrete Maßnahme. Sie versprach weder zusätzliche Gelder für das Gesundheitswesen, noch den Bau neuer Krankenhäuser. Auch über die Anschaffung und Produktion dringend benötigter medizinischer Geräte und Testkits verlor Merkel kein Wort.

Die Kanzlerin erklärte zwar, dass „unser Land“ vor der größten Herausforderung „seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg“ stehe, schob die Verantwortung für den Ausgang der Krise aber allein auf die Bevölkerung ab. Merkel behauptete, dass Deutschland „ein exzellentes Gesundheitssystem, vielleicht eines der besten der Welt“ habe. Gleichzeitig fügte sie warnend hinzu: „Aber auch unsere Krankenhäuser wären völlig überfordert, wenn in kürzester Zeit zu viele Patienten eingeliefert würden, die einen schweren Verlauf der Coronainfektion erleiden.“ Es müsse deshalb darum gehen, „die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen“.

Am Ende ihrer Rede ließ Merkel keinen Zweifel daran, dass sich die herrschende Klasse längst damit arrangiert hat, dass es auch in Deutschland eine hohe Anzahl an Todesopfern geben wird. „Dass wir diese Krise überwinden werden, dessen bin ich vollkommen sicher. Aber wie hoch werden die Opfer sein? Wie viele geliebte Menschen werden wir verlieren? Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand“, erklärte Merkel. Die Situation sei „ernst“ und „offen“. Es werde „nicht nur, aber auch davon abhängen, wie diszipliniert jeder und jede die Regeln befolgt und umsetzt“.

Merkels Ausführungen waren gleich in mehrfacher Hinsicht zynisch und kriminell. Tatsächlich gibt es in Deutschland, anders als in den meisten anderen europäischen Ländern, trotz der sich massiv ausbreitenden Pandemie nach wie vor keine strikten Quarantänemaßnahmen zur Eindämmung des Virus. Die Schließung von Universitäten, Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten und von Betrieben und Geschäften kam nicht nur zu spät, sondern wird oft nur halbherzig umgesetzt. Millionen sind nach wie vor gezwungen, auf die Arbeit zu gehen, und gefährden damit sich und viele andere. Der öffentliche Verkehr läuft nahezu uneingeschränkt weiter, ohne jegliche Schutzmaßnahmen für Personal und Fahrgäste.

Als Folge infizieren sich immer mehr Menschen mit dem gefährlichen Virus. Allein gestern stieg die Zahl um 2.960 auf mittlerweile 12.327. In den nächsten Wochen wird sie regelrecht explodieren. Der Leiter des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, warnte gestern vor bis zu zehn Millionen Infizierten in zwei bis drei Monaten allein in Deutschland. „Wir haben ein exponentielles Wachstum. Wir sind am Anfang eine Epidemie, die noch viele Wochen und Monate unterwegs sein wird“, erklärte er auf einer Pressekonferenz.

Obwohl die Entwicklung in Deutschland damit erst am Anfang steht, ist das Gesundheitssystem bereits jetzt am Limit. Laut einer Umfrage des Ärzte-Netzwerks Coliquio erklärten bereits Anfang März über 50 Prozent der Mediziner, dass es ihnen an Schutzausrüstung und Desinfektionsmitteln fehle. Weitere 30 Prozent verfügten kaum noch über Vorräte. Seitdem hat sich die Situation weiter verschärft. In einer wütenden Petition an Gesundheitsminister Jens Spahn, die innerhalb kurzer Zeit über 142.000 Unterschriften erhielt, fordern Pflegefachkräfte nachdrücklich „eine sofortige Organisation der Beschaffung von wirksamer Schutzmaterialien unter Einbezug aller Möglichkeiten“.

Selbst wenn die Bundesregierung in den nächsten Tagen, ähnlich wie in Italien oder Frankreich, das gesellschaftliche Leben nahezu komplett einschränken und eine Ausgangssperre verhängen sollte, kann nur durch eine massive Mobilisierung finanzieller Mittel im Gesundheitssektor der drohende Tod von Zehntausenden verhindert werden. In Italien erlagen trotz weitgehender Qarantänemaßnahmen allein gestern 475 Menschen dem Virus. Jeden Tag können Tausende von neuen Infizierten aufgrund des völlig überlasteten Personals und in Ermangelung der notwendigen medizinischen Voraussetzungen – darunter eine ausreichende Zahl an Notfallbetten und Beatmungsmaschinen – nicht mehr adäquat behandelt werden. Viele, vor allem ältere Infizierte, werden gar nicht mehr behandelt und dem Tod überlassen.

Auch in Deutschland hat die herrschende Klasse über viele Jahre die Grundlage für eine ähnliche Katastrophe gelegt. Das Gesundheitssystem wurde von allen Regierungsparteien systematisch kaputtgespart und privatisiert. Krankenhäuser, Laborkapazitäten und flächendeckende Behandlungsmöglichkeiten wurden massiv reduziert. Allein zwischen 1990 und 2010 wurden ca. 180.000 Krankenhausbetten (-26 Prozent) abgebaut, 360 Krankenhäuser (-15 Prozent) abgewickelt und damit einhergehend auch die Anzahl der Krankenhausbetten für die akut-stationäre Versorgung deutlich reduziert. Die nun angekündigte Aufstockung der Intensivbetten und die geplante Errichtung eines Krankenhauses mit 1000 Betten in Berlin in den nächsten vier Wochen sind da nicht einmal der berüchtigte Tropfen auf den heißen Stein.

Gleichzeitig fand in den letzten 30 Jahren die größte Umverteilung des Reichtums von unten nach oben in der deutschen Geschichte statt. Während die Hartz-IV-Reformen und andere Austeritätsmaßnahmen Millionen in Armut und den sozialen Abgrund gestürzt haben, wurden die Vermögen der Banken und Superreichen nach der Finanzkrise 2008/2009 mit zig Milliarden und Billionen gerettet. Europaweit wurden anschließend vor allem unter dem Diktat der deutschen Regierung die Sozial- und Gesundheitssysteme zerstört. Auch deshalb ist die Lage gerade in Italien und Spanien – Länder die Merkel in ihrer nationalistisch ausgerichteten Ansprache mit keiner Silbe erwähnte – so dramatisch.

Es wird immer deutlicher, dass die herrschenden Klasse die Coronakrise als Möglichkeit sieht, ihre brutale Klassenpolitik zu verschärfen. Sie setzt lang geplante Staatsaufrüstungsmaßnahmen ins Werk und ist bereit, Millionen Alte und Kranke sterben zu lassen, um weitere Kürzungen im sozialen Bereich durchzusetzen und zusätzliche Milliarden in die Taschen der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Eliten des Landes zu transferieren.

Der neue Bundeshaushalt, den das Bundeskabinett am nächsten Mittwoch beschließen will, sieht eine weitere Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die erneute Einhaltung der berüchtigten „schwarzen Null“ vor. Das sogenannte Notfallpaket der Großen Koalition, das Ende vergangener Woche von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vorgestellt wurde, dient vor allem den Interessen der Finanzoligarchie. Während für Gesundheit und Soziales angeblich kein Geld da ist, bekommen die großen Konzerne und Banken nahezu unbeschränkten Zugriff auf den Staatshaushalt.

Wir haben bereits nach Merkels lapidarer Feststellung vor einer Woche, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infizieren werden, geschrieben: „Solche Erklärungen zeigen nicht einfach Inkompetenz, sie sind politisch kriminell. 75 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs herrscht innerhalb der Finanzaristokratie eine faschistoide Haltung gegenüber der Arbeiterklasse, die an den Umgang mit den Galeerensklaven im antiken Rom erinnert: Arbeite bis du stirbst.“

Die gleiche Haltung verbarg sich hinter Merkels pastoralen Solidaritätsaufrufen gestern, die Arbeiter und Jugendliche mit Verachtung zurückweisen müssen. Sie stehen vor der Aufgabe mit einer herrschenden Klasse und einem System abzurechnen, das nicht nur dabei versagt, ihre Gesundheit sicherzustellen, sondern sogar ihren Tod in Kauf nimmt. Arbeiter und Jugendliche brauchen ihr eigenes Aktionsprogramm, das auf die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zielt. Ganz unmittelbare Forderungen, um die drohende Katastrophe abzuwenden, sind:

Kostenlose und hochwertige Behandlung für alle! Es müssen Ressourcen bereitgestellt werden, um alle Menschen, unabhängig von Einkommen und Krankenversicherung, auf dem höchsten Niveau medizinisch zu versorgen. Ältere Menschen, Gefängnisinsassen, Obdachlose und Flüchtlinge, die in unhygienischen Lagern festsitzen, benötigen umgehend besondere Schutzmaßnahmen.

Quarantäne zur Eindämmung des Virus! Um Millionen Menschen in den kommenden Wochen und Monaten vor Infektion und Tod zu schützen, müssen alle notwendigen Quarantänemaßnahmen eingesetzt werden. Gleichzeitig müssen die demokratischen Rechte und die persönliche Würde aller Menschen respektiert werden. Arbeiter, Kleinunternehmer und ihre Familien, die aufgrund von Quarantäne zuhause bleiben, müssen soziale Unterstützung, Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs erhalten.

Für den Aufbau unabhängiger Betriebs- und Nachbarschaftskomitees! Arbeiter müssen sich zur Koordinierung und Mobilisierung ihrer kollektiven Stärke unabhängig organisieren, um sicherzustellen, dass die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Das Schicksal der Menschheit darf nicht dem Polizeistaat der Finanzaristokratie überlassen werden, deren einziges Ziel darin besteht, die Aktienmärkte und ihr Vermögen zu schützen.

Siehe auch:

Wie die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen ist: Ein Aktionsprogramm für die Arbeiterklasse

[18. März 2020]

Merkels Botschaft zu Coronavirus: Millionen werden sterben

[12. März 2029]

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