Das Schicksal von 16 philippinischen LKW-Fahrern, das Anfang des Monats bekannt geworden ist, wirft ein Schlaglicht auf die extreme Ausbeutung ausländischer Fahrer in Deutschland und ganz Europa.
Die Fahrer waren auf den Philippinen unter Vortäuschung falscher Tatsachen angeworben worden und über Polen nach Deutschland gelangt, wo sie bei der Firma Nordic Transport Logistics GmbH (NTG) im sauerländischen Ense landeten.
„Sie haben uns das Blaue vom Himmel versprochen“, berichtete einer der Fahrer dem regionalen Soester Anzeiger. „Wir sahen ein schönes Video über Europa, man sagte uns, wie gut es die Menschen dort haben.“ Um aber überhaupt nach Europa zu kommen, mussten sie dem Vermittler laut Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) 2000 bis 5000 Euro geben, damit sie „Papiere“ bei einer polnischen Spedition bekamen. Dem DGB zufolge handelt es sich dabei um eine Briefkastenfirma der dänischen Speditionsfirma Kurt Beier A/S.
Von Polen aus wurden sie dann als Fahrer des dänischen Subunternehmens bei NTG eingesetzt. „Wir sind von Ense aus quer durch Europa gefahren“, erzählten die Lkw-Fahrer. Sie seien hauptsächlich Touren zwischen Deutschland und Österreich und Deutschland und Italien gefahren. Oft habe man unter Missachtung von Lenk- und Ruhezeiten fast rund um die Uhr arbeiten müssen „Stress pur“, sagte der 54-jährige Roy Guinto. „Wir waren so erschöpft, dass wir Angst hatten, Menschen tot zu fahren.“ Urlaubsanspruch hatten sie laut ihrem Arbeitsvertrag nicht.
Doch nicht nur das; sie konnten die vorgeschriebenen Wochenendpausen auch nicht in Unterkünften oder Hotels verbringen. „Ich lebe seit 18 Monaten im Lkw“, sagte Guinto. „Wir sind obdachlos.“ Sie mussten anderthalb Jahre in ihrem Sattelzug leben, auch am Wochenende. Während sie innerhalb der Woche die sanitären Einrichtungen der Speditionsfirma nutzen konnten, blieb ihnen am Wochenende nur ein verdrecktes Dixi-Klo auf dem Werksgelände. Sie kochten auf Campinggasbrennern und aßen unter freiem Himmel. Auch ihre Wäsche wuschen sie im Freien.
Den versprochenen Lohn erhielten sie nur teilweise. Laut DGB müsste ihnen gemäß dem Mindestlohn und ihren gefahrenen Zeiten 2300 Euro pro Monat gezahlt werden. „Ich bekomme 1000 Euro pro Monat“, berichtete Guinto. Den Großteil ihres ohnehin niedrigen Lohns schicken alle Fahrer nach Hause zu ihren Frauen und Kindern. Zum „Leben“ bleiben ihnen dann rund 200 Euro im Monat übrig.
In Ense, am nördlichen Zipfel des Sauerlands, ist es inzwischen sehr kalt. Der Stern berichtete in einer Reportage, dass die Fahrer den aufziehenden Winter fürchten, genauer: eine Erkältung oder andere Krankheit. „Eine Krankenversicherung haben sie nämlich nicht.“
Roy Guinto und 15 seiner Kollegen wehrten sich schließlich gegen diese Ausbeutung und setzten sich nicht mehr ans Steuer. Weil gleichzeitig die Behörden in Dänemark und den Niederlanden gegen die Kurt-Beier-Spedition vorgingen, sahen sich auch die deutschen Behörden nach der Strafanzeige einer niederländischen Gewerkschaft gezwungen, aktiv zu werden. Die Staatsanwaltschaft Arnsberg leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Ausbeutung der Arbeitskraft und des Menschenhandels ein.
Dies wird aber wohl schon bald eingestellt. Letzten Freitag berichtete Oberstaatsanwalt Thomas Poggel dem Soester Anzeiger, Vorwürfe gegen NTG Logistics wegen Menschenhandels zum Zwecke ausbeuterischer Beschäftigung und Ausbeutung der Arbeitskraft hätten „sich bisher nicht bestätigt“. Die 16 philippinischen Lkw-Fahrer, deren Beschäftigung im Mittelpunkt der Anschuldigungen stehen, seien keine Mitarbeiter der Firma NTG, sondern Beschäftigte einer polnischen Firma, die es auch tatsächlich gebe. Insofern gebe es auch keine Hinweise auf eine Scheinbeschäftigung. Die Papiere und die Unterlagen der LKW-Fahrer „waren in Ordnung“, so Poggel.
Auch NTG Logistics wehrte sich dagegen, etwas mit den Arbeitsbedingungen der 16 LKW-Fahrer, die monatelang auf dem Betriebsgelände lebten, zu tun zu haben. Geschäftsführer Rüdiger Senger betonte gegenüber der WSWS, dass die betroffenen Fahrer niemals Beschäftigte der NTG gewesen seien. Die vertragliche Vereinbarung mit der Firma Kurt Beier sei bereits gekündigt worden. In der Regionalpresse wird er mit der Aussage zitiert: „Wir haben uns als Auftraggeber nichts zu Schulden kommen lassen und sind da mit hineingezogen worden.“
Roy Guinto und sieben seiner Kollegen sind nicht wieder an die Arbeit gegangen und inzwischen in einer Flüchtlingsunterkunft untergekommen. Was nun mit ihnen geschieht, ist offen. Ohne Arbeit droht ihnen, dass sie die Aufenthaltsberechtigung in der EU verlieren.
Acht ihrer Kollegen sind aber schon wieder in ihren LKWs in ganz Europa unterwegs. Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) hatte den Fahrern nur wenige Tage, nachdem ihre Situation publik geworden war, freigestellt, die Arbeit wieder aufzunehmen – eine Steilvorlage für das dänische Subunternehmen. Es drohte den Fahrern mit Kündigung, wenn sie sich nicht wieder ans Steuer setzten. Nach einer Kündigung würden sie über Polen wieder auf die Philippinen gebracht.
Das Schicksal der philippinischen Arbeiter scheint besonders krass, ein Einzelfall ist es aber nicht.
Der Stern berichtet, dass Polen sich „in den letzten Jahren zum Einfallstor für Lkw-Fahrer aus Ländern jenseits der EU entwickelt“ habe. 2013 kamen rund 5000 LKW-Fahrer über Polen in die EU, 2017 waren es schon 65.000. „Und im ersten Halbjahr 2018 lag die Zahl mit 53.000 sogar fast schon auf dem Niveau des gesamten Vorjahres.“ Die meisten Fahrer kämen aus der Ukraine, aber neben denen aus den Philippinen seien auf diesem Weg auch schon Fahrer aus Indien und Sri Lanka gekommen.
Michael Wahl, der für den DGB ein Informationsprojekt für Lkw-Fahrer aus Mittel- und Osteuropa koordiniert, berichtete im Dezember 2017 in einem Interview, dass die meisten osteuropäischen Fahrer osteuropäische Verträge haben und weit unter dem deutschen Tariflohn verdienen. Selbst deutsche Firmen zahlten heute nur selten nach Tarif. Nicht nur die osteuropäischen Firmen würden Lohndumping betreiben, auch „viele westeuropäische Speditionen haben Ableger in Osteuropa gegründet und fahren nun mit billigeren osteuropäischen Fahrern in Deutschland und in anderen Ländern“.
Wahl erzählte, dass er und seine Kollegen auf einer Raststätte zwei Fahrer der gleichen Spedition getroffen hätten, von denen ein Fahrer einen deutschen Arbeitsvertrag hatte und etwa 2500 Euro Lohn erhielt. „Der zweite Fahrer hat für eine ungarische Niederlassung der gleichen Spedition gearbeitet. Sein Lohn lag […] bei 500 Euro. Die osteuropäischen Fahrer, die wir treffen, bekommen zwischen 250 und 600 Euro Lohn.“
Dies sei ein typischer Fall. Obwohl jeder in Deutschland tätige Arbeiter Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn von aktuell 8,84 Euro brutto pro Stunde hat – unabhängig davon, in welchem Land er seinen Arbeitsvertrag unterschrieben hat –, würden viele Arbeitgeber den Mindestlohn mit einem Trick umgehen. „Die Fahrer kriegen als Ausgleich für die Differenz zwischen dem niedrigen Grundlohn und ihrem Anspruch auf ca. 1500 Euro Mindestlohn eine sogenannte Tagespauschale.“ Das seien genau genommen nichts weiter als Spesen, für die Unternehmen weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge zahlen würden. Der Zoll akzeptiere diese Art von Bezahlung bei Kontrollen.
Wenn ein Fahrer krank wird, bekommt er keine Tagespauschale, so dass sich viele auch krank ans Steuer setzen. Wahl berichtet von einem LKW-Fahrer, der noch mehrere Tage nach einem leichten Schlaganfall weitergefahren sei, bevor er zum Arzt ging. Er ist nun berufsunfähig und bezieht eine Grundrente von monatlich 500 Euro.