Vor fünf Jahren hatte die Selbstverbrennung des Hochschulabsolventen und Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizi Massenproteste gegen die hohe Arbeitslosigkeit ausgelöst, die sich zu revolutionären Kämpfen entwickelten. Diese führten zum Sturz des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali. Jetzt demonstrieren Arbeiter und Studenten in Tunesien erneut gegen die hohe Arbeitslosigkeit.
Am Samstag vor einer Woche wurde der junge Ridha Yahyaouri, der im südtunesischen Kasserine eine Stelle als Lehrer gesucht hatte, bei einer Protestveranstaltung getötet. Daraufhin breiteten sich die Proteste auf ganz Süd- und Westtunesien, die Hauptstadt Tunis, und bis letzten Donnerstag auf den Rest des Landes aus. Ein Polizist wurde getötet, als sein Fahrzeug umgestoßen wurde, und mehrere Demonstranten wurden am Donnerstag bei Zusammenstößen in Kasserine verletzt. 2011 hatten die tunesischen Sicherheitskräfte dort Dutzende von Demonstranten getötet.
Der Elektriker Mohamed Mdini erklärte während einer Demonstration in Kasserine gegenüber Reuters: „Ich bin seit dreizehn Jahren arbeitslos, obwohl ich ein qualifizierter Techniker bin. Wir wollen kein Geld, sondern nur unser Recht auf Arbeit.“
Nach einer Kundgebung von arbeitslosen Universitätsabsolventen am Donnerstag in Tunis, bei der die Schaffung von Arbeitsplätzen und der Sturz des tunesischen Regimes gefordert wurden, verhängte der Staat am Freitag für das ganze Land eine Ausgangssperre von acht Uhr abends bis fünf Uhr morgens. Das tunesische Innenministerium warnte, bei den Protesten sei „öffentliches und privates Eigentum beschädigt worden.“ Es drohte allen, die gegen die Ausgangssperre verstoßen, mit Strafanzeigen; allerdings hatten sich die Demonstranten in Kasserine bereits Anfang der Woche einer lokalen Ausgangssperre in ihrer Region widersetzt.
Der Ausbruch von Massenprotesten in Tunesien zeigt, dass keines der Probleme gelöst wurde, die die Arbeiterklasse vor fünf Jahren zu Revolutionen gegen die Diktaturen von Ben Ali in Tunesien und Mubarak in Ägypten getrieben hatten. Die USA und die europäischen Großmächte haben Milliarden Dollar für Kriege ausgegeben, die die Region von Libyen bis Mali verwüstet haben. Gleichzeitig konnte die tunesische Kapitalistenklasse weder die grundlegendsten sozialen Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung befriedigen, noch ihre demokratischen Grundrechte respektieren.
Nach einer kurzen Phase, in der die islamistische Partei Ennahda an der Macht war, kehrte die Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) unter ihrem neuen Namen Nidaa Tounes im Jahr 2014 mit Unterstützung durch die korrupte tunesische Gewerkschaftsbürokratie und kleinbürgerliche pseudolinke Gruppen an die Macht zurück.
Die Proteste begannen vor einer Woche nach dem Tod von Ridha Yahyaoui. Er war auf einen Strommast geklettert, um vor einem Publikum von Arbeitslosen zu sprechen, denen das Bildungsministerium Stellen verweigert hatte. Yahyaoui war einer von sieben arbeitslosen Universitätsabsolventen, denen eine Einstellung verweigert worden war, nachdem sie letztes Jahr einen Sitzstreik organisiert und den lokalen Behörden Anfang des Jahres einen Katalog von Forderungen vorgelegt hatten.
Der Generalsekretär der Gewerkschaft arbeitsloser Absolventen, Salem Ayara, erklärte in einem Interview mit der Huffington Post-Maghreb, Yahyaoui habe vor kurzem entdeckt, „dass sein Name von einer Liste in Akten gestrichen wurde, die dem Premierminister zur Regelung ihrer Lage vorgelegt werden sollte. ... Die Liste wurde ohne Rücksprache mit dem Bürgermeister und dem dafür zuständigen Stellvertreter verändert und manipuliert.“
Genau wie Bouazizis Tod löste auch der tragische Tod von Yahyaoui Proteste in den verelendeten Industrie- und Bergbauregionen im Herzen von Südtunesien aus, in denen sich Kasserine und Sidi Bouzid befinden.
In Béja beteiligten sich Bauarbeiter und Tagelöhner an den Protesten und forderten Arbeitsverträge und normale Arbeitsbedingungen. In ganz Süd- und Mitteltunesien, u.a. in Meknassi und Sousse, kam es zu Demonstrationen, Straßensperren und dem Versuch, städtische Gebäude zu besetzen. Als die Regierung am Mittwoch versuchte, die Bewegung in Kasserine durch Zugeständnisse und das Versprechen auf einige tausend Arbeitsplätze zu beenden, beteiligten sich Arbeiter aus anderen Landesteilen an der Bewegung. In Sidi Bouzid, Béja, Kébili, Meknassi, Mazouna, Gabès, Sfax und Sousse kam es zu Demonstrationen.
In Jendouba, Tozeur und weiteren Städten wurden Regierungsgebäude von Studenten und Arbeitslosen besetzt, die Arbeitsplätze forderten. Auch in Arbeitervierteln von Tunis kam es zu Protesten, bei denen angeblich Straßensperren errichtet und eine Polizeiwache angezündet wurden.
Präsident Béji Caïd Essebsi, ein ehemaliger Funktionär des Ben-Ali-Regimes, wandte sich am Freitagabend in einer Fernsehansprache an die tunesische Bevölkerung. Die Ausbreitung der Proteste zum Ende der Woche beunruhigt die Regierung. Er gab sich kurzzeitig aufgeschlossen gegenüber den Massen und räumte ein, dass die Arbeitslosen „nicht ewig warten“ können. Dann warf er jedoch nicht näher bezeichneten Aktivisten der Protestbewegung vor, sie hätten dabei geholfen, „die Flammen anzufachen“ und hätten „Sabotage- und Plünderungsaktionen angeordnet.“
Essebsi behauptete zynisch, er würde Arbeitsplätze schaffen ohne zusätzliches Geld auszugeben und erklärte, er sei sich sicher, der Staat könne „die notwendigen Gelder auftreiben, indem er sie bei anderen Projekten einspart.“ Er versprach jedoch, seine Regierung werde bei allem, was sie tut, „alle ihre finanziellen und sonstigen Verpflichtungen gegenüber ihren ausländischen Partnern“ respektieren, d.h. gegenüber den großen Banken und den Regierungen der imperialistischen Mächte in Europa und Amerika.
Trotz Essebsis Versprechen haben die letzten fünf Jahre eindeutig gezeigt, dass die Forderungen der Arbeitermassen nach grundlegenden sozialen und demokratischen Rechten unvereinbar mit der kapitalistischen Herrschaft in Nordafrika sind und vor allem mit den immer umfangreicheren Militärinterventionen der imperialistischen Mächte. Tunesien leidet unter fehlenden Investitionen und Arbeitsplätzen und dem Übergreifen der Gewalt aus dem benachbarten Libyen, wo die Nato und ihre islamistischen Verbündeten Oberst Muammar Gaddafis Regime durch einen blutigen Krieg gestürzt haben.
In Tunesien liegt die Arbeitslosenquote bei über 15 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über einem Drittel. Die Schattenwirtschaft trägt laut einem Bericht von Tuniscope 54 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und die Kaufkraft ist seit Beginn der Revolution um 40 Prozent gesunken.
Die fünf Jahre seit Ben Alis Sturz haben vor allem gezeigt, dass soziale Proteste, egal wie machtvoll sie sind, der Arbeiterklasse nur zum Sieg verhelfen können, wenn sie von einer revolutionären Partei angeführt werden. Die Aufstände in Tunesien und Ägypten 2011 waren mächtige revolutionäre Kämpfe, die Massen von Arbeitern mobilisierten und den zuvor unbesiegbar erscheinenden Widerstand der Sicherheitskräfte der gefürchteten Diktaturen schnell niederschlugen.
Da keine revolutionäre Partei vorhanden war, um die Arbeiterklasse in Tunesien, Ägypten und anderen Ländern zur Übernahme der Staatsmacht und der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft zu führen, konnten sich die beiden Regimes letzten Endes wieder stabilisieren. Nachdem die Islamisten kurzzeitig die Macht erringen konnten, kehrten schließlich Personen aus dem Umfeld der ehemaligen Autokraten – Essebsi in Tunesien und General Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten – mit Unterstützung diverser kleinbürgerlich-„linker“ Organisationen an die Macht zurück.
Die internationale Bourgeoisie ist sich durchaus bewusst, welche Rolle diese Kräfte gespielt haben und hat sie reichlich belohnt. Die Allgemeine Arbeitergewerkschaft Tunesiens (UGTT) und die Tunesische Menschenrechtsliga erhielten 2015 gemeinsam mit diversen Wirtschafts- und Berufsgruppen den Friedensnobelpreis. Das Nobelpreiskomitee lobte sie für ihren „entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer pluralistischen Demokratie in Tunesien.“
Wie die Proteste in Tunesien jetzt zeigen, haben die UGTT und die LTDH keine Demokratie errichtet, sondern nur eine neue Fassade für die Rückkehr der alten Diktatur, die auf der Grundlage intensiver wirtschaftlicher Ausbeutung und der Unterdrückung des massiven Widerstandes in der Arbeiterklasse errichtet wurde. Trotz ihrer demokratischen Selbstdarstellung versuchen sie jetzt, die Proteste abzuwürgen und helfen der Polizei bei deren Unterdrückung, indem sie Schauergeschichten verbreiten, die Proteste seien von Terroristen aus Libyen infiltriert worden.
Die UGTT, eine tragende Säule des Ben-Ali-Regimes, veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die Forderungen der Demonstranten kurz als „legitim“ bezeichnete und dann vorschlug, UGTT-Mitglieder um Regierungsgebäude aufzustellen, um sie vor Demonstranten zu schützen. In einer Stellungnahme verurteilte sie „die Plünderungen und Diebstähle krimineller Banden, die versuchen, soziale Proteste zu manipulieren“ und rief zu einer „allgemeinen Mobilisierung“ ihrer Mitglieder auf, um die Einrichtungen öffentlicher und privater Institutionen zu schützen.
Hamma Hammami, der Vorsitzende der kleinbürgerlichen „linken“ Arbeiterpartei, macht ebenfalls deutlich, dass seine Partei eine erneute Revolution in Tunesien verhindern will. Sie hatte sich vor der Wahl 2014 mit Nidaa Tounes verbündet und ist ein wichtiges Element der Volksfront. In einem Interview mit Mosaïque FM erklärte er, Mitglieder der Volksfront hätten sich zwar an den Protesten beteiligt, aber „mit der Absicht, ihnen eine Struktur zu geben, damit sie ihren friedlichen Charakter behalten und nicht aus dem Ruder laufen.“