In Deutschland reißt die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten nicht ab. Die Zahl rechter, politisch motivierter Straftaten (PMK – rechts) ist seit 2001 kontinuierlich angestiegen und erreichte 2016 eine Höchstzahl von 23.555. Seitdem sind die Zahlen nur leicht zurückgegangen und lagen sowohl 2017 wie 2018 deutlich über 20.000.
Einen dramatischen Anstieg gegenüber dem Vorjahr gab es 2018 bei antisemtischen und fremdenfeindlichen Straftaten. Beide stiegen jeweils um ein Fünftel – die antisemitischen von 1504 auf 1799 und die fremdenfeindlichen von 6434 auf 7701. Im Durchschnitt gab es damit jeden Tag 26 Straftaten, die sich gegen Migranten oder Juden richteten. Weit über 1000 der rechts motivierten Straftaten waren Gewaltdelikte, über 500 richteten sich gegen Politiker.
Des Weiteren wurde kürzlich bekannt, dass im ersten Halbjahr 2019 bereits 8605 rechte Straftaten (darunter 363 Gewaltdelikte mit mindestens 179 Verletzten) verübt wurden, was verglichen mit dem gleichen Zeitraum 2018 eine Zunahme um mehr als 900 darstellt.
Nach dem Mord an Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni folgten am 23. Juni eine Bombendrohung auf die Parteizentrale der Linken in Berlin-Mitte und ein Tag darauf ein Anschlag auf die Linke-Kommunalpolitikerin Ramona Gehring in Zittau. Die Bombendrohung in Berlin-Mitte war mit „Combat 18“ unterschrieben, ein rechtsterroristisches Netzwerk, das mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan Ernst in Verbindung steht.
Die oben genannten Zahlen stammen vom Bundesinnenministerium (Stand 14. Mai 2019) und aus der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion. Vergleicht man sie mit den Daten von unabhängigen Opferberatungsstellen, wird eine große Diskrepanz deutlich. Im Jahr 2018 registrierten diese allein in sieben Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) einen Anstieg rechtsextremer Gewalttaten von 1394 im Jahr 2017 auf 1495 im Jahr 2018.
Insbesondere Berlin ist ein Hotspot rechtsextremistischer Kriminalität. ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, dokumentiert für das Jahr 2018 insgesamt 309 Angriffe. Verletzt, bedroht und gejagt wurden mindestens 423 Personen, darunter 19 Kinder und 47 Jugendliche. Bei den meisten Angriffen handelt es sich um Körperverletzungen (157) und gefährliche Körperverletzungen (115). Im Vergleich zu 2017 (267 Angriffe) ist dies laut der Organisation ein „besorgniserregender Anstieg“.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) registrierte insgesamt 1083 antisemitische Vorfälle in Berlin, ein Anstieg um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dabei handelte es sich um 46 Angriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen, 46 Bedrohungen, 831 Fälle verletzenden Verhaltens (darunter 48 Versammlungen) sowie 117 antisemitische Massenzuschriften.
Besonders auffällig ist, dass sich die Zahl antisemitischer Übergriffe im Wohnumfeld der Betroffenen mehr als verdoppelt hat – was bedeutet, dass Rechtsextreme gezielt die Opfer in ihren Vierteln aufsuchen.
Im Bericht taucht auch der Fall des AfD-Abgeordneten Andreas Wild auf, der am 9. November bei der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht eine blaue Kornblume trug. Diese ist ein historisches Symbol der antisemitischen und deutschnationalen „Schönerer-Bewegung“.
In Berlin-Neukölln gibt es seit Sommer 2016 eine anhaltende rechtsextreme Anschlagsserie. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) hat 55 Angriffe verzeichnet. Betroffen sind Bewohner, die sich gegen Rechts engagieren und äußern. Dazu zählen Bedrohungen durch Graffitis an und in Wohnhäusern, Stein- und Farbflaschenwürfe durch Fenster und andere Sachbeschädigungen, sowie Brandanschläge. Zudem wird der Diebstahl von 16 Stolpersteinen dem gleichen Täterkreis zugerechnet, jedoch nicht als Anschläge mitgezählt. Mitarbeiter der Beratungsstelle wurden im März dieses Jahres selbst zum Opfer von Bedrohungen.
Zu den prominentesten Opfern der Anschlagsserie in Neukölln gehören:
- Die SPD-Fraktionsvorsitzende der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln Mirjam Blumenthal, deren Auto am 13. Januar 2017 angezündet wurde.
- Der Linken-Politiker Ferat Kocak, dessen Auto am 1. Februar 2018 in Flammen aufging.
- Der Buchhändler Heinz Ostermann, dessen Auto ebenfalls am 1. Februar 2018 angezündet wurde. Es war bereits der dritte Anschlag gegen den Eigentümer der Buchhandlung Leporello, in der u.a. Veranstaltungen gegen Rechtspopulismus und Rassismus stattfinden. Im Dezember 2016 wurden die Fensterscheiben der Buchhandlung eingeschlagen und im Januar 2017 ein Auto in Brand gesetzt.
Zu der Anschlagsserie in Neukölln gibt es bis heute keine Ermittlungserfolge. In einigen Fällen, dazu zählt der Anschlag auf Mirjam Blumenthal, wurden die Ermittlungsverfahren sogar eingestellt.
Ferat Kocak wurde laut Dokumenten, die dem ARD-Magazin „Kontraste“ und der Redaktion rbb24-Recherche vorliegen, vor dem Anschlag monatelang von zwei Rechtsextremen ausgespäht. Sowohl der Verfassungsschutz wie das Berliner LKA wussten Bescheid. Sie hatten die mutmaßlichen Täter, Tilo P. und Sebastian T., abgehört, als sie am Telefon über Kocak sprachen, diesen aber nicht gewarnt.
Tilo P., ein ehemaliger AfD-Kandidat, ist im Bezirk für seine gewalttätigen Übergriffe bekannt. Sebastian T. ist ehemaliger Kreisvorsitzender der Neuköllner NPD und wurde bereits 2011 von Bezirksbewohnern wegen einer früheren Anschlagsserie verdächtigt. Die Anschlagsserie 2016 begann, nachdem Sebastian T. aus der Haft entlassen worden war.
Nach dem Angriff auf Kocak und Ostermann wurden Durchsuchungsbeschlüsse gegen P. und T. erlassen, Haftbefehle jedoch abgelehnt, da „eine Teilnahme der Beschuldigten an der Brandstiftung“ nicht genug begründet worden sei. Die Durchsuchungen stellten umfangreiches Beweismaterial sicher, trotzdem blieben P. und T. auf freiem Fuß. Eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Anne Helm und Niklas Schrader, die im Oktober 2018 um Auskunft zu den Hausdurchsuchungen baten, wurde „aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes“ abgelehnt.
Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) stellt in ihrem Jahresbericht 2018 die Frage, wie die Täter an die persönlichen Daten der Opfer gekommen seien. Einige Betroffene befürchteten, „dass es in Berlin ähnliche extrem rechte Netzwerke innerhalb der Polizei geben könnte wie in Frankfurt am Main“.
Laut den Recherchen von „Kontraste“ und rbb24 soll ein Berliner LKA-Beamter Kontakt zu Sebastian T. gehabt haben. Zwei Beamte einer Sicherheitsbehörde, die T. observierten beobachteten danach am 16. März 2018, wie sich Sebastian T. in einem Neuköllner Lokal mit drei Neonazis und einem LKA-Beamten namens W. traf. Dieser sei in einer Abteilung tätig, die auch für polizeiliche Observationsmaßnahmen zuständig ist. Anschließend sei T. gemeinsam mit dem Beamten in dessen Auto weggefahren.
Dem rbb-Bericht zufolge wollten sich zunächst weder Staatsanwaltschaft noch Polizei dazu äußern. Es folgte eine Mitteilung der Berliner Generalstaatsanwaltschaft, das Verfahren gegen den Beamten W. sei eingestellt worden. Es stehe „im Zusammenhang mit einem weiteren Ermittlungsverfahren, bei dem eine Auskunftserteilung einer Ermittlungsgefährdung entgegensteht“. Den Informationen des Recherche-Teams zufolge war W. nicht dienstlich unterwegs.
Die Opferberatungsstelle Reachout, ein Teil der MBR, hat nach Aussendung der rbb-Reportage im April dieses Jahres Strafanzeige gegen Mitarbeiter des Berliner Landeskriminalamtes erstattet. In einer Stellungnahme dazu heißt es: „Aus Sicht von ReachOut liegt der Verdacht nahe, dass der Mitarbeiter des LKA mindestens bei diesem und vermutlich bei weiteren Treffen geheim zu haltende Informationen weitergegeben hat, die der Beihilfe zu Straftaten dienten. Diese Straftaten richten sich seit vielen Jahren gegen Personen und Projekte, die für ihr Engagement gegen Rassismus und Rechtsextremismus bekannt sind.“
Am 17. August äußerte sich Innensenator Andreas Geisel (SPD) in einem Interview zur Anschlagsserie in Neukölln. Auf die Frage, wie er erklären könne, dass bisher noch kein einziger Fall aufgeklärt sei, gab Geisel umwunden zu, dass die Polizei die Täter kennt, aber nichts gegen sie unternimmt.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass die Beamten sich nicht mit dem Thema befassen, wie es ihnen vorgeworfen wird“, sagte er. „Es gibt durchaus Ergebnisse. Wir haben Verdachtsmomente, es gab Durchsuchungen. Aber die Beweislage hat richterlich nicht ausgereicht. Wir kennen die handelnden Personen. Die Frage ist, ob es noch mehr gibt und wer die Taten ausgeführt hat.“
Der Umgang der Polizei und des Verfassungsschutzes mit der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Laut Angaben des Bundesinnenministeriums ermittelte die Polizei von Januar bis Juni 2019 bundesweit 2625 rechte Tatverdächtige. Festgenommen wurden 23, und nur gegen zwei erging ein Haftbefehl.
Wie bei den NSU-Morden und im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke können in Neukölln rechtsextreme Täter, die wiederholt aufgefallen sind und unter Beobachtung stehen, ihre Taten unbehelligt ausüben. Im Nachhinein tauchen Fakten auf, die vertuscht worden sind, oder gegenüber der Öffentlichkeit und Gefährdeten werden Tatsachen verschwiegen, „um die Ermittlungen nicht zu gefährden“.
Die Verstrickung der Geheimdienste, der Polizei und der rechtsextremen Szene ist inzwischen breit bekannt. Dem Bericht der MBR zufolge hat dies auch Auswirkungen auf Ratsuchende der Hilfsorganisationen, die „sich fragen, inwiefern es überhaupt sinnvoll ist, Anzeige zu erstatten. Nach allem was mittlerweile bekannt wurde, ist es vielleicht sogar eine zusätzliche Gefährdung, Informationen an die Polizei zu geben?“
Die rechten Gewalttäter werden von Regierungen, Behörden und politischen Parteien geschützt, die die wachsende Opposition gegen ihre unpopuläre Kriegspolitik und die wachsende soziale Ungleichheit fürchten. Berlin, wo ein Bündnis von SPD, Linkspartei und Grünen regiert, unterscheidet sich dabei nicht von konservativ regierten Bundesländern.