John Pilger, ein bekannter und angesehener Filmemacher und investigativer Journalist, gab am 11. April zur Verhaftung von WikiLeaks-Herausgeber Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London folgende Erklärung ab.
Der Anblick von Julian Assange, wie er aus der ecuadorianischen Botschaft in London gezerrt wird, ist ein Sinnbild unserer Zeit. Macht gegen Recht. Stärke gegen Gesetz. Schamlosigkeit gegen Mut. Sechs Polizisten führen mit Gewalt einen kranken Journalisten ab, der die Augen zusammenkneifen muss, weil er zum ersten Mal nach fast sieben Jahren das Tageslicht sieht.
Dass dieses Verbrechen im Herzen von London, im Heimatland der Magna Charta stattfand, sollte alle beschämen und erzürnen, die um „demokratische“ Gesellschaften bangen. Assange ist ein politischer Gefangener unter dem Schutz des Völkerrechts, dem nach einem verbindlichen Abkommen, das Großbritannien unterzeichnet hat, Asyl gewährt wurde. Die Vereinten Nationen haben dies in der Erklärung ihrer Arbeitsgruppe gegen willkürliche Festnahme deutlich gemacht.
Aber zum Teufel damit! Schickt die Schläger rein. Unter Anweisung der quasi-Faschisten in Trumps Washington und im Bund mit Ecuadors Lenin Moreno, einem lateinamerikanischen Judas und Lügner, der sein widerliches Regime als unbeteiligt hinstellen will, hat die britische Elite ihren letzten imperialen Mythos, sie stünde für Fairness und Gerechtigkeit, über Bord geworfen.
Man stelle sich vor, es wäre Tony Blair, der aus seinem millionenschweren, georgianisch geprägten Domizil am Connaught Square in London gezerrt, in Handschellen gelegt und direkt an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überstellt würde. Nach dem völkerrechtlichen Maßstab, der aus den Nürnberger Prozessen hervorging, ist Tony Blair im Wesentlichen für den Tod von einer Million Irakern mitverantwortlich. Assanges Verbrechen heißt Journalismus: die Räuber zur Rechenschaft ziehen, ihre Lügen entlarven und Menschen auf der ganzen Welt durch die Aufdeckung der Wahrheit stärken.
Die schockierende Verhaftung von Assange beinhaltet eine Warnung an alle, die, wie Oscar Wilde schrieb, „die Saat der Unzufriedenheit ausbringen, (ohne die) es keinen Fortschritt gibt“. Die Warnung richtet sich besonders an Journalisten. Was dem Gründer und Herausgeber von WikiLeaks zugestoßen ist, kann euch allen passieren – ob ihr bei einer Zeitung, in einem TV-Studio oder im Rundfunk arbeitet, wenn ihr einen Podcast betreibt.
Der Guardian arbeitet mit den Geheimdiensten zusammen und führt die mediale Hetzjagd gegen Assange an. Allerdings vermittelt ein Leitartikel von letzter Woche, der ein neues Maß der Verlogenheit offenbarte, den Eindruck von Beunruhigung. Der Guardian hat die Arbeit von WikiLeaks und Assange benutzt, um, wie es ihr damaliger Herausgeber nannte, „den größten Coup der letzten 30 Jahre zu landen“. Die Zeitung hat die Enthüllungen von WikiLeaks ausgeschlachtet und damit verbundene Auszeichnungen und Einnahmen für sich vereinnahmt.
Aus einem medial hochgejubelten Buch des Guardian wurde ein lukrativer Hollywood-Film, ohne dass Assange oder WikiLeaks einen Cent bekamen. Die Autoren des Buchs, Luke Harding und David Leigh, nutzten ihre Quelle Assange schamlos aus und verrieten das Passwort, das er dem Blatt anvertraut hatte, um eine Datei mit geleakten Telegrammen der US-Botschaft zu schützen.
Während Assange in der ecuadorianischen Botschaft festsaß, hat sich Harding nun mit den Polizisten davor gemein gemacht. Schadenfroh schrieb er in seinem Blog: „Scotland Yard lacht vielleicht zuletzt.“ Seither hat der Guardian eine Reihe von Lügen über Assange veröffentlicht, auch eine schon widerlegte Behauptung, dass eine russische Gruppe, sowie auch Trumps Mann Paul Manafort, Assange in der Botschaft besucht hätten. Diese Treffen fanden niemals statt, sie sind frei erfunden.
Aber der Ton ist jetzt ein anderer. „Der Fall Assange ist ein echtes moralisches Dilemma“, schreibt das Blatt. „Er will weiterhin Dinge öffentlich machen, die nicht veröffentlicht werden sollten … Doch er hat immer auf Dinge aufmerksam gemacht, die nie hätten verheimlicht werden dürfen.“
Diese „Dinge“ sind die Wahrheit über die mörderischen kolonialen Kriege Amerikas, die Lügen des britischen Außenministeriums, wenn es bedrohten Volksgruppen wie den Bewohnern der Chagos-Inseln ihre Rechte verweigert, die Entlarvung Hillary Clintons als Unterstützerin und Nutznießerin des Dschihadismus im Nahen Osten, die detaillierten Ausführungen amerikanischer Botschafter, wie der Sturz der syrischen und venezolanischen Regierung bewerkstelligt werden könnte, und vieles mehr. Auf der WikiLeaks-Seite kann man das alles nachlesen.
Die Nervosität des Guardian ist verständlich. Geheimdienstler haben schon einmal die Räume der Zeitung durchsucht und die rituelle Vernichtung einer Festplatte verlangt und durchgesetzt.
Damit kennt sich die Zeitung aus. 1983 hatte eine Mitarbeiterin des Außenministeriums, Sarah Tisdall, Regierungsdokumente über das Eintreffen amerikanischer Atomraketen in Europa geleakt. Der Guardian wurde mit Lob überhäuft. Als ein Urteil erging, die Quelle zu nennen, stand der Herausgeber des Blatts nicht zu dem Grundprinzip, die Quelle zu schützen, sondern verriet Tisdall, die dann angeklagt und zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde.
Wenn Assange an die USA ausgeliefert wird, weil er das publiziert hat, was der Guardian wahre „Dinge“ nennt, wer sollte dann die aktuelle Herausgeberin Katherine Viner davor schützen, denselben Weg zu gehen? Oder den damaligen Herausgebers Alan Rusbridger, oder den geschäftigen Propagandisten Luke Harding?
Und wer würde die Herausgeber der New York Times und der Washington Post, die ebenfalls Teile der von WikiLeaks verbreiteten Wahrheit veröffentlicht hatten, oder die Herausgeber der spanischen El Pais, des Spiegel und des australischen Sydney Morning Herald schützen? Man könnte die Liste fortsetzen.
David McCraw, verantwortlicher Anwalt der New York Times, schrieb: „Eine Anklage gegen Assange wäre ein sehr, sehr schlimmer Präzedenzfall für Verleger … meines Wissens ist er praktisch ein klassischer Verleger, und juristisch würde man sich sehr schwertun damit, zwischen der New York Times und WikiLeaks zu unterscheiden.“
Selbst wenn die Journalisten, die Leaks von WikiLeaks öffentlich gemacht haben, nicht vor einer amerikanischen Grand Jury erscheinen müssen, reicht die Einschüchterung von Julian Assange und Chelsea Manning schon aus. Echter Journalismus – kriminalisiert durch erwiesene Schurken. Jede abweichende Meinung wird zum Luxus.
In Australien geht die amerikahörige Regierung gerichtlich gegen zwei Whistleblower vor. Sie haben aufgedeckt, dass Canberras Spione die Kabinettssitzungen der neuen Regierung von Osttimor abgehört haben, mit dem Ziel, die kleine verarmte Nation um ihren Anteil an den Öl- und Gasvorkommen des timorischen Meeres zu prellen. Der Prozess findet hinter verschlossenen Türen statt. Der australische Premier, Scott Morrison, ist berüchtigt, weil er auf den Pazifikinseln Nauru und Manus Konzentrationslager für 30.000 Flüchtlinge geschaffen hat, wo Kinder sich selbst verletzen und Selbstmord begehen. 2014 schlug Morrison Auffanglager für 30.000 Menschen vor.
Echter Journalismus wendet sich gegen solche Schandtaten. Vor zehn Jahren erstellte das britische Verteidigungsministerium ein geheimes Dokument, das drei „Hauptbedrohungen“ für die öffentliche Ordnung nannte: Terroristen, russische Spione und investigative Journalisten. Als die größte Hauptbedrohung wurde die Letztere definiert.
Das Dokument wurde WikiLeaks zugespielt und veröffentlicht. „Wir mussten das tun“, sagte mir Assange. „Es ist sehr einfach. Die Menschen haben ein Recht auf Information und ein Recht, Fragen zu stellen und die Mächtigen zur Rede zu stellen. Das ist echte Demokratie.“
Was ist, wenn Assange und Manning und andere – wenn es sie gibt – zum Schweigen gebracht werden und Schluss gemacht wird mit „dem Recht auf Information, Fragen zu stellen und zur Rede zu stellen?“
In den 1970er Jahren traf ich Leni Riefenstahl, eine enge Freundin Adolf Hitlers, die mit ihren Filmen in Deutschland Propaganda für die Nazis machte.
Sie sagte mir, dass die Botschaft in ihren Filmen, die Propaganda, nicht etwa von „Befehlen von oben“ abhing, sondern davon, dass im Publikum eine „unterwürfige Leere“ vorhanden war.
„Schloss diese ‚unterwürfige Leere‘ auch die liberale gebildete Bourgeoisie ein?“ fragte ich sie.
„Natürlich“, war ihre Antwort. „gerade die Intelligenzia … Wenn die Leute keine ernsthaften Fragen mehr stellen, sind sie gefügig und formbar. Dann kann alles geschehen.“
Es geschah dann auch.
Der Rest, hätte sie wohl hinzugefügt, ist Geschichte.