Letzten Samstag nahmen erneut Zehntausende an den Gelbwesten-Protesten in Frankreich teil, statt in die Falle von Präsident Macrons „großer nationaler Debatte“ zu laufen, die diese Woche begonnen hat. Das Innenministerium sprach von 84.000 Demonstranten, also genauso vielen wie in der vorangegangenen Woche; vermutlich waren es diesmal aber mehr.
Die Teilnehmerzahlen in den Provinzstädten erreichten ein Rekordniveau: 4.000 in Bordeaux, 2.500 in Marseille und Grenoble, 3.000 in Caen. Auch in Tolouse erreichte die Zahl der Demonstranten mit 10.000 einen Rekordwert für eine Provinzstadt. Dort trugen die Demonstranten ein Transparent mit der Aufschrift: „Macron, wir wollen Ihre Debatte nicht, verschwinden Sie.“
Aufgrund von Provokationen der Polizei kam es in mehreren Städten zu Zusammenstößen. In Marseille setzte die Polizei Tränengas gegen 1.000 Gelbwesten ein, zehn Demonstranten wurden verhaftet.
In Lyon wurden Demonstranten, die friedlich am Flussufer entlang zogen, von der Polizei in einen Bereich getrieben, wo sie mit Tränengas und Blendgranaten beschossen wurden, als sie wieder auf die Geschäftsstraßen zurück wollten. Dabei wurden sieben Demonstranten verhaftet, in Paris kam es zu 30 Verhaftungen.
In Paris wollten die Gelbwesten ihre Protestveranstaltung um 11 Uhr vormittags vor dem Hôtel des Invalides beginnen, und zwar unter dem Motto: „Eine Million Menschen in Paris!“ Obwohl der Demonstrationszug länger war als letzte Woche, behauptete die Pariser Polizeipräfektur, die Zahl der Teilnehmer sei leicht zurückgegangen, von 8.000 letzte Woche auf 7.000 diese Woche.
Die Gewerkschaften hatten die Gelbwesten zu Beginn der Bewegung noch abgelehnt, versuchen jetzt jedoch, darin einzugreifen. Die Demonstranten erlaubten der stalinistischen Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) jedoch nicht, am Marsch teilzunehmen. Die Zeitung Le Monde berichtete: „An der Kreuzung zum Boulevard Raspail hielt ein großer Mann eine kleine Gruppe von Demonstranten mit CGT-Ansteckern auf und befahl ihnen: ,Packt eure Flaggen weg, wenn ihr mitmarschieren wollt.‘ Ein anderer sagte: ,Die CGT hat in den letzten 40 Jahren nichts getan und außerdem habt ihr zur Wahl von Macron aufgerufen.‘“
In Paris skandierten die Gelbwesten „Paris, steh auf“, „Macron ist ein Diktator“, „Macron gehört ins Gefängnis, [Innenminister] Castaner in die Hölle“ oder „Nationale Debatte, Schall und Rauch“. Reporter der WSWS sprachen mit Christelle und Frédéric, einem Vorarbeiter am Bau.
Frédéric erklärte, er sei gekommen, weil „ich an meine Töchter, meine Freunde und an alle [denke], die in Schwierigkeiten sind. Es gibt Leute, die jeden Morgen sehr früh aufstehen und zur Arbeit gehen, die fast nichts verdienen und bei denen das Geld nicht bis zum Ende des Monats reicht. Am 10. oder 15. jeden Monats ist das Konto schon leer. Das ist nicht akzeptabel, es reicht.“
Christelle erklärte: „Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, mit 50- oder 60-Jährigen ... Das sind Menschen, die drei Viertel ihres Lebens gearbeitet haben und trotzdem kaum etwas haben. Sie müssen trotz Rente weiterarbeiten, oder sie verlieren ihre Stelle und können dann keine neue finden. Persönlich glaube ich, dass es unzumutbar ist, dass mein Vater arbeitslos ist, obwohl er sein ganzes Leben gearbeitet hat.“
Christelle erklärte, sie lehne Macron und die „nationale Debatte“ ab: „Ich habe mir das kurz angeschaut, da ich selbst dank Macron arbeitslos bin, weil meine Firma schließen musste. Also hatte ich die Gelegenheit, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen. Letztlich sagt er uns vor allem, wie wir ohne die Dinge zurechtkommen können. Er sagt uns nicht, wie wir Probleme lösen sollen, sondern gibt uns Lösungen vor, wie wir versuchen sollen, ohne die Dinge zurechtzukommen. Aber ohne Auto, ohne Essen oder ohne ein Dach über dem Kopf können wir nicht zurechtkommen.“
Zur Abwesenheit der Gewerkschaften bei den Gelbwesten erklärte Frédéric: „Ich habe auch schon Erfahrungen mit den Gewerkschaften gemacht. Als Vorarbeiter muss ich persönlich sagen, dass wir die Gewerkschaften satt haben. Deshalb bin ich in keiner Gewerkschaft, trage kein Gewerkschaftstransparent und habe seit Beginn der Proteste am 17. November gesagt, ich würde nicht mehr mitmachen, wenn eine Gewerkschaft dabei wäre.“
Christelle erklärte zu den Vorwürfen der Medien über die Anwesenheit von Neofaschisten oder anderen Kräften, die für Gewalt verantwortlich sind, diese würden erhoben, „damit die Leute Angst vor der Bewegung bekommen und sich nicht damit identifizieren. Wenn es Gewalt gibt, sind da Leute, die so angezogen sind wie Sie oder ich, aber mit Helmen. Und das sind Polizisten, die sich unter die Gelbwesten mischen. Und wenn man sie beobachtet und während der Demonstration in ihrer Nähe bleibt, sieht man, dass sie die ersten sind, die Steine werfen und versuchen, andere mitzuziehen. Das machen sie, um die Gelbwesten als gewalttätig darzustellen. Aber in drei Viertel aller Fälle habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass sie diejenigen unter den Gelbwesten sind, die Dinge auf ihre eigenen Kollegen werfen. Wenn die Auseinandersetzung vorbei ist, gehen sie wieder zur anderen Seite zu ihren Kollegen und werden nicht angegriffen.“
Über die Notwendigkeit, den Kampf mit den Protesten der Arbeiter in der ganzen Welt zu vereinen, erklärte Frédéric, die Medien würden die Gelbwesten in Frankreich isolieren: „Erst auf Facebook erkennt man, dass viele über die Gelbwesten reden und dass die Gelbwesten irgendwie überall sind. Aber das erfahren wir aus den französischen Medien nicht. Im Gegenteil, sie spielen die Sache herunter.“
Die WSWS sprach auch mit dem Geschichtsstudenten Hugo, der „gegen die gesamte Politik von Emmanuel Macron“ demonstriert, „nicht nur gegen einen bestimmten Punkt, sondern gegen seine ganze marktwirtschaftliche Politik, die nichts mit der Lebenswirklichkeit der Leute zu tun hat“. Er fordert, ein „von den Bürgern initiiertes Referendum... weil wir auch eine Krise der politischen Vertretung haben, wenn man sieht, dass in der Nationalversammlung 300 Abgeordnete von Macrons Partei sitzen... Wir müssen die Reichen wieder besteuern.“
Macrons „nationale Debatte“ bezeichnete Hugo als Farce: „Ich denke, die große Debatte wäre nur eine Niederlage. Er bleibt bei seinen Positionen, und ich glaube, dass die Bewegung deshalb weitergehen und langfristig handeln muss.“ Weiter erklärte er zu Macrons Debatte: „Ich halte das für einen Schwindel. Er spricht nur mit Mittelspersonen, wie den Bürgermeistern. Die Bevölkerung hat er nicht direkt gefragt, er wird sich mit ihr nicht treffen oder sie mit einem Referendum entscheiden lassen. Er weiß, dass das für ihn nach hinten losgehen wird, also ist das alles eine Farce.“
Die WSWS sprach auch mit einem Doktoranden in Sozialpsychologie, der anonym bleiben wollte. Er nahm an der Demonstration teil, um „gegen die Politik der freien Marktwirtschaft zu protestieren, die vor mehreren Jahrzehnten in Frankreich begann. Die Austeritätspolitik und die Kürzungen im öffentlichen Dienst haben dafür gesorgt, dass sich der Reichtum bei einer kleinen Schicht der Bevölkerung konzentriert, zu der auch Macron gehört.“
Auf die Frage nach den Gewerkschaften und den etablierten Parteien erklärte er: „Die Parteien und Gewerkschaften in Frankreich sind heute eine riesige Enttäuschung. Sie sind den heutigen sozialen Aufgaben nicht ansatzweise gewachsen. Ich glaube, die Leute wollen sie nicht mehr, sie wollen sie loswerden.“
Was die Notwendigkeit angeht, heute die Arbeiter in ganz Europa im Kampf zu vereinen, erklärte er begeistert: „Es wäre fantastisch, wenn es einen europaweiten Streik gäbe. Das wäre wirklich außergewöhnlich, weil es in diesem Konflikt hauptsächlich um Geld und die Wirtschaft geht, und dagegen müssen wir unsere Schläge richten. Das wäre eine exzellente Lösung.“