Die Schweizer Parlamentswahlen vom vergangenen Sonntag, dem 20. Oktober, waren in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens erzielten die Grünen ihr bestes Ergebnis aller Zeiten, und zweitens war die Wahlbeteiligung mit 45,1 Prozent ungewöhnlich niedrig. Beide Merkmale deuten in verzerrter Weise auf die wachsende Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik hin.
Alle großen Parteien, die in der Schweizer Regierung, dem Bundesrat, vertreten sind, mussten deutliche Stimmenverluste hinnehmen. Die ausländerfeindliche Schweizer Volkspartei (SVP) blieb zwar mit 25,6 Prozent stärkste Kraft, büßte jedoch 3,8 Prozentpunkte ein. 2015 hatte sie mit fast dreißig Prozent ein Rekordergebnis erzielt. Auch die andern drei Regierungsparteien verloren massiv an Stimmen. Die sozialdemokratische SP (16,8%), die Wirtschafts- und Bankenpartei FDP (15,1%) und die christlich-katholische CVP (11,4%) verloren je anderthalb bis zwei Prozentpunkte und erreichten ihre jeweils schlechtesten Ergebnisse seit hundert Jahren.
Die Grüne Partei der Schweiz (GPS) wurde erstmals viertstärkste Partei. Mit einem Zuwachs von 6,1 auf 13,2 Prozent konnte sie die Zahl ihrer Abgeordneten im Nationalrat von 11 auf 28 steigern. Auch die zweite Umweltpartei, die Grünliberalen (GLP), erreichte mit einem Plus von 3,2 fast acht Prozent der Wählerstimmen. Diese beiden Parteien werden im kommenden Nationalrat zusammen über zwanzig Prozent oder 44 von 200 Sitzen einnehmen.
In ihrem Wahlerfolg zeigt sich zunächst die wachsende Sorge vor allem junger Wähler über die Klimakatastrophe. Auch in der Schweiz kam es dieses Jahr zu großen Fridays-for-Future-Demonstrationen. Zuletzt demonstrierten rund 100.000 Teilnehmer kurz vor der Wahl, am 28. September, durch die Hauptstadt Bern. Die jetzt gewählten Grünen sind im Schnitt deutlich jünger als die übrigen Abgeordneten. Außerdem konnten die Grünen auf Kosten der SP besonders in den Städten von einer Verschiebung in der Mittelklasse profitieren. Auch ist es laut NZZ „gut möglich“, dass gerade die Grünliberalen an der Zürcher Goldküste und am Genfersee, wo vor allem Wohlhabende leben, der FDP viele Stimmen abgejagt haben.
Völlig offen ist bisher, ob die Grünen aufgrund ihres Wahlerfolgs einen Sitz in der Regierung erhalten werden. Der Bundesrat wird erst am 11. Dezember 2019 gewählt, wenn beide Kammern zur Bundesversammlung zusammentreten. Erst dann entscheidet sich, ob eine der alten Regierungsparteien den Grünen einen Sitz im Bundesrat überlässt. Nach der ungeschriebenen „Zauberformel“ der Schweizer Konkordanz-Demokratie müssten die größten vier Parteien nach dem Schlüssel 2:2:2:1 die siebenköpfige Regierung bilden. Dies wären SVP, SP, FDP und Grüne, während die CVP erstmals seit hundert Jahren leer ausginge.
Unabhängig vom Ergebnis aller taktischen Manöver und unvermeidlichen Kulissenschiebereien wird jedoch die neue Schweizer Regierung, wie auch das neue Parlament, nicht die Interessen der breiten Bevölkerung, sondern der Schweizer Wirtschaft, der Banken und der Rüstungsindustrie vertreten. Der neue Nationalrat wurde auch keineswegs von der gesamten Schweizer Bevölkerung gewählt.
Laut offiziellen Zahlen sind fast 55 Prozent der Schweizer Bürger den Parlamentswahlen frustriert fern geblieben. Hinzu muss man noch den Teil der Bevölkerung zählen, der in Ermangelung eines Schweizer Passes überhaupt nicht wählen darf. Infolge des ungewöhnlich strengen Einbürgerungsrechtes gelten mehr als zwei der 8,5 Millionen Einwohner als Ausländer. Dies führt dazu, dass rund ein Viertel der Schweizer Einwohner kein Wahlrecht hat, obwohl die meisten Migranten der zweiten und der dritten Generation längst bestens integriert sind.
Legt man diese Zahlen zugrunde, dann haben gerade mal 33 Prozent der Schweizer Einwohner, also ein Drittel, das neue Parlament gewählt. Es liegt in der Natur der Sache, dass unter den zwei Drittel Einwohnern, die nicht wählen konnten oder wollten, besonders viele Arbeiterinnen und Arbeiter sind, denn unter den „Ausländern“ ist der Arbeiteranteil besonders hoch.
Tatsächlich hat die Arbeiterklasse in der Schweiz keine Partei, die ihre Interessen vertritt, nicht im Nationalrat und schon gar nicht in der Schweizer Regierung. Die SP, die vor 150 Jahren als marxistische Arbeiterpartei entstand, die der „freisinnigen“ Partei der Bourgeoisie, der FDP entgegentrat, sitzt seit 76 Jahren im Bundesrat, wo sie Sozialabbau, Ausländergesetze und Rüstungspolitik aktiv mit betreibt. Letzteres trifft auch für die Grünen in allen Gremien der Kantone und Gemeinden zu, in denen sie schon heute führend vertreten sind. Beispielsweise lehnten sowohl die SP als auch die Grünen bei der Abstimmung von 2016 ein bedingungsloses Grundeinkommen offiziell ab.
In einer Situation, in der sich im Nahen Osten gerade das Szenario für einen neuen, umfassenden Krieg aufbaut, stellen weder die SP noch die Grünen die massive Aufrüstung der Schweiz infrage. Die Regierung ist gerade dabei, 15 Milliarden Franken in die Luftwaffe und in neue Bodensysteme zu investieren. Gleichzeitig steigen die Arbeitslosenzahlen und werden die Löhne und Sozialleistungen gekürzt.
Ein Hinweis darauf, dass der Sieg der Grünen zu keinerlei Beunruhigung der Herrschenden führte, war die Entwicklung an den internationalen Börsen. Dort hatte das Wahlergebnis keinerlei Einfluss auf die Kursentwicklung des Schweizer Frankens. Der Euro war am Montag nach der Wahl gleich viel wert wie am Freitag davor, nämlich 1,10 Schweizer Franken.