Die Europäische Union und die britische Regierung haben in dieser Woche ihre Leitlinien für die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen vorgelegt. Sie sind so gegensätzlich, dass eine Einigung kaum möglich scheint. Es stehen heftige Konflikte und Auseinandersetzungen bevor, mit unabsehbaren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Folgen.
Der britische Premier Boris Johnson hat bereits mit dem Abbruch der Verhandlungen gedroht, falls sich bis Ende Juni keine Einigung abzeichnet. London wolle sich dann ganz auf einen Austritt ohne Anschlussabkommen vorbereiten, wenn die vereinbarte Übergangsphase Ende dieses Jahres ausläuft, sagte Johnson.
Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, warnte seinerseits, er erwarte „sehr schwierige Gespräche“. „Wir werden diesen Vertrag nicht um jeden Preis abschließen“, drohte er.
Die Europaminister der 27 EU-Staaten einigten sich am Montag auf rote Linien für die Verhandlungen. Sie bieten Großbritannien ein Freihandelsabkommen ohne Zölle und mengenmäßige Beschränkungen an, aber nur wenn sich London weiterhin an die meisten Regeln und Vorschriften der EU hält. Konkret nennt das 46-seitige Verhandlungsmandat gemeinsame Standards für staatliche Beihilfen, Wettbewerb, staatliche Unternehmen, Arbeits- und Sozialnormen, Umweltstandards, Klimawandel und relevante Steuern, die sich an den Vorschriften der EU orientieren.
Begründet wird dies mit der Forderung nach „fairem Wettbewerb“. Insbesondere sozialdemokratische Politiker führen auch die Abwehr von „Sozialdumping“ und „Umweltdumping“ ins Feld – was absurd ist, wen man bedenkt, zu welchen Dumpinglöhnen Arbeiter in Osteuropa, Griechenland und anderen Ländern der EU ausgebeutet werden.
Es gibt zwei Gründe, weshalb die EU eine harte Linie einnimmt.
Zum einen ist sie auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedacht. Es gehe darum, „die Interessen der Europäer zu schützen“, sagte die französische Staatssekretärin Amélie de Montchalin. Frankreich hatte lange auf wesentlich härtere Formulierungen bei den Passagen zur Wettbewerbsfähigkeit gedrängt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte schon Anfang des Monats gedroht: „Es gibt keinen Freifahrtschein in den Binnenmarkt, sondern immer nur Rechte und Pflichten.“
Der zweite Grund ist die Angst vor einem weiteren Auseinanderbrechen der EU, sollten Zugeständnisse an London gemacht werden. Osteuropäische Länder könnten sich ermutigt fühlen, ihrerseits eine Aufweichung der Brüsseler Vorschriften zu verlangen. Insbesondere deutsche und französische Regierungsvertreter priesen daher immer wieder die große Einigkeit, mit der die 27 EU-Staaten den Verhandlungen mit London entgegensähen. „Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren lassen“, sagte der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth. Staatssekretärin de Montchalin jubelte: „Die Einheit unter uns ist total.“ Man kann sicher sein, dass hinter den Kulissen jede Menge „unwiderstehliche Angebote“ gemacht wurden, um diese Einigkeit aufrecht zu erhalten.
Für Boris Johnson und seine Regierung aus harten Brexit-Befürwortern sind die Bedingungen der EU unannehmbar. Ein Hauptziel ihrer Brexit-Kampagne bestand darin, sich von den Regeln und Vorschriften der EU zu befreien, um die Deregulierung der Wirtschaft weiter voranzutreiben.
Das britische Verhandlungsmandat plädiert zwar auch für „einen liberalisierten Handelsmarkt ohne Zölle, Gebühren oder quantitative Einschränkungen für den Handel mit Industrie- oder Landwirtschaftserzeugnissen“, lehnt aber die damit verknüpften Bedingungen der EU ab. Außerdem will London eine ganze Reihe von Fragen getrennt verhandeln, bei denen es sich in einer starken Position wähnt oder die besondere Interessen berühren.
So will es „die Kontrolle über unsere Gewässer zurückgewinnen“, indem es Booten aus EU-Ländern den Zugang zu den äußerst reichen britischen Fischereigewässern nur noch beschränkt, aufgrund jährlich neu festzulegender Quoten gewährt. Für viele französische und spanische Fischer ist das existenzbedrohend.
Die britische Regierung verlangt außerdem „ein Abkommen über die Gleichstellung von Finanzdienstleistungen, das vor Ende Juni vereinbart wird“. Urteile des Europäischen Gerichtshofs, europäische Haftbefehle sowie Schlichtungsmechanismen der EU will sie nicht mehr akzeptieren.
Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU Ende Januar gilt eine elfmonatige Übergangsphase, in der sich an den bisherigen Beziehungen nichts ändert. Eine Verlängerung dieser Phase lehnt die britische Regierung kategorisch ab, obwohl Fachleute den Abschluss eines Handelsabkommens in dieser Zeit für kaum möglich halten.
Der für den Brexit zuständige Minister Michael Gove betonte vor dem Unterhaus noch einmal, es stehe außer Zweifel, „dass das Vereinigte Königreich seine volle wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit am Ende der Übergangsperiode, am 31. Dezember, wieder erlangen wird“. „Wir wollen die bestmöglichen Handelsbeziehungen zur EU, aber wir werden im Bemühen um ein Abkommen nicht unsere Souveränität verkaufen,“ ergänzte er.
Gegner des Brexit ließen wenig Zweifel, dass sich Johnson in ihren Augen längst für einen Austritt ohne Abkommen entschieden hat. Der Sprecher der Scottish National Party, Pete Wishart, bezeichnete das britische Angebot an die EU als “ein Haufen Quatsch, Blödsinn und Stuss“. „Das ist nichts weiter als ein Plan für den liebgewonnenen No-Deal – das wirkliche Ziel dieser Brexit-Eiferer,” schimpfte er.
Die wirtschaftlichen Folgen einer Trennung ohne Abkommen wären verheerend – für beide Seiten. Die Handelsbeziehungen würden dann nur noch durch die Regeln der WTO geregelt, mit entsprechend hohen Zöllen und Handelsschranken. Der Handel zwischen der EU und Großbritannien, der sich 2017 auf Waren im Wert von insgesamt 423 Milliarden Pfund belief, würde einbrechen, internationale Produktionsketten durch Zölle und lange Wartezeiten unterbrochen, der Zugang von Banken und Dienstleistungsunternehmen eingeschränkt.
Doch obwohl viele Experten und Wirtschaftskapitäne vor den ökonomischen Folgen warnen, befinden sich London und Brüssel auf Kollisionskurs. Der Grund für dieses scheinbar irrationale Verhalten ist der fortgeschrittene Bankrott des globalen kapitalistischen Systems. Der Kampf um Märkte und Profite führt wie vor hundert Jahren wieder zum Aufpeitschen von Nationalismus und zu Krieg. Der Schlachtruf Donald Trumps, „America first“, wird in sämtliche Sprachen und Dialekte übersetzt.
Die Arbeiterklasse darf sich keinem der konkurrierenden Lager anschließen. Sie muss ihre Kräfte im Kampf gegen Sozialabbau, Krieg und Diktatur grenzübergreifend vereinen. Die britische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale hat sich von Anfang an geweigert, das Brexit- oder das Remain-Lager zu unterstützen. Die Socialist Equality Party hat zu einem aktiven Boykott der Brexit-Abstimmung aufgerufen und für die internationale Einheit der Arbeiterklasse gekämpft – für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.