Trotz der brutalen Unterdrückung durch die ägyptische Polizei demonstrierten am Freitag im ganzen Land erneut Arbeiter und Jugendliche für ein Ende der seit sechs Jahren andauernden Diktatur von Abdel Fatah al-Sisi. Der General hatte im Jahr 2013 durch einen blutigen Putsch die Macht an sich gerissen.
Bereits letzte Woche fanden ähnliche Proteste statt. Diesmal begannen sie nach dem Freitagsgebet, und da die ägyptische Hauptstadt vollständig abgeriegelt war, gab es die größten Proteste in anderen Städten. Alle Straßen zum Kairoer Tahrir-Platz, dem symbolträchtigen Schauplatz der Massendemonstrationen während der ägyptischen Revolution, die zum Sturz des US-gestützten Diktators Hosni Mubarak führte, wurden von Kontrollpunkten der Polizei und des Militärs blockiert.
Das Regime sperrte auch die U-Bahnstationen im Stadtzentrum, um die Bewegungsmöglichkeiten der Bevölkerung weiter einzuschränken. Im Stadtzentrum von Kairo waren die Straßen mit Bussen, Autos und gepanzerten Fahrzeugen der Polizei verstopft. Uniformierte Bereitschaftspolizisten und schwer bewaffnete Schläger der Zivilpolizei, die Masken vor den Gesichtern trugen, durchstreiften das gesamte Gebiet.
Vor den Ausgängen der Kairoer Al-Fateh-Moschee, einem der Sammelpunkte der Massendemonstrationen von 2011, wurden zum Ende des Freitagsgebets Dutzende Polizeifahrzeuge und Hunderte Polizisten eingesetzt, die zum Teil mit Sturmgewehren bewaffnet waren.
Das Innenministerium gab sogar eine Anweisung an die Ärzte in Kairoer Krankenhäusern heraus, alle Patienten zu melden, die mit Verletzungen behandelt werden wollen, die bei Demonstrationen entstanden sind. Laut der Nachrichtenagentur Middle East Eye wurden Polizisten in einem der wichtigsten Kairoer Krankenhäuser, dem Kasr Al Ainy, stationiert. Dort patrouillierten sie auf den Krankenstationen und inspizierten ankommende Krankenwagen.
Obwohl es in der Kairoer Innenstadt keine Demonstrationen gab, wurden mindestens 200 Menschen verhaftet. An einigen Kontrollpunkten kontrollierte die Polizei die Handys der Passanten auf Anzeichen, die auf eine Unterstützung der Proteste gegen Sisi hindeuteten.
Ungeachtet dieses harten Durchgreifens marschierten in mehreren Städten Demonstranten und riefen Parolen gegen das Regime, u.a. in Luxor, Qena und Sohag sowie auf der Nil-Insel Al Warraq in einem nördlichen Vorort von Kairo.
In Warraq demonstrierten mehr als 1.000 Menschen. Ihre Parolen richteten sich nicht nur gegen Sisi, sondern auch gegen die in Ägypten allgegenwärtige Armut und soziale Ungleichheit. In den letzten Jahren haben die verarmten Bewohner der Insel einen noch immer andauernden Kampf gegen das Regime geführt, das zusammen mit Immobilienkonzernen und Geldgebern aus den Golfstaaten versucht hat, sie zu vertreiben und auf der Insel Touristenzonen und luxuriöse Anwesen zu errichten. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas und scharfe Munition gegen die Proteste ein.
Auf Twitter wurden Videos von den Protesten in Qena gepostet, auf denen eine große Demonstration zu sehen ist, an der u.a. Schüler teilnahmen. Die Menschenmenge riss ein regierungsfreundliches Transparent mit Sisis Bild herunter, trampelte darauf herum und zündete es an.
In mehreren Teilen von Kairo und Alexandria trieb die Polizei Demonstrationen auseinander, bevor sie überhaupt beginnen konnten.
Sisi kam am Freitagmorgen von der Debatte bei der UN-Vollversammlung zurück. Bei seiner Ankunft auf dem internationalen Flughafen von Kairo erklärte er vor einer Gruppe von Reportern, sie bräuchten sich wegen der Proteste „keine Sorgen zu machen [...] das Land ist wirklich stark“.
Nach den Protesten der letzten Woche war das nationale und internationale Kapital jedoch anderer Meinung. Die Kurse am ägyptischen Aktienmarkt sanken um fünf Prozent.
Goldman Sachs warnte am Montag, die Proteste seien eine „Erinnerung an die potenziellen Risiken für die soziale Stabilität, die vom Niedergang des Lebensstandards eines großen Teils der ägyptischen Bevölkerung in den letzten Jahren sowie von den weithin bekannten Korruptionsvorwürfen gegen die politische und militärische herrschende Elite ausgehen“.
Das massive Vorgehen der Polizei und die verzweifelten Versuche, jede Menschenansammlung zu verhindern, widerlegen Sisis Behauptung, es gebe keinen Grund zur Sorge. Das Regime ordnete sogar die Verschiebung eines wichtigen Fußballspiels zwischen dem FC Masr und Aswan FC an, das am Freitag in Kairo stattfinden sollte.
Das Regime veranstaltete außerdem eine eigene Kundgebung für Sisi, deren Teilnehmer vor allem Soldaten in Zivil, Beamte und die Beschäftigten von Staatskonzernen wie der Delta Sugar Company waren, die mit Bussen aus dem Nildelta geholt wurden. In sozialen Medien sind außerdem Videos aufgetaucht, auf denen zu sehen ist, dass arme Bewohner von Kairo mit kostenlos verteilten Lebensmitteln herbeigelockt wurden.
Bezeichnenderweise war der Schauplatz der Veranstaltung nur einen Katzensprung von der Stelle entfernt, an welcher die Sicherheitskräfte mindestens 95 Anhänger des gewählten und später von al-Sisi gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi massakriert hatten. Dieses Massaker war Teil eines landesweiten Blutbads, das Tausende Opfer forderte.
Mursi, der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes, starb im Juni während eines Schauprozesses, bei dem er wegen fingierter Spionagevorwürfe angeklagt wurde. Seit dem Putsch hatte er sechs Jahre lang im Gefängnis gesessen.
Die Demonstrationen von Freitag waren umso außergewöhnlicher, weil sie nach einer massiven Polizeiaktion stattfanden, bei der laut Menschenrechtsorganisationen während der letzten Woche mehr als 2.000 Menschen verhaftet wurden. Das Regime selbst hat zugegeben, dass es 1.000 Menschen verhaftet und verhört hat. Die meisten der Verhafteten waren jünger als 25 Jahre, allerdings wurden auch mehrere bekannte Anwälte verhaftet, die andere Verhaftete verteidigt hatten. Ebenfalls unter den Verhafteten befanden sich Journalisten, Professoren und Politiker, von denen sich einige sogar ausdrücklich von den Protesten distanziert hatten. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten falsche Informationen verbreitet und „terroristische“ Organisationen unterstützt.
Diese Verhaftungswelle war die größte in einer einzigen Woche seit Sisis Machtübernahme. Das Regime hält damit schätzungsweise 60.000 politische Gefangene fest, die systematischer Folter ausgesetzt sind. Etwa 2.500 von ihnen wurden zum Tode verurteilt, mindestens 144 dieser Todesurteile wurden bereits vollstreckt.
Bei der UN-Vollversammlung erhielt Sisi faktisch grünes Licht für sein scharfes polizeistaatliches Vorgehen. Präsident Donald Trump, der Sisi Anfang des Jahres auf infame Weise als seinen „Lieblingsdiktator“ bezeichnet hatte, trat gemeinsam mit ihm bei einer Pressekonferenz auf und erklärte abschätzig über die Proteste: „Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ägypten hat einen großartigen Führer. Er genießt großen Respekt.“ Ganz eindeutig beabsichtigt Trump in den USA die gleichen Dinge zu tun wie Sisi in Ägypten.
Diese Haltung vertreten auch die Mainstream-Medien, die kaum auf die Ereignisse in Ägypten eingehen. Sisis Regime gilt als Bollwerk gegen die Revolution im Nahen Osten, als Verteidiger der kapitalistischen Interessen in Ägypten sowie als wichtiger Kunde der amerikanischen und europäischen Waffenhersteller.
Amnesty International forderte die „Führer der Welt“ dazu auf, Sisi wegen seiner Unterdrückung „entgegenzutreten“: „Die Welt darf nicht untätig zusehen, wie Präsident al-Sisi auf dem Recht der ägyptischen Bevölkerung auf friedlichen Protest und Meinungsfreiheit herumtrampelt.“ Dieser Appell der Menschenrechtsorganisation fiel offensichtlich auf taube Ohren.
Der Auslöser für die jüngsten Demonstrationen war eine Serie von Videos, die im Internet von einem ägyptischen Unternehmer und Regime-Insider gepostet wurden, der mittlerweile Schauspieler ist und im selbst gewählten Exil in Spanien lebt. Darin wirft er Sisi vor, er und seine Familie würden Millionen Dollar an öffentlichen Geldern unterschlagen, um sich mehrere luxuriöse Präsidentenpaläste zu bauen, während die große Masse der ägyptischen Bevölkerung in bitterer Armut lebt. Er hat die Bevölkerung zur Revolte aufgerufen und erklärt, sie sei „zahlenmäßig stärker als das Militär und die Polizei“.
Die Lebensbedingungen für die große Masse der ägyptischen Arbeiterklasse sind so unerträglich geworden, dass dieser Funke Demonstrationen auslösen konnte, obwohl das Regime jedem Gegner mit Gefängnis und Tod droht.
Als Gegenleistung für einen Kredit des Internationalen Währungsfonds im Jahr 2016 hat das Sisi-Regime ein „Reformpaket“ für die Wirtschaft verabschiedet, das Kürzungen der Subventionen für Treibstoff, Wasser und Brot beinhaltete. Die Folgen waren eine Verschärfung der ohnehin schon grassierenden Armut und eine noch weitere Umverteilung des Reichtums von der breiten Masse zu einer kleinen reichen Elite und ihren imperialistischen Gönnern. Laut offiziellen Zahlen lebt ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung von weniger als 1,40 Dollar am Tag, und laut der Weltbank sind „etwa 60 Prozent der ägyptischen Bevölkerung entweder arm oder armutsgefährdet“.
Ägypten ist trotz der Polizeistaatsmaßnahmen des Sisi-Regimes offensichtlich weiterhin ein soziales Pulverfass. Der Ausbruch von Demonstrationen stellt ein Wiederaufleben der revolutionären Erhebung der Massen dar, die 2011 begann.
Genau wie damals ist heute die entscheidende Aufgabe der Aufbau einer revolutionären Führung auf der Grundlage der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und die Vereinigung ihres Kampfes mit denen der Arbeiter im Nahen Osten und der Welt.
Eine solche Führung kann nur als Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und in einem unerbittlichen Kampf gegen die pseudolinken Kräfte aufgebaut werden, die versuchen, den Kampf der ägyptischen Arbeiterklasse der einen oder anderen Sektion der kapitalistischen herrschenden Klasse des Landes unterzuordnen.
Diese Tendenz äußert sich nirgends so offen wie in den Manövern der Revolutionären Sozialisten (RS). Die RS, die ihren Namen zu Unrecht tragen, haben eine üble Geschichte dabei, stets eine bürgerliche Fraktion nach der anderen zu unterstützen: zuerst die Militärjunta, die nach Mubaraks Sturz an die Macht kam, dann Mursi und die Muslimbruderschaft, und schließlich erklärten sie al-Sisis Putsch zu einer „zweiten Revolution“.
In ihrer jüngsten Stellungnahme zu den Demonstrationen der Bevölkerung gegen das Sisi-Regime fordern die RS eine „Einheitsfront“ mit allen „oppositionellen Kräften“. Sie erklären, dass „Elemente“ der Forderungen, die notwendig sind, um die Bestrebungen der Massen voranzubringen, „bereits von unterschiedlichen Parteien, Kräften und Plattformen erhoben wurden“. Diese Formulierung zielt darauf ab, die revolutionäre Erhebung der ägyptischen Arbeiterklasse erneut jeglicher bürgerlichen Fraktion unterzuordnen, die Sisis Platz einnehmen könnte.