Proteste in Tunesien nach Selbstverbrennung des Journalisten Abderrazak Zorgui

Seit der Selbstverbrennung des tunesischen Journalisten Abderrazak Zorgui in seinem Heimatort Kasserine liefern sich Arbeiter und Jugendliche Auseinandersetzungen mit der Polizei. Vor seinem Selbstmord hatte der 32-jährige Zorgui ein Video in den sozialen Medien veröffentlicht, in dem er zum Aufstand aufruft und die Hoffnung äußert, seine Tat werde dazu beitragen, eine neue Revolution auszulösen.

Sein Selbstmord ereignete sich acht Jahre nach den revolutionären Aufständen in Tunesien und Ägypten, die von der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 ausgelöst wurden. Da die Arbeiterklasse keine revolutionäre Führung hatte, um die Macht zu übernehmen, konnte sich das alte Regime wieder stabilisieren und das finanzielle Diktat der europäischen und amerikanischen Banken durchsetzen. Der derzeitige tunesische Präsident Beji Caid Essebsi diente bereits unter dem Diktator Zine El Abidine Ben Ali, der am 14. Januar 2011 von der Arbeiterklasse gestürzt wurde.

In seinem Video kritisiert Zorgui das tunesische Regime und den „Krieg gegen den Terror“. Er erklärt: „Dies geht an alle arbeitslosen jungen Menschen in Kasserine, die hungrig und mittellos sind: Wenn wir protestieren, unterstellen sie uns Terrorismus. Wir demonstrieren für das Recht auf Arbeit, und sie sprechen von Terrorismus, aber damit meinen sie: ‚Haltet die Klappe, geht heim und verhungert.‘ Ich sage den Leuten und den Arbeitslosen von Kasserine, ich werde heute selbst eine Revolution beginnen. Wer mich dabei unterstützen will, ist willkommen. Wenn danach jemand Arbeit findet, habe ich mich nicht umsonst selbst verbrannt.“

Weiter sagt er: „Wir haben es satt. Sie versprechen uns seit acht Jahren Dinge, und es ist alles gelogen. Ich persönlich gehöre keiner Partei an. Sie vergessen die Arbeitslosen und sprechen für die Reichen, während die Arbeitslosen und ganze Regionen keinen Cent haben.“

Seit Zorguis Selbstverbrennung ist es jeden Abend zu Protesten in Kasserine, Jbeniana, Tebourba und Arbeitervierteln der Hauptstadt Tunis gekommen. In Kasserine zündeten Jugendliche Reifen an und warfen mit Steinen auf Bereitschaftspolizisten, nachdem diese Tränengas eingesetzt hatten.

Die Arbeitslosenquote liegt landesweit bei 15,5 Prozent, in Kasserine ist sie doppelt so hoch. Die Inflation liegt bei 7,5 Prozent und der tunesische Dinar verliert massiv an Wert. Unter diesen Bedingungen wächst die Wut unter Arbeitern. Der Lehrer Nebil Gassoumi aus Kasserine, der sich an den Protesten beteiligt, erklärte gegenüber France Info: „Hier ist nichts gut. Der Dinar ist kaum etwas wert, der Lebensstandard ist niedrig, auch wenn man einen Arbeitsplatz hat. Alle leiden hier… Es gibt keine Investitionen und keine Arbeitsplätze für diejenigen, die Arbeit suchen.“ Gassoumi sagte, er hoffe auf eine Fortsetzung der Proteste.

In dieser Woche kam es außerdem zu Unruhen wegen der Ermordung von Falikou Coulibaly, einem Interessenvertreter der Ivorer in Tunesien. Der Mord löste massive Proteste der sub-saharischen Arbeiter und Studenten wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und des Rassismus in Tunesien aus. Der Arbeiter Alexandre Diaoré sagte dem Sender RFI an die Adresse Tunesiens: „Warum unterdrückt ihr uns? Ihr erwürgt uns Sub-Saharer. Ehrlich gesagt, seid ihr gemein. Wir fühlen uns schlecht, was unsere Moral und Psyche betrifft.“

AFP berichtet: „Für eine gewisse bürgerliche Schicht ist es recht schick, mit zwei schwarzen Dienstmädchen im Einkaufszentrum Carrefour in den nördlichen Vororten von Tunis einkaufen zu gehen.“ Gleichzeitig, so berichtet die Nachrichtenagentur, „arbeiten junge Mädchen von der Elfenbeinküste oder anderen Nachbarstaaten sieben Tage die Woche für so gut wie nichts, ihre Reisepässe sind beschlagnahmt.“ AFP berichtet auch über einen „senegalesischen Studenten, der gefragt wurde, ob er auf Bäumen schläft und sich von Bananen ernährt.“

Die tunesische Regierung reagiert auf die zunehmenden Proteste mit brutaler Polizeigewalt und plant eine umfassende Unterdrückung. In Kasserine verhaftete die Polizei in den Vierteln Ennour und Ezzouhour bei Hausdurchsuchungen sechzehn Menschen, denen sie Randale vorwirft. Fünf von ihnen sollen Überwachungskameras zerstört haben, die vom tunesischen Innenministerium aufgestellt wurden.

Am Donnerstag traf sich der tunesische Ministerrat. Er bekräftigte zwar „das Recht auf friedlichen Protest“, unterstellte dem Präsidenten aber die Kontrolle über alle inneren Sicherheitsoperationen. Das Verteidigungs- und das Innenministerium koordinieren die Militär- und Polizeieinsätze bei Protesten zum Jahrestag von Ben Alis Sturz; in den Medien und von Seiten der Polizei findet eine konzertierte und hysterische Kampagne statt, um Demonstranten zu bedrohen oder sie als Terroristen und Verbrecher zu verunglimpfen.

In La Presse heißt es in einem Leitartikel von Abdelkrim Dermech unter dem Titel „Vorsicht vor Exzessen und dem Unbekannten“:

„Wer Parallelen zieht zwischen dem Funken, den Bouazizi am 17. Dezember zündete, und dem, was Abderrazak Zorgui am Montag in Kasserine ausgelöst hat, vergisst, warum auch immer, dass ein solcher Vergleich nicht möglich ist. Es gibt wohl eine reale Kluft zwischen dem derzeitigen politischen Establishment und der Jugend in den so genannten weniger begünstigten Regionen. Doch Gewalt, sinnlose Aggression und Schäden an öffentlichem oder privatem Eigentum dürfen nicht mehr akzeptiert, toleriert oder als demokratisch angesehen werden.“

Am Donnerstag behauptete der Ministerrat völlig absurd, die Umstände von Zorguis Tod seien „unklar“, und die Polizei veröffentlichte einen vorläufigen Bericht über die Vernehmungen von inhaftierten Demonstranten. Die Website Kapitalis berichtete wie folgt über die polizeilichen Ermittlungen: „Extremisten, darunter Jugendliche, die am 25. und 26. Dezember verhaftet wurden, bestätigten im Verhör, dass sie von Schmugglern bezahlt wurden, um sich unter die Demonstranten zu mischen und Polizeiwachen und Posten der Nationalgarde mit Steinen und Molotowcocktails anzugreifen.“

Diese „Geständnisse“ lesen sich, als wären sie von Essebsis Ministerrat selbst geschrieben. Da die tunesischen Sicherheitsbehörden noch gegen sich selbst wegen Folter und anderer Verbrechen ermitteln, die sie unter Ben Ali begangen haben, darf man ihnen keine Glaubwürdigkeit schenken.

Acht Jahre nach Ben Alis Sturz durch die ersten revolutionären Erhebungen der Arbeiterklasse im einundzwanzigsten Jahrhundert wurde keine der Forderungen erfüllt, für die die Arbeiter den Kampf aufgenommen hatten. Der Kapitalismus ist wirtschaftlich und sozial bankrott. Die demokratischen Reformen waren nur eine neue Fassade für das alte Regime und den alten Polizeistaat, der seine Arbeit jetzt unter dem fadenscheinigen Vorwand des „Kriegs gegen den Terror“ fortsetzt.

Das bestätigt die Perspektive, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKV) unmittelbar nach Ben Als Sturz vertreten hatte. Das IKVI erkannte, dass die revolutionären Aufstände in Tunesien und Ägypten ein neues Stadium des internationalen Klassenkampfes und des Kampfes für die sozialistische Weltrevolution eingeläutet haben.

Im Januar 2011 warnte die WSWS in der Erklärung „Der Massenaufstand in Tunesien und die Perspektive der Permanenten Revolution“:

„Die tunesischen Massen stehen aber erst am Anfang ihres Kampfes. Die andauernde Polizeigewalt unter dem neuen Interimspräsidenten zeigt, dass die Arbeiterklasse vor großen Gefahren steht. Die entscheidende Frage revolutionärer Führung und eines revolutionären Programms ist bisher ungelöst. Ohne den Aufbau einer revolutionären Führung wird als Ersatz für Ben Ali zwangsläufig wieder ein autoritäres Regime installiert werden.“

Nach fast zehn Jahren Krieg und Wirtschaftskrise bahnt sich in Tunesien und der Welt ein neuer Ausbruch des Klassenkampfes an. Im Sudan gibt es Lebensmittelunruhen, Frankreich, Portugal und Spanien werden von politischen Protesten und Streiks erschüttert. Im ganzen Jahr 2018 kam es bereits zu internationalen Streiks von Amazon- und Ryanair-Beschäftigten, Arbeiterprotesten im Iran und Massenstreiks von Lehrern in den USA.

Zorguis Entscheidung, durch seinen Selbstmord zur Revolution aufzurufen, bestätigt auf besonders tragische Weise die Analyse des IKVI, nach der die entscheidende Aufgabe in der derzeitigen Situation der Aufbau einer revolutionären Führung in der Arbeiterklasse ist. Deshalb müssen jetzt in Tunesien, in allen Mittelmeerstaaten und auf der ganzen Welt Sektionen des IKVI aufgebaut werden.

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