Die kleinbürgerliche Opposition

Dieser Text stammt aus der Einleitung des BuchesDas Ende der DDR“, einer Sammlung von Aufrufen, Erklärungen und Artikel, mit denen der Bund Sozialistischer Arbeiter 1989 und 1990 in die Ereignisse eingriff, die zum Ende der DDR führten. Er beschreibt die entscheidenden Wochen im Herbst 1989.

Die Demonstrationen, die im Herbst 1989 die gesamte DDR wie eine Flutwelle überschwemmten, sind rückblickend oft als Revolution bezeichnet worden. Betrachtet man die hohe Zahl der Teilnehmer, die Tatsache, dass die Massen hier direkt in die Politik eingriffen und ein verhasstes Regime stürzten, so hat diese Bezeichnung eine gewisse Berechtigung. Hält man aber Ausschau nach den bewussten, zielstrebigen Elementen, nach den mutigen Anführern, den begabten Rednern und den Visionären, die noch jeder großen Revolution in der Geschichte ihr Gepräge gaben, so sucht man sie vergebens. Es war eine Revolution ohne Revolutionäre.

Was im Herbst 1989 mit elementarer Wucht zum Ausbruch kam, war der tiefe soziale Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Bürokratenkaste. Alle Enttäuschungen und Demütigungen, die die Masse der Bevölkerung hatte schlucken müssen, die angestaute Wut und Unzufriedenheit machten sich Luft. Doch so reif die Lage für eine soziale Explosion war, so wenig war die Arbeiterklasse politisch darauf vorbereitet. Wie wenig sie ein politisches Ziel vor Augen hatte, zeigte schon die individualistische Form, in der die Bewegung anfing: einer Massenflucht in den Westen.

Es gab unter den Arbeitern der DDR noch nicht im Ansatz politische Strömungen, die der Bewegung hätten ein Ziel geben können. Die jahrzehntelange Unterdrückung jeder unabhängigen politischen Regung zeigte ihre Wirkung. Die Aktivitäten der Stasi hatten sich hauptsächlich gegen die Bedrohung des Regimes von Seiten der Arbeiter gerichtet. Hinzu kam, dass die Bürokratie durch die systematische Verfälschung des Marxismus und seine Verwandlung in eine Staatsideologie die Arbeiterklasse ihrer eigenen politischen Traditionen beraubt hatte. Nur so ist es zu erklären, dass sich im Herbst 1989 Zufallsfiguren zu Wortführern der Bewegung aufschwangen, die ebensowenig in der Lage waren, die Dinge vorauszusehen, wie die Auswirkungen ihres eigenen Handelns zu verstehen.

Die Hauptakteure des Herbsts 1989 stammten ausnahmslos aus kleinbürgerlichen Schichten, es waren Künstler, Akademiker, Rechtsanwälte und vor allem evangelische Pfarrer. Einige von ihnen waren – wie die Sprecherin des Neuen Forums, Bärbel Bohley – schon früher mit dem Regime in Konflikt geraten und hatten deshalb einige Zeit im Gefängnis verbracht. Sie hatten aber kein zusammenhängendes Programm vorzuweisen; ihre oppositionelle Tätigkeit beschränkte sich auf Forderungen nach mehr individuellen Freiräumen, einseitiger Abrüstung und Umweltschutz. Die meisten Rechtsanwälte und Pastoren hatten dagegen über lange Zeit eine staatstragende Rolle gespielt. Sie waren – wie die Rechtsanwälte Wolfgang Schnur, Lothar de Maizière und Gregor Gysi – als Vermittler zwischen dem Staat und oppositionellen Kreisen tätig, oder sorgten – wie Manfred Stolpe – als Kirchenvertreter und Pastoren dafür, dass die Opposition nicht über den Rahmen des gesetzlich Erlaubten hinausging. Viele Rechtsanwälte und Pastoren betätigten sich dabei als Informanten für die Stasi und taten dies – wie sich später herausstellen sollte – auch weiterhin.

In organisierter Form trat die kleinbürgerliche Opposition vor dem Herbst 1989 nur vereinzelt als „Friedensinitiativen“ in Erscheinung, die sich unter Obhut der Kirche zu Diskussionen und Gebeten trafen. Erst nachdem die Massenfluchtbewegung das SED-Regime bereits gründlich erschüttert hatte, schossen neue Parteien und Bürgerbewegungen wie Pilze aus dem Boden. Im September erschien die Böhlener Plattform „Für eine Vereinigte Linke“, veröffentlichte das Neue Forum seinen Gründungsaufruf und meldete sich die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt erstmals zu Wort. Im Oktober folgten der Demokratische Aufbruch und die Sozialdemokratische Partei der DDR.

Die Gründungsdokumente all dieser Organisationen gehen nicht über vage Forderungen nach mehr Demokratie und einem „demokratischen Dialog“ hinaus. Vom Willen zur revolutionären Veränderung findet man darin keine Spur. Umso lauter spricht dagegen der Schreck über das jähe Aufbrechen der dumpfen, spießigen DDR-Atmosphäre und die Angst vor den entfesselten sozialen Kräften aus jeder Zeile. So wird der Gründungsaufruf des Neuen Forums mit den Worten eröffnet: „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“ Und Demokratie Jetzt leitet ihre „Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR“ mit dem Satz ein: „Das Ziel unserer Vorschläge ist es, den inneren Frieden unseres Landes zu gewinnen und damit auch dem äußeren Frieden zu dienen.“

Diese Aufrufe sind nicht revolutionär, sondern – im buchstäblichen Sinne des Wortes – konservativ, darauf ausgerichtet, das Bestehende zu erhalten. Die Forderung nach Reformen entspringt nicht dem Wunsch nach, sondern der Angst vor einer Revolution. Sie entspricht der sozialen Lage ihrer kleinbürgerlichen Verfasser, die bereit sind, sich mit der stalinistischen Diktatur über die Arbeiterklasse abzufinden, vorausgesetzt, diese gewährt ihnen selbst etwas mehr Spielraum.

Ihre Autorität verdankte die kleinbürgerliche Opposition weniger ihren eigenen Worten und Taten, als den wütenden Repressionsmaßnahmen, mit denen der Staat gegen sie vorging. Von Stasi und Vopo zu Märtyrern gestempelt, standen sie plötzlich an der Spitze einer Bewegung, die Millionen umfasste. Sie wussten damit nichts besseres anzufangen, als die Initiative so schnell wie möglich an die Regierung zurückzugeben. Kaum war Honecker am 18. Oktober zurückgetreten, bemühten sich das Neue Forum und die verschiedenen Bürgerbewegungen um eine Verständigung mit seinen Nachfolgern. In echt christlicher Nächstenliebe erteilten sie ihren Peinigern von gestern die Absolution und setzten sich mit ihnen an einen Tisch, um die revolutionäre Bewegung gemeinsam abzublocken. Mit ihrer Teilnahme am Runden Tisch und schließlich dem Eintritt in die Regierung Modrow warfen sie ihre gesamte Autorität in die Waagschale – und verspielten sie. Bei der Volkskammerwahl vom 18. März erhielten sie kaum mehr Unterstützung. Sie verschwanden wieder von der politischen Bildfläche und zogen sich in den Schmollwinkel zurück, bitter enttäuscht darüber, dass ihr Einsatz so wenig honoriert worden war.

Die Demokraten vom Herbst 1989 erwiesen sich in jeder Hinsicht als würdige Nachfolger der Demokraten von 1848, der Abgeordneten der Paulskirche, über die Engels einst so treffend schrieb: „Diese Versammlung alter Weiber hatte vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen.“ Auf ihre Leistungen trifft dasselbe Urteil zu, das Engels schon über jene ihrer historischen Vorgänger gefällt hatte: Sie können „mit Recht als Maß dessen genommen werden, wessen das deutsche Kleinbürgertum fähig ist – zu nichts anderem als dazu, jede Bewegung zugrunde zu richten, die sich seinen Händen anvertraut.“

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