Tag der Einheit: Schäuble plädiert für Militarismus und Staatsaufrüstung

Seit der Wiedervereinigung Deutschlands vor 28 Jahren ist der 3. Oktober Nationalfeiertag und dient für „richtungweisende Reden“ führender Vertreter des Staates.

Vor fünf Jahren verkündete der damalige Bundespräsident Joachim Gauck am 3. Oktober die Wiederkehr des deutschen Militarismus. Das wiedervereinigte Deutschland sei zu groß und wirtschaftlich zu mächtig, um sich aus den Krisenregionen der Welt herauszuhalten, erklärte er. Deutschland müsse künftig seine wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen weltweit auch militärisch vertreten. Gaucks Rede diente als Startschuss für eine rasante militärische Aufholjagd.

Im vergangenen Jahr hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Hauptrede und warb für die Zusammenarbeit mit der AfD, die kurz zuvor in den Bundestag eingezogen war. „Aus unseren Differenzen dürfen keine Feindschaften werden – aus Unterschied nicht Unversöhnlichkeit“, umschmeichelte Steinmeier die rechtsradikale Partei, die seither das Parlament als Forum für ihre rassistische Hetze nutzt und der Großen Koalition die politische Linie vorgibt.

Gestern hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Wort. Er nutzte den pompösen staatlichen Festakt in der Berliner Staatsoper Unter den Linden für eine Rede, die an Demagogie und Zynismus kaum zu überbieten war.

Er begann seine Ausführungen mit abgedroschenen Phrasen über die Bedeutung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wenige Tage, nachdem Neonazis in Chemnitz und Dortmund unter den Augen der Polizei Hetzjagden auf Ausländer organisierten, eine rechtsterroristische Vereinigungen aufflog und der Innenminister erklärte, die Migration sei die Mutter aller Probleme, dozierte Schäuble über „den großen Erfolg des Landes“, der sich „auf Meinungsfreiheit, Toleranz und gegenseitigem Respekt“ begründe.

Dann sprach er über den „Glücksfall der Wiedervereinigung“, der Jahrzehnte der Teilung überwunden habe. Allerdings hätten nicht nur die Jahre der Teilung, sondern auch die Einheitsjahre Spuren hinterlassen, ergänzte Schäuble, der 1990 als Bundesinnenminister für die Ausarbeitung des Einigungsvertrags verantwortlich war.

Zu den Spuren, die die Einheit hinterlassen habe, gehörten „erfüllte Träume ebenso wie erlittene Enttäuschungen, etwa durch Arbeitsplatzverlust“. Vor allem aber habe die Einheit für „viele neue Lebenswege“ gesorgt: „Aus all diesen Geschichten setzt sich die deutsche Einheit zusammen.“ Die Gesellschaft sei „bunter“ geworden, „vielfältiger und unübersichtlicher“. Dadurch sei sie „konfliktreicher und Regeln noch wichtiger“, sagte Schäuble und fügte hinzu, „vor allem die Durchsetzung dieser Regeln“ sei nun von größter Bedeutung.

Lässt man die abstrakte und beschönigende Sprache beiseite, heißt das Folgendes: Seit der Wiedervereinigung hat eine privilegierte Minderheit ihre Träume erfüllt, ist reich geworden und in die herrschende Elite aufgestiegen, während die große Mehrheit ihre Arbeit verlor, eine Enttäuschung nach der anderen erlitt und in Armut und Verzweiflung lebt. Angesichts dieser Situation ruft Schäuble nach der verstärkten Durchsetzung staatlicher Regeln. Das ist der Ruf nach Polizeistaatsmaßnahmen, Einschränkung demokratischer Rechte und Diktatur.

Dagegen regt sich mehr und mehr Widerstand. Während Schäuble in Berlin seine Rede hielt, versammelten sich in München erneut Zehntausende und demonstrierten gegen das neue, Polizei-Aufgaben-Gesetz, das der Polizei weitreichende Vollmachten gibt und einen massiven Angriff auf elementare demokratische Rechte bedeutet. Die Veranstalter sprachen von 40.000 Teilnehmern.

Schäubles Gerede über den „Glücksfall der Wiedervereinigung“ und die „freiheitliche Revolution“ vom Herbst 1989 soll über das wachsende soziale Elend, den Niedergang der demokratischen Institutionen und den Aufstieg von Rechtsradikalen und Faschisten hinwegtäuschen.

Doch das Ende der DDR war keine Revolution, sondern eine Konterrevolution. Mit dem Kapitalismus hielten auch Arbeitslosigkeit, krasse Ausbeutung, schreiende soziale Ungleichheit und bittere Armut wieder Einzug im Osten Deutschlands.

Sie ging nur deshalb ohne größeren Widerstand über die Bühne, weil das stalinistische SED-Regime in der Arbeiterklasse verhasst war, ihr sozialistisches Bewusstsein untergraben hatte und die Einführung des Kapitalismus unterstützte. „Nach meiner Einschätzung war der Weg zur Einheit unumgänglich notwendig und musste mit Entschlossenheit beschritten werden,“ schrieb der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow später in seinen Memoiren.

Die DDR-Industrie, die Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit garantiert hatte, wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Die Treuhandanstalt wickelte insgesamt 14.000 volkseigene Betriebe ab. Einige verkaufte sie, die meisten legte sie still. Innerhalb von drei Jahren wechselten oder verloren 71 Prozent aller Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Heute arbeiten im produzierenden Gewerbe der neuen Bundesländern nur noch ein Viertel so viele wie 1989.

Das gut ausgebaute Bildungs- und Sozialsystem sowie das dichte Netz kultureller Einrichtungen, über das die DDR verfügte, wurden zerschlagen. Allein in Sachsen, das rund vier Millionen Einwohner zählt, sind seit der Wende über 1.000 Schulen stillgelegt worden.

Auch fast drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit klaffen die Lebensverhältnisse in Ost und West weit auseinander. Wenn es überhaupt eine Annäherung gab, dann wurden die Einkommen im Westen an die niedrigeren Osteinkommen angepasst. Die durchschnittlichen Reallöhne in ganz Deutschland liegen heute unter dem Niveau von 1995. Die Stundenlöhne von Geringverdienern gingen seit 1995 real sogar um bis zu 20 Prozent zurück.

Wolfgang Schäuble ist einer der zentralen Architekten der sozialen Konterrevolution der vergangen Jahrzehnte. Er diktierte nicht nur den Einigungsvertrag zur Auflösung der DDR, als Innenminister – ein Amt, das er von 1989 bis 1991 unter Helmut Kohl und von 2005 bis 2009 unter Angela Merkel ausübte – vertrat Schäuble eine repressive Politik des starken Staats.

Er wollte die Bundeswehr im Innern einsetzen und forderte eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes; unter anderem sollte die Bundeswehr die Befugnis erhalten, im Terrorfall Zivilflugzeuge abzuschießen. Er wandte sich gegen die parlamentarische Überwachung der Geheimdienste und trat für die Abschaffung von Grundrechten für „Terroristen“ ein. Unter anderem schlug er vor, Aussagen von Gefolterten bei der Ermittlungsarbeit der Sicherheitsbehörden zu verwenden.

Juristische Fachverbände warfen ihm vor, er opfere Grundrechte auf dem Altar vermeintlicher Sicherheitsinteressen, führe einen „Frontalangriff auf das Grundgesetz“ und schüre Ängste in der Bevölkerung, „um eine gesellschaftliche Akzeptanz für weit reichende Kompetenzen der Sicherheitsbehörden zu schaffen“.

Seine eigentliche Bestimmung fand Schäuble dann, als er 2009 ins Amt des Finanzministers wechselte. Im Jahr davor hatten die Banken das Weltfinanzsystem mit kriminellen Spekulationsgeschäften an den Rand des Zusammenbruchs getrieben und sein Vorgänger, der Sozialdemokrat Peer Steinbrück, hatte sie mit Milliarden Steuergeldern „gerettet“. Schäuble machte sich nun daran, diese Milliarden von der Arbeiterklasse wieder einzutreiben. Vor allem in Griechenland, Portugal, Spanien und anderen hochverschuldeten Ländern erzwang er einen sozialen Kahlschlag, wie ihn Europa bisher nur in Kriegszeiten erlebt hatte.

Schäuble schien eine geradezu sadistische Lust dabei zu empfinden, der griechischen Regierung in nächtelangen Verhandlungen ein Sparpaket nach dem anderen zu diktieren, die den Lebensstandard der Bevölkerung dezimierten, Millionen Rentner ihrer hartverdienten Altersversorgung beraubten und einer Generation von Jugendlichen jede Zukunftsperspektive nahmen, während die sogenannten „Hilfskredite“ direkt in die Kassen der internationalen Banken flossen.

In Deutschland versteifte sich Schäuble auf einen ausgeglichenen Haushalt. Während die Infrastruktur zerfiel, Gesundheitsversorgung und Alterspflege ausbluteten, der Lehrermangel unerträgliche Ausmaße annahm und Löhne und Renten sanken, brüstete er sich jahrelang mit der sogenannten „Schwarzen Null“.

Das ist der wahre Schäuble, der gestern sagte: „Wir haben Grund zum Selbstvertrauen. Und wir können diese Welt wirkungsvoll gestalten.“ Dann beschwor er „die Nation“, die die Unübersichtlichkeit einer Welt auf einen überschaubaren Rahmen reduziere. Sie sei „historisch gewachsen, wir fühlen uns ihr zugehörig“. Die Nation sei der „vertraute Zufluchtsortsort“ angesichts „einstürzender Veränderungen“ durch die Globalisierung. Auf die Nation „können wir nicht verzichten. Und wollen es auch nicht.“ Dieser Appell an Nationalismus unterscheidet sich nicht von der Parole der Rechtsradikalen: „Ich bin Stolz Deutscher zu sein!“

Es folgte ein Aufruf zu stärkerem und selbstbewusstem militärischem Eingreifen. Die Welt „mit ihren Kriegen und Konflikten“ rücke uns immer näher, sagte Schäuble. „Uns die Welt vom Hals halten, das können wir in Zeiten der Globalisierung nicht. Wir müssen stärker Verantwortung übernehmen.“ Die Formulierung „mehr Verantwortung übernehmen“ ist ein Code-Wort für intensive militärische Aufrüstung.

Abschließend folgte ein Exkurs über „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik“. Schäuble erläuterte: „Die Humanität verlangt von uns, Menschen zu helfen.“ Das sei „christliches Abendland“ und „Kern des Sozialstaatsprinzips“. Das gelte für alle Menschen in Not. Aber „unsere Möglichkeiten sind begrenzt“. Um „das Recht auf Asyl zu wahren“, sei es notwendig „Migranten, die aus anderen Motiven zu uns kommen“, abzuweisen.

Mit anderen Worten: Um das Asylrecht zu wahren, wird hemmungslos abgeschoben, ein Lagersystem für Flüchtlinge in ganz Europa und Nordafrika aufgebaut und die Seenotrettung im Mittelmeer beendet. Die Bilanz von Schäubles Gesinnungsethik lautet: Festung Europa und 1.500 Tote im Mittelmeer alleine im ersten Halbjahr 2018.

Schäuble betonte, seine Aussagen zur Flüchtlingspolitik seien „keine Anleitung zum Zynismus – und keine Lizenz für unmoralisches Handeln“. Gut, dass er das sagt, man hätte es sonst nicht gemerkt.

Loading