Johnson-Regierung wegen ihrer Politik der „Herdenimmunität“ gegen COVID-19 in der Kritik

Immer mehr Epidemiologen, Gesundheitsexperten und andere Wissenschaftler üben Kritik an der konservativen britischen Regierung von Boris Johnson wegen ihrer Politik der „Herdenimmunität“ gegen das tödliche Coronavirus.

Letzten Donnerstag erklärte Johnson bei einer Pressekonferenz in der Downing Street: „Ich muss der britischen Öffentlichkeit die Wahrheit sagen: Noch viel mehr Familien werden geliebte Menschen vor ihrer Zeit verlieren.“

Dabei handelt es sich nicht um Offenheit, sondern um bewusste Politik. Zahlreiche Beweise belegen, dass sofortige Maßnahmen notwendig sind, um das Virus einzudämmen und Menschenleben zu retten, u.a. müssen Regionen und ganze Länder unter Quarantäne gestellt werden. Doch Johnson beharrte auf seiner Politik der „Stufen“, die nicht einmal die Absage großer Veranstaltungen oder die Schließung von Schulen beinhaltet.

Den Grund dafür machte Dr. David Halpern, ein Mitglied der Wissenschaftlichen Beratergruppe für Notfälle (SAGE), am Mittwoch deutlich. Er erklärte gegenüber der BBC, die Regierung wolle zu einem noch nicht genannten Zeitpunkt „Risikogruppen isolieren, sodass sie sich nicht mit der Krankheit infizieren. Wenn sie aus der Isolation entlassen werden, hat der Rest der Bevölkerung bereits eine Herdenimmunität entwickelt.“

Der leitende wissenschaftliche Berater der Regierung, Sir Patrick Vallance, bekräftigte diese Botschaft. Er stand bei der Pressekonferenz neben Johnson und Chris Whitty, dem obersten Gesundheitsberater Englands, und erklärte der Presse: „Es ist nicht möglich, alle davor zu schützen, und es ist auch nicht wünschenswert, weil man eine gewisse Immunität in der Bevölkerung haben möchte, um uns in Zukunft zu schützen.“ [Hervorhebung hinzugefügt]

Da es noch keinen Impfstoff gegen COVID-19 gibt und es ihn auch so bald nicht geben wird, hätte eine „Herdenimmunität“ keinen Einfluss auf den derzeitigen Ausbruch des Virus, sondern erst auf künftige Ausbrüche. Vallance erklärte gegenüber Sky News: „Wir glauben, dieses Virus wird vermutlich jedes Jahr wiederkommen, sich zu einem saisonalen Virus entwickeln [...] Gemeinschaften werden immun dagegen werden, und das wird wichtig sein, um ihn längerfristig zu kontrollieren. [...] Für eine Herdenimmunität braucht man etwa 60 Prozent.“

Laut Whitty ist selbst diese Schätzung zu niedrig. Ein Journalist von Sky News erklärte bei der Pressekonferenz, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel habe von einer möglichen Infektionsrate von 70 Prozent gesprochen. Er fragte, wie groß nach Schätzung der Regierung der Anteil der britischen Bevölkerung sein werde, der sich infizieren wird, und „wie viele Ihrer Schätzung nach tatsächlich sterben werden“. Whitty antwortete: „Unsere Höchstzahl im Falle eines begründeten Worst-Case-Szenarios ist höher als die der Bundeskanzlerin. Tatsächlich gehen wir in unserer Planungsprämisse von bis zu 80 Prozent der Bevölkerung aus, die sich infizieren werden [...] die allgemeine Sterblichkeitsrate liegt unserer Meinung nach bei einem Prozent oder weniger, jedoch höher bei älteren und gefährdeten Gruppen, in anderen Gruppen niedriger.“

Whitty erklärte außerdem: „Es ist nicht mehr notwendig, dass wir jeden Fall identifizieren.“

Eine Infektionsrate von 60 Prozent würde bei der britischen Bevölkerung von 66,5 Millionen Menschen bedeuten, dass sich etwa 40 Millionen Menschen mit COVID-19 infizieren müssen, um eine „Herdenimmunität“ zu erhalten, von denen acht Millionen schwere oder kritische Fälle wären und im Krankenhaus behandelt werden müssten. Wenn Whittys „begründetes Worst-Case-Szenario“ von 80 Prozent eintreten würde und die Sterblichkeitsrate nur ein Prozent beträgt, würden 500.000 Menschen sterben.

Die Regierung geriet sofort in die Kritik. Der ehemalige Direktor von Public Health England, Professor John Ashton, erklärte in der BBC-Sendung „Question Time“: „Wir haben hier die Orientierung verloren. [...] Wir haben immer noch nicht das unternommen, was wir vor vier oder fünf Wochen hätten tun sollen.“

Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, erklärte: „Man kann ein Virus nicht bekämpfen, wenn man nicht weiß, wo es ist. Finden, isolieren, testen und alle Fälle behandeln, um die Ketten der COVID-Übertragung zu durchbrechen. Jeder Fall, den wir finden und behandeln, begrenzt die Ausbreitung der Krankheit. Man darf dieses Feuer nicht einfach brennen lassen.“

Am Samstag riefen 245 Experten die Regierung in einem offenen Brief dazu auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen. Zu den Unterzeichnern gehören Experten der Immunologie, Biologie, Medizin und für komplexe Systeme. In dem Brief hieß es: „Eine ,Herdenimmunität‘ aufzubauen, scheint momentan keine tragfähige Option zu sein, da der [staatliche Gesundheitsdienst] NHS dann noch stärker belastet wird und noch viel mehr Menschenleben unnötig gefährdet werden.“

Weiter warnte er: „Die derzeitigen Daten über die Zahl der Infektionen in Großbritannien entsprechen den Wachstumskurven, die bereits in anderen Ländern beobachtet wurden, u.a. in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland. Die gleichen Daten deuten darauf hin, dass die Zahl der Infizierten in wenigen Tagen in einen fünf- oder sechsstelligen Bereich steigen wird [...] Wenn jetzt gesellschaftliche Distanzierungsmaßnahmen eingeführt werden, können die Ausbreitung dramatisch verlangsamt und Tausende von Menschenleben gerettet werden.“

William Hanage, der an der T.H. Chan School of Public Health der Universtität Harvard die Entwicklung und Epidemiologie von Infektionskrankheiten lehrt, schrieb im Guardian: „Wir sprechen darüber, dass Impfstoffe eine Herdenimmunität schaffen, also warum ist das etwas anderes? Weil das kein Impfstoff ist. Es ist eine tatsächliche Pandemie, die sehr viele Menschen krank machen und einige das Leben kosten wird. Selbst wenn die Sterblichkeitsrate vermutlich sehr niedrig ist, so ist ein kleiner Bruchteil von sehr vielen immer noch viel. Und die Sterblichkeitsrate wird steigen, wenn der NHS überlastet ist.“

Am Samstag schrieben Experten für öffentliche Gesundheit, darunter der Chefredakteur der Lancet, Dr. Richard Horton: „Es gibt keine klaren Hinweise darauf, dass sich Großbritannien bei seinen Versuchen, die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen, an den Erfahrungen anderer Länder orientiert.“ Und er wollte den Grund dafür wissen.

Die einzige öffentliche Erklärung war Whittys Stellungnahme auf der Pressekonferenz: „Wenn wir zu früh handeln, ermüden die Leute [...] Wir haben einen langen Weg vor uns.“ Mehr als 200 britische Psychologen und Sozialwissenschaftler unterzeichneten einen offenen Brief, in dem sie diesen Versuch, der Bevölkerung die Schuld an der Untätigkeit der Regierung zu geben, kritisierten. Darin hieß es: „Wir sind nicht überzeugt, dass genug über ,verhaltensbezogene Ermüdung‘ bekannt ist, oder inwieweit diese Erkenntnisse auf die derzeitigen außergewöhnlichen Umstände angewandt werden können. Solche Beweise sind notwendig, wenn wir eine hochriskante Strategie für die öffentliche Gesundheit darauf basieren wollen.“

Die British Society for Immunology, das wichtigste professionelle Gremium, erklärte, es habe „wichtige Fragen“ zur Politik der „Herdenimmunität“: Diese „Strategie kann ernste Krankheiten nur dann reduzieren, wenn beim Aufbau dieser Immunität gefährdete Personen vor Ansteckung geschützt werden, beispielsweise durch soziale Distanzierung. Andernfalls könnte sie schwerwiegende Folgen haben.“

Als Reaktion auf diese Proteste verneinte Gesundheitsminister Matt Hancock pro forma, „Herdenimmunität“ sei „ein Ziel oder eine Strategie“ der Regierung. Doch eine Quelle aus der Downing Street erklärte gegenüber der Daily Mail, die Regierung werde ihre „Interventionen bis zur Perfektion abstimmen. [...] Wenn das auch zur Massenimmunität führt, ist das ein Bonus – aber nicht das Ziel.“

Trotz all dieser halbherzigen Dementis beweist die Regierung durch ihr Vorgehen, dass sie nicht die Absicht hat, auch nur einen Finger zur Eindämmung des Virus zu rühren. Bis Samstag wurden nur 37.746 Menschen auf das Virus getestet. Es wurden keine Quarantänemaßnahmen ergriffen: Schulen, Hochschulen, Universitäten, Sportveranstaltungen, Museen und kulturelle Institutionen sind auf Empfehlung der Regierung weiterhin in Betrieb.

Es hat sich gezeigt, dass die herrschende Elite in Großbritannien hinter verschlossenen Türen nüchtern berechnet hat, dass sie auf die Pandemie am besten reagiert, indem sie die „Herde“ dezimiert.

Mehrere Kommentatoren haben die Politik der „Herdenimmunität“ als Sozialdarwinismus beschrieben. Die kanadische Epidemiologin Helen Scott twitterte: „Als Weltbürgerin bin ich ziemlich entsetzt über die Aussicht, dass man auf das ,Überleben der Stärksten‘ setzt, wenn wir eigentlich die am meisten Gefährdeten pflegen und schützen müssten.“

Die faschistoiden Hintergründe dieser Herangehensweise zeigen sich auch an der positiven Reaktion der rechtsextremen millionenschweren Medienpersönlichkeit Katie Hopkins, die unter dem Hashtag „#60% of U.K.“ twitterte: „Hört auf euch aufzuregen! Die Ego-Generation wurde dazu erzogen, NUR an sich zu denken. Coronavirus ist ein Teamsport. Begreift es. Werdet immun, fühlt euch besser. Die Herde triumphiert.“

Die Johnson-Regierung spricht für eine Finanzoligarchie in Großbritannien und der Welt sowie deren gutbezahlte Handlanger wie Hopkins – die zu Donald Trumps Lieblingen gehört. Ihre Botschaft an die Bevölkerung ist: „Fallt tot um, es ist uns egal.“ Gleichzeitig ziehen sie sich mit ihren persönlichen Ärzten auf ihre Luxusjachten, Inseln und in ihre Katastrophenbunker zurück, bis die Gefahr einer Infektion vorbei ist.

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