Hunderttausende Demonstranten füllten am Freitag, den 24. Januar die Straßen Bagdads. Sie forderten den sofortigen Abzug der US-Truppen aus dem Irak.
Die Massen schwenkten irakische Flaggen und riefen in Sprechchören „Raus hier, raus hier, Besatzer“ und „Tod für Amerika“. Über Jahrzehnte hinweg hat sich ein enormer Volkszorn gegen die mörderische Rolle Washingtons aufgebaut. Einige Teilnehmer trugen Schilder, auf denen bewaffneter Widerstand angedroht wurde. Andere hatten weiße Grabtücher umgehängt, um ihre Bereitschaft zu zeigen, für einen solchen Kampf ihr Leben zu geben.
Miriam, eine 18-jährige Schülerin, sagte gegenüber dem Sender Al Jazeera: „Ich bin heute hier, um gegen die Besetzung unseres Landes durch die Vereinigten Staaten zu protestieren. Wir wollen unser Land von diesen Ketten der Unterdrückung befreien.“
Der Aufruf zur Demonstration war von dem populistischen schiitischen Kleriker Muktada al-Sadr ausgegangen. Im unverkennbaren Versuch, ein Ventil für die Unzufriedenheit der Massen zu schaffen, sprach er von einem „Marsch der Millionen“. Al-Sadr ist der Anführer einer der mächtigsten Blöcke in der korrupten bürgerlichen Regierung des Irak. Er sieht seine Bemühungen um einen Ausgleich zwischen Washington und Teheran durch eine Revolte von unten bedroht.
Am Samstag entzog al-Sadr den Demonstranten via Twitter seine Unterstützung, worauf Spezialeinheiten der Regierung in mehreren Städten gegen Demonstranten vorgingen und auf sie schossen.
Das ganze Leben der jüngeren Generation im Irak wurde von den Verbrechen des US-Imperialismus geprägt: vom ersten Golfkrieg 1990-1991 über die anschließenden drakonischen Sanktionen – die, wie US-Beamte selbst einräumen, das Leben einer halben Million irakischer Kinder forderten – bis hin zum Angriffskrieg von 2003, der auf Lügen über Massenvernichtungswaffen basierte.
Die World Socialist Web Site bezeichnete die Auswirkungen dieses Kriegs als „Soziozid“, d. h. als Mord an einer ganzen Gesellschaft. Die Zahl der Todesopfer durch die US-Intervention wird auf eine Million geschätzt, weitere Millionen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Eine der fortschrittlichsten Gesellschaften im Nahen Osten in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung und andere Indizes wurde in Schutt und Asche gelegt. Bis heute sind die Lebensbedingungen im Irak durch den Terror des US-Militärs geprägt.
Die Erbitterung, die diese lange und blutige Geschichte hinterlassen hat, wurde durch die Ermordung des iranischen Generals Quassim Soleimani durch US-Drohnen wieder angefacht. Bei dem Attentat auf Soleimani starb auch Abu Mahdi al-Muhandis, ein prominentes Mitglied der irakischen Regierung. Al-Muhandis war Vizekommandeur der Volksmobilisierungseinheiten, der vorwiegend schiitischen Milizen innerhalb der irakischen Streitkräfte.
Der Mord an Soleimani und al-Muhandis sowie acht weiteren Irakern und Iranern am 3. Januar auf dem internationalen Flughafen von Bagdad war eine unprovozierte Kriegshandlung gegen den Iran und ein Kriegsverbrechen.
Das Attentat brachte die Welt an den Rand eines katastrophalen weiteren Kriegs am Persischen Golf und war ein eklatanter Verstoß gegen die Souveränität des Irak. Zur Rechtfertigung stellten Vertreter der Trump-Administration die bisher völlig unbewiesene Behauptung auf, dass man einem „bevorstehenden Angriff“ auf US-Streitkräfte bzw. US-Interessen im Nahen Osten zuvorgekommen sei. In Wirklichkeit befand sich Soleimani auf Einladung des irakischen Interimspremierministers Adel Abdul Mahdi in Bagdad, um Gespräche über die Entschärfung der regionalen Spannungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien zu führen.
Zwei Tage nach dem Attentat verabschiedete das irakische Parlament ein Gesetz, das die Ausweisung aller US-Militärkräfte aus dem Land verlangte. Abdul Mahdi forderte Washington am 9. Januar offiziell zur Entsendung einer Delegation nach Bagdad auf, um die Bedingungen für den Abzug der USA auszuhandeln.
Die Reaktion aus Washington war von Wut und imperialistischer Arroganz geprägt. Trump erklärte, dass die USA einen „sehr teuren Luftwaffenstützpunkt“ im Irak gebaut hätten. „Wir ziehen nicht ab, solange sie uns den nicht bezahlen.“
Trump drohte mit Strafsanktionen, die das Finanzministerium und andere Behörden bereits ausgearbeitet hätten. Des Weiteren wurde dem Irak angedroht, dass das irakische Konto bei der US-Zentralbank in New York gesperrt werde. Dieses Konto mit 35 Milliarden Dollar geht auf die militärische Eroberung des Irak durch die USA zurück. Seine Sperrung würde eine finanzielle Blockade verursachen, die die Wirtschaft des Landes erdrosseln und seiner Bevölkerung noch größeres Leid zufügen könnte.
Das US-Außenministerium kündigte an, es werde eine Delegation in den Irak entsenden, um zu erörtern, „wie wir unsere strategische Partnerschaft wieder festigen können – nicht, um über einen Truppenabzug zu sprechen, sondern über unsere richtige, angemessene Militärpräsenz im Nahen Osten“.
Trump bekräftigte diesen Standpunkt nach einem Treffen mit dem irakischen Präsidenten Barham Salih am vergangenen Mittwoch auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Auf die Frage nach den angedrohten US-Sanktionen antwortete Trump: „Wir werden sehen, was geschieht, denn wir müssen nach unseren Bedingungen vorgehen.“ Salih – ein opportunistischer Politiker, der allen Regierungen seit Beginn der US-Besatzung 2003 angehörte – geriet unter heftigen Beschuss, weil er sich zu einem Treffen mit Trump bereit erklärt hatte. Viele warnten ihn vor einer Rückkehr in den Irak.
Die jüngsten Ereignisse unterstreichen den neokolonialen Charakter von Washingtons Intervention im Nahen Osten, die seit dreißig Jahren wahlweise im Namen des „Kriegs gegen den Terror“, der „Menschenrechte“, des „Kampfs gegen Massenvernichtungswaffen“ und der „Verteidigung der Demokratie“ betrieben wird.
Die etwa 6000 US-Soldaten, die sich jetzt im Irak befinden, wurden unter dem Vorwand entsandt, den „Islamischen Staat in Irak und Syrien“ (IS) zu besiegen. Diese dschihadistische Miliz ist selbst eine Kreatur der USA. Sie ist aus den mit al-Qaida verbundenen Streitkräften hervorgegangen, die die USA und ihre Verbündeten im Krieg für einen Regimewechsel in Syrien entfesselten. Anschließend wandte sie sich Richtung Osten und überrollte 2014 etwa ein Drittel des Irak. Der „Krieg gegen den IS“ führte zur Verwüstung von Mossul, der ehemals zweitgrößten Stadt des Irak, sowie von Städten und Ortschaften in der gesamten Provinz Anbar. Er hinterließ Zehntausende von Toten und Hunderttausende von Obdachlosen.
Heute sagen die US-Militärkommandeure, dass vom IS keine ernsthafte Bedrohung mehr ausgehe. Die Hauptfeinde seien jetzt der Iran und die iranisch beeinflussten irakischen Schiitenmilizen, die einen Großteil der Kämpfe gegen den IS geführt haben. Berichten zufolge erwägen US-Beamte und irakische sunnitische Politiker die Möglichkeit, einen separaten sunnitischen irakischen Staat zu schaffen, der US-Stützpunkte beherbergen könnte.
Es geht um eine neue imperialistische Zerstückelung des Nahen Ostens. Am deutlichsten hat Trump den kriminellen Charakter dieser Operation in Syrien zum Ausdruck gebracht. Dort wies er die US-Truppen an, „das Öl zu übernehmen“ und die Öl- und Gasfelder der nordöstlichen Provinz Deir ez-Zor zu besetzen. Zugleich schlug er vor, einen großen US-Energiekonzern in das Land zu holen, um die Ressourcen zu plündern.
Hintergrund dieser Wende zu unverhohlenem imperialistischem Banditentum ist das Scheitern der zahlreichen Militärinterventionen und Regimewechsel-Operationen, mit denen Washington in den letzten dreißig Jahren seine strategischen Ziele im Nahen Osten verfolgt hat. Es steuert nun auf einen regionalen Krieg gegen den Iran zu, der Teil der „Großmacht“-Konfrontation mit China ist. Die USA wollen sich die militärische Kontrolle über die Energieressourcen verschaffen, von denen die chinesische Wirtschaft abhängt.
Der Aufstand der irakischen Massen drückt sich nicht nur in der Massendemonstration gegen die US-Besatzung aus, sondern auch in den anhaltenden Protesten gegen soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und die Korruption der Regierung. Diese Proteste halten seit dem vergangenen Oktober an und haben bislang etwa 600 Tote gefordert.
Das Land näherte sich dem hundertsten Jahrestag der großen irakischen Revolution von 1920. Damals vereinigte sich die sunnitische und schiitische Bevölkerung in einem heroischen Kampf gegen die britischen Besatzungstruppen, die aus dem Kadaver des besiegten Osmanischen Reiches einen kolonialen Besitz herausgeschnitten hatten.
Der britische Imperialismus schlug mit hemmungsloser Brutalität zurück. Er setzte Giftgas und Bomben gegen die verarmte Bevölkerung ein. Nahezu 10.000 Iraker kamen ums Leben. „Ich befürworte den Einsatz von Giftgas gegen unzivilisierte Stämme, [um] spürbaren Terror zu verbreiten“, erklärte der damalige Kriegsminister Winston Churchill.
Die formelle Unabhängigkeit und mehr als ein halbes Jahrhundert bürgerlich-nationalistischer Herrschaft im Irak und im gesamten Nahen Osten haben es weder geschafft, die Region von imperialistischer Unterdrückung zu befreien, noch die grundlegenden sozialen und demokratischen Forderungen der arbeitenden Massen zu erfüllen. Nun kehren die von Churchill gepriesenen Methoden mit Wucht zurück.
Der Weg nach vorn kündigt sich in den Massenprotesten im Irak an, wie auch in den Kämpfen der Arbeiter und Jugendlichen im benachbarten Libanon sowie im Iran. Weltweit verschafft sich der Klassenkampf wieder Geltung.
Siebzehn Jahre sind nun vergangen, seit Millionen Menschen gegen den Irak-Krieg 2003 protestierten. Auf der ganzen Welt gibt es eine enorme Opposition gegen den Krieg. Diese Opposition muss mit dem Klassenkampf und den Protesten gegen soziale Ungleichheit verbunden werden.
Der Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus im Irak, im gesamten Nahen und Mittleren Osten, in den Vereinigten Staaten und international ist die einzige Antwort auf die Wiederkehr des Kolonialismus und die Gefahr eines neuen Weltkriegs. Die Massenbewegung, die weltweit im Entstehen begriffen ist, muss mit einem sozialistischen und internationalistischen Programm ausgestattet werden. Nur so können sich die Arbeiter vereinen, um die Quelle von Krieg, sozialer Ungleichheit und Diktatur zu beseitigen: das kapitalistische System.