Ungarn erklärt Obdachlose zu Kriminellen

Mit Haftstrafen für Obdachlose und Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger knüpft die ungarische Regierung von Viktor Orbán an die barbarischen Praktiken des Faschismus und des Frühkapitalismus an. Orbáns Partei Fidesz ist Mitglied der Europäischen Volkspartei, der auch die deutsche CDU und CSU sowie die polnische Bürgerplattform (PO) angehören.

Im Sommer letzten Jahres hatte Fidesz mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament eine Verfassungsänderung verabschiedet, die den „gewöhnlichen“ Aufenthalt im öffentlichen Raum verbietet. Ein entsprechendes Gesetz trat vor kurzem in Kraft. Im letzten Monat kam der erste Fall vor Gericht. Polizisten haben einen wohnungslosen Mann auf einer Parkbank in der Kleinstadt Gödöllö bei Budapest festgenommen. Das Kreisgericht sprach gegen den in Handschellen vorgeführten Mann eine Verwarnung aus.

Schon seit 2011 gilt in Ungarn für Sozialhilfeempfänger im arbeitsfähigen Alter eine „Arbeitspflicht“. Sozialhilfeempfänger müssen für umgerechnet 120 Euro pro Monat Arbeiten für die Stadtreinigung oder in der Landwirtschaft erledigen. Dabei können Sie auch außerhalb ihres Wohnortes und in ganz Ungarn zur Arbeit verpflichtet werden. Wer sich weigert, verliert seinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Nun werden Obdachlose zu Kriminellen erklärt. Und das in einem Land, in dem die Armut rapide wächst und wo es nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen nur 11.000 Plätze in Notunterkünften für 30.000 Obdachlose gibt. Zahlreiche Menschenrechtsgruppen und Hilfsorganisationen kritisieren das Vorgehen der Orbán-Regierung. Die UN-Wohnungsexpertin Leilani Farha bezeichnete es als „grausam und unvereinbar mit den internationalen Menschenrechten“.

Nach dem neuen Gesetz werden Obdachlose, die die Polizei im öffentlichen Raum antrifft, in der Regel dreimal verwarnt. Danach eröffnen die Behörden innerhalb von 90 Tagen ein Ordnungsstrafverfahren. Das Strafmaß reicht von gemeinnütziger Zwangsarbeit bis zu einer Haftstrafe.

Bereits jetzt ist deutlich geworden, dass die Polizei das Gesetz restriktiv umsetzt. Bei dem Fall in Gödöllö sei unklar, ob die Polizisten den Obdachlosen tatsächlich drei Mal verwarnt hätten, bevor sie ihn festnahmen, sagte der Pflichtverteidiger des Betroffenen.

2013 hatte Orbán bereits ein Aufenthaltsverbot für Obdachlose an bestimmten öffentlichen Plätzen verhängt. Dies bezog sich vor allem auf Gebiete der großen Städte, in denen viele Touristen anzutreffen sind. Hier ging die Polizei teils mit großer Härte gegen Obdachlose vor. Diese flüchteten in die Vororte oder Gebiete am Rande der Städte.

Die Orbán-Regierung knüpft mit dem neuen Gesetz an nationalsozialistische Traditionen in Ungarn und in Deutschland an. Die deutschen Nazis hatten 1933 mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ die Unterbringung von verurteilten Landstreichern und Bettlern in einem sogenannten Arbeitshaus angeordnet. Zudem sah ein „Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ 1937 die Verhängung von „Vorbeugungshaft gegen Asoziale“ vor, zu denen auch Obdachlose zählten. In Ungarn war das faschistische Horthy-Regime in ähnlicher Weise gegen die Ärmsten der Gesellschaft vorgegangen.

Die Kriminalisierung von Obdachlosen erinnert auch an die barbarischen Praktiken in der Zeit der ursprünglichen Akkumulation, die Marx im „Kapital“ beschreibt. Im 15. und 16. Jahrhundert wurden Bauern massenhaft vom Land vertrieben, konnten aber in den Städten weder genügend Arbeit noch Unterkunft finden. Sie verwandelten sich durch den Zwang der Umstände „massenhaft in Bettler, Räuber und Vagabunden“. Gegen sie gingen die Herrschenden mit erbarmungsloser Brutalität vor.

So sah die Gesetzgebung unter Heinrich VIII., der von 1509 bis 1547 England regierte, für Vagabunden „Auspeitschung und Einsperrung“ vor. „Sie sollen an einen Karren hinten angebunden und gegeißelt werden, bis das Blut von ihrem Körper strömt, dann einen Eid schwören, zu ihrem Geburtsplatz oder dorthin, wo sie die letzten drei Jahre gewohnt, zurückzukehren und ‚sich an die Arbeit zu setzen‘ (to put himself to labour),“ schildert Marx die damaligen Praktiken. „Bei zweiter Ertappung auf Vagabundage soll die Auspeitschung wiederholt und das halbe Ohr abgeschnitten, bei drittem Rückfall aber der Betroffne als schwerer Verbrecher und Feind des Gemeinwesens hingerichtet werden.“

Nun kehrt der Kapitalismus im 21. Jahrhundert zu den Praktiken des 16. zurück und erklärt die von ihm selbst produzierten Armen zu Kriminellen. Ein vernichtenderes Urteil über den Bankrott dieses Gesellschaftsystems könnte es nicht geben.

Dabei ist die Verfolgung von Obdachlosen nur die Spitze des Eisbergs. Flüchtlinge, die sich vor Krieg und Armut in Sicherheit bringen, werden seit langem als Kriminelle behandelt, als „Invasoren“ denunziert, in Lager eingesperrt oder dem sicheren Tod im Mittelmeer überlassen. Hier spielte Ungarn eine Vorreiterrolle, der inzwischen die meisten europäischen Länder folgen.

Orbán hat die ungarische Grenze hermetisch abgeriegelt. Flüchtlinge werden abgewiesen oder sie kommen in Lager, in denen ihnen teilweise die Nahrung verweigert wird. Mit dem sogenannten „Stopp-Soros“-Gesetzespaket werden Flüchtlingshelfer kriminalisiert und mit Strafen belegt. Jüngst forderte der ungarische Vertreter auf einem Treffen der EU-Außenminister, die Finanzierung von NGOs einzustellen, die die Souveränität von Staaten wie Israel und Ägypten „untergraben“ oder Länder unterstützen, die die illegale Migration begünstigen.

Hintergrund dieser Kriegserklärung an Flüchtlinge und Obdachlose ist die wachsende soziale Krise. Die unsoziale Politik der vergangenen Jahre hat die Obdachlosigkeit in Ungarn ansteigen lassen und immer mehr Menschen in Armut gedrängt. Obwohl es keine offiziellen Erhebungen gibt, sprechen NGOs von einer massiven Zunahme von Wohnungslosigkeit, Alkohol- und Drogenabhängigkeit und einer steigenden Selbstmordrate. 2017 war in der EU die Rate der Selbstmorde nur in Litauen höher.

Die ungarische Soziologin Zsuzsa Ferge sagte dem Spiegel, dass es mittlerweile „die traditionelle Rentenversicherung nach Bismarckschem Muster“ in Ungarn im Grunde nicht mehr gebe. „Die staatliche Gesundheitsversorgung ist mangelhaft. Wer es sich leisten kann, steigt in die private Gesundheitsversorgung um. Bei Mindestrente und Kindergeld gibt es seit 2008 keine automatischen Anpassungen mehr. Die Sozialausgaben wurden systematisch auf ein Minimum gekürzt und noch bestehende, minimale Sozialleistungen an strenge Maßregelungsmöglichkeiten und Arbeitspflicht für die Empfänger gekoppelt.“

Die ungarischen Gesetze bekämpfen die Opfer dieser sozialen Katastrophe, während sich ihre Ursachen weiter verschärfen. Viele Obdachlose haben psychische Krankheiten oder sind drogenabhängig, sie werden deshalb in den wenigen Notunterkünften nicht aufgenommen. Darüber hinaus sind die Notunterkünfte chronisch unterfinanziert.

Viele Obdachlose, die keine andere Wahl haben, als auf der Straße zu leben, werden aus Angst vor Strafen untertauchen. Man geht bereits jetzt davon aus, dass es zu einem massiven Anstieg der Sterbefälle von Obdachlosen im kommenden Winter kommen wird. Die Regierung nimmt dies bewusst in Kauf.

Der Angriff auf Obdachlose, Flüchtlinge und die gesamte Arbeiterklasse geht in Ungarn mit der schrittweisen Abschaffung demokratischer Grundrechte einher. Seit 2010 geht die Fidesz-Regierung systematisch gegen die Pressefreiheit vor. Das Land ist auf der jährlichen Rangliste zur Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen in den letzten acht Jahren um 50 Plätze zurückgefallen und rangiert heute auf Platz 73. Die wenigen oppositionellen Medien werden unter Druck gesetzt und nach und nach zum Aufgeben gezwungen.

Die Europäische Union übt gelegentlich Kritik an diesen Praktiken und erwägt ein Verfahren gegen Ungarn wegen der Gefährdung von Rechtsstaatsprinzipien. Doch das ist reine Heuchelei. Bei der Abwehr von Flüchtlingen, dem Abbau demokratischer Rechte und dem Angriff auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse sind die EU-Staaten und Ungarn auf einer Linie.

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