Der Irak und der Libanon wurden in den letzten Tagen erneut von Massenprotesten und ihrer gewaltsamen Unterdrückung erschüttert. Die diskreditierten Regierungen in beiden Ländern erfüllen keine der sozialen und politischen Forderungen von Hunderttausenden Demonstranten.
Die Straßenproteste begannen in beiden Ländern zunächst im letzten Oktober. Nachdem der iranische General Qassim Soleimani am 3. Januar auf dem internationalen Flughafen in Bagdad von einer US-Drohne ermordet wurde, ließen die Proteste angesichts der Empörung über das US-Kriegsverbrechen in der ganzen Region kurzzeitig nach. Jetzt sind sie jedoch wieder aufgeflammt.
Bei den Protesten in Bagdad und weiteren irakischen Städten wurden am Montag mindestens fünf Demonstranten getötet, als Sicherheitskräfte mit scharfer Munition in die Menge schossen. In Bagdad starben drei Menschen an Verletzungen, die sie während der Proteste erlitten: zwei davon an Schusswunden, der Dritte wurde von einer Tränengaskartusche getroffen, die direkt auf seinen Kopf abgefeuert wurde. Ein vierter Demonstrant wurde in der zentralirakischen Stadt Kerbala südwestlich von Bagdad von der Polizei erschossen, und das fünfte Todesopfer starb in der nordostirakischen Stadt Baquba.
Im südirakischen Basra, dem Zentrum der Ölindustrie, wurden Berichten zufolge auch zwei Polizisten von einem Auto überfahren, dessen Halter während einer gewalttätigen Konfrontation in Panik zu fliehen versuchte.
Seit dem 1. Oktober wurden bei der gewaltsamen Unterdrückung der Demonstrationen im Irak mehr als 500 Menschen getötet und weitere 25.000 verletzt.
Am Sonntag und Montag versuchten Demonstranten, die wichtigsten Autobahnen und Brücken in Bagdad und im Süden des Landes mit Barrikaden und brennenden Reifen zu blockieren.
Ein Demonstrant in der Hauptstadt Bagdad erklärte gegenüber Al Jazeera: „Wir haben die Straße blockiert, um unsere Rechte einzufordern... die Rechte der jungen Menschen auf einen Arbeitsplatz.“
Ein anderer Demonstrant verurteilte gegenüber der Nachrichtenagentur die gewaltsame Unterdrückung: „Monatelang hat niemand auf unsere Forderungen gehört. Sie bringen uns um. Es ist nur Blutvergießen.“
Ministerpräsident Adel Abdul Mahdi ist zwar bereits vor zwei Monaten zurückgetreten, bleibt aber als Oberhaupt einer Übergangsregierung weiterhin an der Macht, da sich das irakische Parlament nicht auf einen Nachfolger einigen kann. Seine Regierung vertritt eine harte Haltung gegenüber den erneuten Protesten und hat die Teilnehmer an den Autobahnblockaden als „Gesetzlose“ bezeichnet. Der Sprecher der irakischen Streitkräfte, Adel Karim Khalaf, erklärte, die Sicherheitskräfte seien zur Unterdrückung solcher Proteste „absolut berechtigt“.
Die Massendemonstrationen im Irak haben sich aus ehemals vereinzelten Aktionen von Hochschulabsolventen entwickelt, die angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 25 Prozent gegen den Mangel an Arbeitsplätzen protestierten. Durch die Unterdrückung der anfänglichen Proteste entwickelten sie sich zu einem allgemeinen Aufstand gegen die Armut, das Fehlen wichtiger Sozialleistungen und die weit verbreitete Korruption des religiöse ausgerichteten Regimes, das die amerikanische Besatzungsmacht nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch von 2003 geschaffen hatte.
Die krasse soziale Ungleichheit im Irak hat die Wut der Bevölkerung weiter angefacht. Der Irak ist zwar das Land mit den drittgrößten Ölexporten der Welt und hat damit seit 2005 mehr als eine Billion Dollar eingenommen, doch diese riesigen Einnahmen gingen auf die Konten der ausländischen Konzerne und Banken sowie der politisch gut vernetzten Oligarchie in Bagdad. Gleichzeitig leben mehr als sieben Millionen der 38 Millionen Einwohner des Iraks unterhalb der Armutsgrenze, 53 Prozent haben regelmäßig keinen ausreichenden Zugang zu Lebensmitteln.
Die Massenproteste im Libanon entzündeten sich an ähnlichen sozialen und politischen Widersprüchen. Auch sie flammten am Wochenende wieder auf. Bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften wurden in Beirut mindestens 540 Menschen verletzt.
Während die Medien über die angeblich steigende Gewaltbereitschaft der Demonstranten berichteten, verwandelte die libanesische Regierung Beirut in eine Festung. Das Parlamentsgebäude wurde mit Stacheldraht gesichert, in den Straßen patrouillieren schwer bewaffnete Elite-Einsatzkräfte, die von den USA ausgebildet wurden und teilweise mit Raketenwerfern ausgerüstet sind. Berichten zufolge sind auf einigen Dächern Scharfschützen postiert, von anderen werfen bezahlte Provokateure der Regierung Steine in die Menschenmengen darunter. Die Sicherheitskräfte setzten Gummigeschoss und Tränengas gegen Demonstranten ein. Die Polizei ging sogar so weit, Menschen in Krankenhäuser und Moscheen zu verfolgen und anzugreifen.
Die Proteste am Wochenende waren eine Reaktion auf den Aufruf zu einer „Woche der Wut“, nachdem die Regierung keine der Forderungen der Demonstranten erfüllt und keinen akzeptablen Ersatz für das Regime von Ministerpräsident Saad Hariri findet. Dieser politische Handlanger Saudi-Arabiens war letztes Jahr angesichts der Massenproteste zurückgetreten.
Angetrieben werden die Proteste von der Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen im Libanon, der sich in der schwersten Krise seit dem Ende des Bürgerkriegs von 1975–90 befindet.
Während der Proteste im Libanon wurden etwa 300 Banken und Geldautomaten im ganzen Land angegriffen. Die Banken sind zur Zielscheibe der Wut der Bevölkerung geworden, da die Abwertung der libanesischen Währung um 50 Prozent in den letzten drei Monaten die Ersparnisse der Kunden vernichtet hat. Um den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern, haben die Banken gleichzeitig Obergrenzen festgelegt, wie viel Geld Kontoinhaber abheben können. Diese Einschränkungen gelten jedoch nicht für Reiche und Personen mit politischen Beziehungen, sondern werden nur gegen die breite Masse der Bevölkerung durchgesetzt.
Die Bankangestellten setzen ihren langen Streik fort, teilweise aus Bedenken um ihre eigene Sicherheit.
Aufgrund der Abwertung des libanesischen Pfunds sind die Preise für importierte Nahrungsmittel stark gestiegen, während die Reallöhne fast halbiert wurden. Der Mindestlohn, der zuvor etwa 400 Euro pro Monat entsprochen hat, ist auf umgerechnet knapp 240 Euro gesunken. Laut einer Warnung der Weltbank wird eine weitere Abwertung den Anteil der libanesischen Bevölkerung, der in Armut lebt, von einem Drittel auf die Hälfte erhöhen.
In vielen Branchen finden Streiks statt, weil die Arbeitgeber keine Löhne mehr zahlen. Den Krankenhäusern fehlen lebenswichtige Medikamente, das Benzin wird rationiert.
Die Massenproteste im Libanon begannen am 17. Oktober letzten Jahres, nachdem die Regierung eine Steuer auf beliebte Messenger-Dienste wie WhatsApp angekündigt hatte. Das hatte eine Massenrevolte zur Folge gegen alle Austeritätsmaßnahmen der jüngeren Vergangenheit sowie gegen die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit, den Zerfall der Infrastruktur und der Sozialleistungen und die ungezügelte Korruption. Genau wie im Irak war die treibende Kraft hinter der Wut der Demonstranten die immer größere soziale Ungleichheit, die das grundlegende Merkmal der libanesischen Gesellschaft ist.
Das aktuelle Aufleben der Proteste wurde auch durch die Ankündigung befeuert, dass der scheidende libanesische Außenminister Gebran Bassil, der Schwiegersohn von Präsident Michel Aoun, diese Woche beim Weltwirtschaftsforum im Schweizer Kurort Davos eine Rede über die „Unruhe in der arabischen Welt“ halten soll. In einer Onlinepetition wird das Forum dazu aufgerufen, ihn auszuladen. Im Text der Petition heißt es, er sollte nicht dazu eingeladen werden, „im Namen einer Nation zu sprechen, die ihn abgelehnt hat und ihn der dreisten Korruption beschuldigt“.
Genau wie im Irak war auch die Übergangsregierung von Präsident Aoun nicht in der Lage, nach Hariris Rücktritt am 29. Oktober eine neue Regierung zusammenzustellen. Die schiitische Hisbollah, die ebenfalls schiitische Amal und ihre Verbündeten verfügen zusammen über eine Mehrheit im Parlament und sind offenbar bereit, ein Kabinett unter der Führung des ehemaligen Bildungsministers zu bilden, der auch Professor an der Amerikanischen Universität in Beirut ist.
Die Demonstranten haben zwar die Forderung nach einer Regierung aus „unabhängigen Technokraten“ erhoben, doch die bürgerliche Ordnung, die nach dem Bürgerkrieg auf der Grundlage religiöser Kriterien entstanden ist, kann nicht aus ihrer Haut.
Welche Regierung auch immer die etablierten bürgerlichen Parteien im Libanon ins Leben rufen: Es wird ihre Aufgabe sein, die Forderungen des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und anderer wichtiger Gläubiger nach weiteren umfassenden Austeritätsmaßnahmen zügig umzusetzen. Als Gegenleistung dafür wurde dem Libanon letztes Jahr bei einer internationalen Konferenz ein „Rettungspaket“ von elf Milliarden Dollar zugesagt, von dem das meiste für die Tilgung von Schulden bei den internationalen Banken vorgesehen ist. Bereits im Jahr 2016 verschlangen die Zinszahlungen für die Schulden des Landes die Hälfte des jährlichen libanesischen Haushalts.
Die Hisbollah, die mit dem Iran verbündet ist, hat anfangs eine feindliche Haltung gegenüber den Demonstrationen eingenommen und angedeutet, sie würden von Washington, Saudi-Arabien und Israel unterstützt, um deren imperialistische Interessen in der Region voranzubringen. Die schiitische Bewegung inszenierte mehrere Gegendemonstrationen, bei denen es zu Zusammenstößen kam.
Vor Kurzem hat die Hisbollah jedoch Vertreter zu den Führern der Proteste geschickt, sich hinter ihre Forderungen gestellt und ihre Unterstützung angeboten, zweifellos in der Hoffnung, auf diese Weise die Massenunruhen zu unterdrücken.
Die sozialen Spannungen im Irak und im Libanon werden durch die Bestrebungen des US-Imperialismus verstärkt, die amerikanische Hegemonie über die Region zu behaupten und den Einfluss des Irans mit verheerenden Wirtschaftssanktionen und völkerrechtswidriger Militärgewalt zurückzudrängen. Washington und die regionalen US-Verbündeten versuchen fraglos, diese Spannungen zu manipulieren, um ihre regionalen Ziele zu erreichen. Teheran hat daraufhin die Unterdrückung der Proteste durch die irakische und libanesische Regierung unterstützt, um den Einfluss der schiitischen Bewegungen zu verteidigen, die mit dem Iran verbündet sind.
Im Irak zeigen die Demonstranten außerdem ihre Ablehnung gegenüber der Aussicht, dass ihr Land bei einem Krieg zwischen den USA und dem Iran zum Schlachtfeld werden soll. Washington hat derweil die Forderung der irakischen Regierung nach einem Abzug der derzeit 5.000 bis 6.000 im Land stationierten Soldaten zurückgewiesen.
Sowohl im Irak als auch im Libanon haben die Proteste gezeigt, dass die breite Masse eine religiöse ausgerichtete Politik ablehnt. Diese Entwicklung zeigt, dass in beiden Ländern wie im Rest der Welt die entscheidende Trennlinie nicht Religion, Ethnie oder Nationalität ist sondern Klassenzugehörigkeit.
Die Forderungen der libanesischen und irakischen Arbeitermassen und Jugendlichen wie auch der Millionen von Arbeitern, die sich weltweit in Revolten erheben, können nur erfüllt werden durch einen Kampf zum Sturz des Kapitalismus und den Aufbau des Sozialismus im Weltmaßstab.