Am 16. Mai brach sich auf den Straßen Brasiliens die angestaute soziale Wut gegen die Sparmaßnahmen der Regierung unter dem faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro Bahn. Mehr als eine Million Schüler, Studenten und Lehrer verließen die Unterrichtsräume und nahmen an Demonstrationen teil, die eigentlich von den Lehrergewerkschaften nur ausgerufen worden waren, um Dampf wegen der reaktionären Pläne der Regierung zu einer „Rentenreform“ abzulassen.
In São Paulo und Rio de Janeiro, den beiden größten Städten Brasiliens, versammelten sich mehr als Hunderttausend. Zehntausende nahmen an Protesten in den großen Städten der Bundesstaaten teil, d. h. in Recife und Salvador im Nordosten, Belo Horizonte im Südosten und Porto Alegre ganz im Süden, und in der Hauptstadt Brasilia.
Die Arbeiterpartei (PT) und die Gewerkschaften hatten bislang versucht, die wachsenden Arbeitskämpfe abzuwürgen. Am auffälligsten war dies bei einem 33-tägigen Streik im öffentlichen Dienst von São Paulo, der Mitte März gegen den Willen der Beschäftigten abgebrochen wurde. Deshalb sahen Arbeiter und Jugendliche in den Demonstrationen vom 16. Mai die Gelegenheit, ihre Ablehnung nicht nur Bolsonaros, sondern des gesamten politischen Establishments zum Ausdruck zu bringen. Die Demonstranten verglichen die brutalen Sparmaßnahmen der von der PT regierten Bundesstaaten mit denen des faschistischen Präsidenten und seiner Verbündeten; die PT-Regierungen hatten außerdem die Rechtfertigungen Bolsonaros für die mörderischen Einsätze der Militärpolizei nachgeäfft.
Die Demonstration war am 5. April von der Nationalen Lehrergewerkschaft (CNTE), welche von der PT kontrolliert wird, für den Fall angesetzt worden, „dass die Rentenreform im Verfassungsgremium Erfolg hat“, wie sich der Präsident der CNTE Heleno Araújo Filho ausdrückte. Dieser Fall trat Ende April ein.
Der fast anderthalbmonatige Aufschub der Demonstration wurde eingeplant, um Zeit für Kuhhandel im Parlament und zur Sabotage der Mobilisierung zu gewinnen. Auf eben diese Weise waren dieselben Gewerkschaften auch anlässlich ihres „Nationalen Kampftags“ am 24. April vorgegangen. Jedoch führte die Ankündigung einer dreißigprozentigen Etatkürzung bei allen bundesstaatlichen Bildungseinrichtungen – von den weiterführenden Schulen bis zu den Hochschulen – am 30. April zu einer Welle von spontanen Protesten. Daraufhin sahen sich sowohl die CNTE als auch die nationale Studentengewerkschaft gezwungen, zu Streiks und Demonstrationen aufzurufen.
Der unmittelbare Auslöser der Demonstrationen war die Ankündigung des Bildungsministers, des rechtsextremen Wirtschaftsprofessors Abraham Weintraub, dass sein Ministerium das Budget derjenigen Universitäten kürzen werde, die für das „Chaos“ an den Hochschulen verantwortlich seien. Später erläuterte er der Zeitung O Estado de S. Paulo, dass er mit dem „Chaos“ zum Beispiel das politische Verhalten „entwurzelter Landarbeiter auf dem Campus“ gemeint habe. Weintraub sagte, als einer der ersten würde man der Universidade Federal Fluminense im Bundesstaat Rio de Janeiro die Mittel zusammenstreichen. Diese Universität wurde bereits während der Parlamentswahlen mit der Androhung eines Strafverfahrens gegen ihren Dekan gezwungen, ein antifaschistisches Transparent der Studenten zu entfernen. Die Wahlaufsichtsbehörde hatte entschieden, dass das Banner „Wahlpropaganda“ gegen Bolsonaro darstelle.
Die Ankündigung des Bildungsministers wurde sofort als Versuch verstanden, eine politische Zensur einzuführen. Jeder weiß, dass dieser faschistische Bildungsminister genau wie ein Nazi schwadroniert, dass „Kommunisten das Land beherrschen, die Finanzwelt, die Medien, die großen Unternehmen und Monopole“. Die Mittelkürzungen ergänzten regierungsseitige Ankündigungen der Vortage, dass die Gelder für die Fachbereiche Soziologie und Philosophie landesweit gekürzt würden. Die Regierung betonte in diesem Zusammenhang, dass sie kein Interesse daran habe, „Bauernkindern“ zu ermöglichen, „mit Abschlüssen in Anthropologie wieder nach Hause zu gehen“.
Trotz allgemeiner Empörung legte die Regierung weiter nach, indem sie erklärte, dass die dreißigprozentigen Kürzungen alle Einrichtungen des Bundes treffen würden – also 60 Universitäten, die von 1,2 Millionen Studenten besucht werden, und 40 technisch orientierte höhere Schulen, die sogenannten „Bundesinstitute“. Die Regierung behauptete, die Kürzungen hätten wirtschaftliche Gründe, keine politischen. Sofort begannen tausende Eltern und Jugendliche vor den Instituten zu demonstrieren, oder sie protestierten massenhaft gegen Bolsonaro an Orten, wo er angekündigt war, wie zum Beispiel bei der Feier des 130sten Jahrestages der Militärhochschule in Rio.
Bei jeder dieser Demonstrationen und bei den folgenden landesweiten Massenprotesten am 16. Mai wurde eine breite Palette von Forderungen vorgetragen. Die Demonstranten führten Transparente mit sich, auf denen sie Bolsonaros Kampagne zur Militarisierung der Schulen zurückwiesen. Sie prangerten an, dass er die Klimaforschung bekämpft und die Mittel für dafür um 50 % verringert hat- Außerdem protestierten sie gegen die Abschaffung von Umweltschutzauflagen und Bestimmungen zur Arbeitssicherheit. Und sie beklagten die anhaltende Wirtschaftsflaute – die Zentralbank hatte eine mögliche Wiederkehr der Rezession angekündigt, nachdem das Bruttoinlandsprodukt im ersten Vierteljahr um 0,1 Prozent geschrumpft war.
Besonders auffällig ist, dass die Gewerkschaften, die PT und die pseudolinken Organisationen an den Demonstrationen mit „Free Lula“-Transparenten auftauchten – womit sie die Lüge verbreiteten, dass der frühere brasilianische Präsident und PT-Anführer Luiz Inacio Lula da Silva, der wegen Korruption im Gefängnis sitzt, irgendwie gegen die allgemeine Sparpolitik eingestellt sei. Die Demonstranten in den von der PT regierten Bundesstaaten griffen aber auch dort ihre Gouverneure an. In Salvador, der ehemaligen Hauptstadt und heutigen Provinzzentrale des Bundesstaates Bahia, attackierten die Demonstranten den PT-Gouverneur Rui Costa und nannten ihn den „Bolsonaro der PT“. Die PT-geführte Regierung des Bundesstaats Bahia hatte Schulen mit Hunderten von Schülern geschlossen und das Budget ihrer Universitäten 2018 um 28 gekürzt. Die Kundgebungsteilnehmer haben auch nicht vergessen, dass Costa, der in Lulas Interviews aus dem Gefängnis als „bedeutender Anführer der Linken“ bejubelt wird, regelmäßig Morde der Polizei gedeckt hat. Costa ist für seine Äußerung berüchtigt, dass Polizeioffiziere wie „Stürmer vor dem Tor“ agieren: bejubelt, „wenn sie treffen“, und angeprangert, wenn sie daneben schießen.
Bolsonaro selbst hat mit absoluter Feindseligkeit und Aggression auf die Demonstrationen reagiert. Er äußerte sich in Dallas, Texas, in einer Rede vor Unternehmensvertretern, von denen er die Auszeichnung „Mann des Jahres“ entgegennahm. Ursprünglich sollte sie im Museum of Natural History in New York verliehen werden, war aber wegen Protesten nach Texas ausgelagert worden. Dort beschimpfte Bolsonaro die Demonstranten als „nützliche Idioten“, die von der PT manipuliert würden.
Bezeichnenderweise tweetete Bolsonaro kürzlich ein Video von Lula aus dem Jahr 2010. Darin rechtfertigte Lula die Budgetkürzungen seiner PT-Regierung – genau wie jetzt auch Weintraub – mit den Worten, sie seien „notwendig, weil die Steuereinnahmen geringer als geplant ausgefallen sind“. Bolsonaro unterlegte das übernommene Video Lulas mit den Worten „Lula erklärt für die Linke, wie es ist, wenn wir Ausgaben einsparen müssen (was jede Regierung macht). Danke für diese Erläuterung!“
Bolsonaro wird schnell von derselben Krise eingeholt, die jeden Bereich des politischen Establishments in Brasilien erfasst hat und von der sein Wahlsieg nur ein verzerrter Ausdruck war.
In ihrer enormen Größe und ihrem landesweitem Ausmaß zeigen die Demonstrationen vom 16. Mai in Brasilien – ebenso wie die Proteste in Nordafrika und die Aktionen der Gelbwesten in Frankreich, die Lehrerstreiks in den USA und die Schülerproteste gegen die Tatenlosigkeit des kapitalistischen Establishments angesichts der globalen Erwärmung –, dass die Massen der Bevölkerung auf der Welt sich scharf nach links wenden. Millionen treten in den Kampf gegen das korrupte kapitalistische System ein, das Notre Dame ebenso in Flammen aufgehen ließ wie zuvor das brasilianische Nationalmuseum. Dieses System ist unvereinbar mit den grundlegenden Rechten der Arbeiter auf Bildung und auf vernünftige Lebensbedingungen, und es bedroht das gesamte Leben auf unserem Planeten.