Am Sonntag fanden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Die „Volksallianz“ aus der amtierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) konnte mit 52 Prozent der Stimmen nur knapp ihre Mehrheit verteidigen.
Obwohl in der Arbeiterklasse die Wut über die Wirtschaftskrise wächst, konnte das rivalisierende Parteienbündnis „Nationalallianz“ aus der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der rechtsextremen Guten Partei (IYI), die von der kurdisch-nationalistischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) unterstützt wird, zusammen nur 42 Prozent der Stimmen gewinnen. Dass sich die Nationalallianz gleichzeitig in mehreren Großstädten durchsetzen konnte, wird den Konflikt innerhalb des Staatsapparates verschärfen.
Klar ersichtlich ist jedoch, dass die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der AKP-Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan innerhalb des bestehenden politischen Rahmens keinen bedeutenden Ausdruck finden kann.
In Istanbul, der größten Stadt der Türkei, lag der Kandidat der Volksallianz Binali Yıldırım (AKP) offiziell zunächst mit 4.000 Stimmen vor dem CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu; insgesamt wurden 8,4 Millionen Stimmen abgegeben. Nachdem Yıldırım sich zum Sieger erklärt hatte, bezeichnete İmamoğlu das Wahlergebnis öffentlich als „Manipulation“ und deutete an, er werde Einspruch dagegen erheben.
Nachdem Yıldırıms Vorsprung am Sonntagabend auf nur 4.000 Stimmen gesunken war, veröffentlichte der Hohe Wahlausschuss (YSK) zeitweilig keine Aktualisierungen der Wahlergebnisse für Istanbul mehr. Funktionäre der CHP und der HDP behaupteten außerdem, der YSK habe am Sonntagabend fast eine Stunde lang keine Wahlergebnisse herausgegeben. Sie stellten die Gültigkeit der Ergebnisse ebenso in Frage wie die Behauptung des YSK, es habe sich um eine „technische Störung“ gehandelt.
Am Montagvormittag erklärte YSK-Chef Sadi Güven, die Ergebnisse von 84 Wahlurnen seien aufgrund „diverser Einsprüche“ noch nicht ins System eingespeist worden. Nach jetzigem Stand habe Imamoğlu mit insgesamt 4.159.650 Stimmen knapp 28.000 Stimmen mehr erhalten als Yıldırım mit 4.131.761. „Aber die Auswertung geht weiter“, so Güven. Imamoğlu erklärte, er habe 25.158 mehr Stimmen als Yildirim erhalten habe. Das zeige die Datenbank der CHP.
In Ankara setzte sich der CHP-Kandidat Mansur Yavaş mit 50,6 Prozent der drei Millionen abgegebenen Stimmen durch. Die CHP verteidigte außerdem ihre Hochburg Izmir, in der sie 58,1 Prozent der zwei Millionen abgegebenen Stimmen erhielt. In Bursa setzte sich der AKP-Kandidat Alinur Aktaş mit 49,5 Prozent der 1,6 Millionen Stimmen durch. Kandidaten der CHP gewannen zudem in den Städten Antalya und Adana mit 50,8 bzw. 53 Prozent der Stimmen.
Im mehrheitlich kurdischen Südosten des Landes gewann der HDP-Kandidat Adnan Selçuk Mızraklı in der größten Stadt Diyarbakir mit 58 Prozent der Stimmen. Allerdings verlor die HDP die Wahlen in mehreren kleineren Städten der Region, teilweise an Bürgermeister, die während des undemokratischen Durchgreifens der AKP in den Kurdengebieten von der Erdogan-Regierung als „Treuhänder“ eingesetzt worden waren. In einer Kleinstadt setzte sich ein Kandidat der stalinistischen Kommunistischen Partei der Türkei durch.
Die HDP behauptet, es habe in der Stadt Şırnak Wahlbetrug gegeben. Bei der letzten Wahl erhielt sie dort 59,6 Prozent der Stimmen, diesmal erhielt die AKP jedoch 61,9 Prozent. Die HDP erklärte: „Seit im Januar offiziell die Wahlberechtigten in allen Stadtvierteln bekanntgegeben worden waren, wurden massiv Militär und Sicherheitskräfte in die Stadt verlegt.“ Weiter hieß es: „Unsere Versuche, diese Aktionen rückgängig zu machen, wurden abgelehnt. Das ist eine Gefahr für die Demokratie und ein Putsch gegen die Stadt Şırnak.“
Nach Bekanntgabe der Ergebnisse bezeichnete Erdoğan die Wahl in einer Rede als Sieg für die AKP: „Die Türkei hat bei der Kommunalwahl am 31. März demokratische Reife bewiesen [...] Die AKP hat überlegen gesiegt, so wie sie es seit ihrem ersten Wahlsieg am 3. November 2002 immer getan hat.“
Nach der Wahl plant Erdoğan eine Verschärfung seines Austeritäts- und Kriegskurses. Er wies darauf hin, dass erst in fast fünf Jahren wieder Wahlen in der Türkei stattfinden werden, und propagierte seinen „sehr soliden Reformplan“ für die Wirtschaft: „Wir, als die Türkei, werden unser leistungsstarkes Wirtschaftsprogramm in Übereinstimmung mit unseren Zielen und ohne Zugeständnisse an die Regeln der freien Marktwirtschaft durchsetzen. [...] Wir haben jetzt viel Zeit, kompromisslos Wirtschaftsreformen durchzusetzen, um eine große und starke Türkei aufzubauen.“
Zuvor hatte der wichtigste Unternehmerverband der Türkei, die TUSIAD, in einer Stellungnahme erklärt: „Die straffere Geld- und Finanzpolitik, die im Neuen Wirtschaftsprogramm der Regierung vom 20. September 2018 angekündigt wurde, sollte umgesetzt werden [...] Nur eine umfassende ökonomische Herangehensweise, die sich an den Prinzipien des freien Marktes orientiert, die die Unabhängigkeit und Transparenz der Regulierungsbehörden stärkt, durch Strukturreformen die Wettbewerbsfähigkeit stärkt und wirtschaftliche Schwäche verringert, kann erfolgreich sein.“
Erdoğan hat außerdem angedeutet, er wolle die Militäroperationen gegen kurdische Kräfte im benachbarten Syrien verstärken. Die türkische Bourgeoisie befürchtet, dass die von den USA unterstützten kurdischen Milizen einen unabhängigen kurdischen Staat errichten und Unterstützung von Kurden in der Türkei erhalten könnten. Am Samstag drohte Erdoğan: „Unsere erste Aufgabe nach der Wahl wird es sein, die Syrien-Frage möglichst auf dem Schlachtfeld und nicht am Verhandlungstisch zu lösen.“
Dass die AKP eine knappe Mehrheit der Wähler für sich gewinnen konnte, verdeutlicht nicht nur den Bankrott der CHP, sondern auch den der HDP und der zahlreichen kleinbürgerlichen pseudolinken Organisationen, die sich begeistert der CHP-geführten Nationalallianz angeschlossen haben.
Der Vorsitzende der Partei der Freiheit und Solidarität (ÖDP), Alper Taş, der mit Unterstützung der CHP und der rechtsextremen Guten Partei im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu antrat, erlitt eine Niederlage.
Die breite Masse der türkischen Arbeiter misstraut der CHP und ihren Verbündeten zutiefst. Sie ist nicht nur die traditionelle Partei des türkischen Militärs, das im 20. Jahrhundert mit Unterstützung der Nato drei blutige Putsche durchgeführt hat, sondern sie hat auch keinerlei Kritik an der Rolle Washingtons und Berlins bei dem gescheiterten Putsch gegen Erdoğan im Jahr 2016 geübt. Die CHP unterstützte Erdoğans Rolle im Nato-Stellvertreterkrieg in Syrien, und vor der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 hatte sie sich in der Regierung bereits zur Partei der Austerität entwickelt.
Dass sich die HDP und eine ganze Reihe von pseudolinken Parteien wie die ÖDP hinter die CHP stellen, verdeutlicht nur, dass diese Parteien der arbeitenden Bevölkerung selber nichts anzubieten haben.
Sie konnten nicht von der wachsenden Unzufriedenheit über die Wirtschaftskrise profitieren, durch die die Inflation in die Höhe geschossen und die Arbeitslosenquote auf 13,5 Prozent (bzw. fast 25 Prozent unter Jugendlichen) gestiegen ist. Ebenso wenig konnte sie von der tief verwurzelten Ablehnung der türkischen Bevölkerung gegenüber der Nato und den imperialistischen Kriegen profitieren.
Diese Unzufriedenheit geht so tief, dass Teile von Erdoğans eigener AKP unter Führung des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu während des Wahlkampfs an einem Punkt öffentlich darüber diskutierten, Erdoğan fallenzulassen und ihre eigene Partei zu gründen.
Nach der Wahl und nachdem die CHP und ihre Verbündeten kein Kapital aus der Unzufriedenheit mit der AKP schlagen konnten, haben sich diese Kräfte jedoch wieder hinter Erdoğan gestellt. Davutoğlu erklärte am Sonntagabend auf Twitter seine Unterstützung für Erdoğan. Er feierte die Stimmen der „Millionen junger und alter Bürger“ und erklärte, es sei die „Pflicht“ aller Bewohner der Türkei, die nationale Einheit zu wahren und „unseren Weg zu unserer gemeinsamen Bestimmung mit festen Schritten fortzusetzen“.
Genau wie die Aufstände in Ägypten und Tunesien im Jahr 2011 und die derzeitigen Massenproteste für den Sturz des Militärregimes in Algerien zeigt dieses Wahlergebnis, dass ein effektiver Widerstand nur von der Arbeiterklasse kommen wird, in einem Aufstand gegen das ganze politische Establishment.