Chemnitz: Enge Kooperation zwischen Rechtsextremisten, Polizei und Regierung

Nachdem Neo-Nazis am Sonntag und Montag nahezu unbehelligt von der Polizei in Chemnitz randalierten und eine regelrechte Hetzjagd auf Menschen veranstalteten, die sie als Migranten oder Linke identifizierten, kommen immer mehr Details über die enge Koordination und Zusammenarbeit zwischen den Rechtsextremisten, der Polizei und dem Staatsapparat ans Licht.

Am Donnerstag wurde ein Beamter der Justizvollzugsanstalt Dresden vom Dienst suspendiert, der verdächtigt wird, den Haftbefehl gegen einen 22 Jahre alten Iraker an die rechtsextreme Szene weitergegeben zu haben. Dem Iraker wird vorgeworfen, am Sonntag am Rande des Stadtfests in Chemnitz einen 35 Jahre alten Mann erstochen zu haben.

Den Haftbefehl hatten unter anderem Pegida-Führer Lutz Bachmann, zahlreiche AfD-Politiker und die Initiative „Pro Chemnitz“ veröffentlicht, die den rechtsradikalen Aufmarsch am Montagabend in Chemnitz organisiert hat. Ein weiterer rechter Politiker, der den Haftbefehl im Internet veröffentlichte, ist der Bremer Landespolitiker Jan Timke. Timke ist Bundespolizist und Mitglied der rechtspopulistischen Wählervereinigung „Bürger in Wut“.

Laut einem Bericht des Berliner Tagesspiegel enthält das zweiseitige Dokument die vollständigen Namen des Opfers, der mutmaßlichen Täter und der Richterin. Genannt werde auch der Wohnort des mutmaßlichen Täters, lediglich die Straße sowie die Namen von Zeugen seien in zunächst veröffentlichten Fassungen geschwärzt worden. Später sei der Haftbefehl allerdings auch ohne jede Schwärzung, also auch mit der kompletten Wohnanschrift des mutmaßlichen Täters und den Namen der Zeugen, im Internet aufgetaucht.

Offensichtlich verfolgte der Beamte, der den Haftbefehl an die Rechtsextremen durchstach, das Ziel, die Hetze gegen angeblich gewalttätige Flüchtlinge und Migranten weiter zu befeuern und den Neo-Nazi Mob zur Selbstjustiz anzustacheln. Ronald Gläser, der stellvertretende Vorsitzende der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, twitterte den Haftbefehl mit den Worten: „Anklagen, verurteilen, bestrafen, abschieben.“ Der rechtsextreme Blog Journalistenwatch teilte den Haftbefehl mit dem Kommentar: „Chemnitz-Killer ist abgelehnter Asylbewerber und ‚erheblich vorbestraft‘.“

Nach wie vor ist unklar, was genau sich in Chemnitz in der Nacht von Samstag auf Sonntag ereignet hat. Laut Polizei waren an einer Auseinandersetzung während dem Stadtfest „mehrere Personen unterschiedlicher Nationalitäten“ beteiligt. Mehrere Personen seien danach vom Tatort geflüchtet. Kurze Zeit später wurden der im veröffentlichten Haftbefehl erwähnte Iraker und ein 23-jähriger Syrer festgenommen. Beiden Männern wird vorgeworfen, „ohne rechtfertigenden Grund“ mehrfach auf den 35-Jährigen eingestochen zu haben.

Das Opfer, der in Chemnitz aufgewachsene Tischler Daniel H., war nach Angaben verschiedener Medien Deutsch-Kubaner und politisch links eingestellt. Auf seinem Facebook-Profil hatte Daniel H. laut einem Bericht auf Spiegel Online Seiten der Partei Die Linke und verschiedener Antifa-Gruppierungen geliked. In einem Kommentar äußerte er sich positiv über das anti-faschistische Modelabel Storch Heinar, und einen Post über „Nazis einen Vogel zeigen“-Shirts kommentierte er mit den Worten: „Ich hätte auch gern eins, in Chemnitz gibt’s noch zu viele von den Spinnern.“

Die Freie Presse, die größte Abonnement-Zeitung Sachsens, zitiert aus einem Facebook-Eintrag des mit Daniel H. gut befreundeten Daniel W.: „Ich bitte euch um eins, lasst eure Trauer nicht in Wut und Hass umwandeln. Diese Rechten, die das als Plattform nutzen, mit denen mussten wir uns früher prügeln, weil sie uns nicht als genug deutsch angesehen haben. Jeder, der Daniel H. gekannt hat, weiß, dass dies unmöglich sein Wille gewesen wäre. Lasst euch nicht benutzen, sondern trauert.“

Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse und der Art und Weise, wie die vermeintliche Messerattacke auf einen linken Arbeiter mit Migrationshintergrund politisch instrumentalisiert wird, wäre es politisch naiv, eine Beteiligung rechtsextremer Kreise oder von Elementen im Staatsapparat auszuschließen. Gerade in Sachsen haben die Sicherheitsdienste ihre engen Verbindungen zu rechtsextremistischen Kreisen immer wieder genutzt, um reaktionäre politische Ziele zu verfolgen.

Als am 26. September 2016 zwei Sprengstoffanschläge auf die Fatih-Moschee und das Internationale Kongresszentrum in Dresden verübt wurden, erschienen auf der mittlerweile vom Bundesinnenministerium verbotenen Website „linksunten.indymedia.org“ gefälschte Bekennerschreiben im Namen der Dresdner Antifa und des Anti-Einheitsfeier-Bündnisses 3oct. Später stellte sich heraus, dass hinter den Anschlägen ein Redner der rechtsradikalen Pegida-Bewegung stand, die von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung mit aufgebaut wurde und über enge Verbindungen zur sächsischen Polizei und den Geheimdiensten verfügt.

Im Frühjahr 2017 wurde bekannt, dass Franco A., ein rechtsextremer Berufsoffizier, Waffen gehortet und sich in Bayern als syrischer Flüchtling hatte registrieren lassen, wo er trotz seines Vollzeit-Dienstes bei der Bundeswehr subsidiären Schutzstatus erhielt. Es besteht der Verdacht, dass er gemeinsam mit mindestens zwei weiteren Komplizen – einer von ihnen, Maximilian T., ist inzwischen als persönlicher Referent für den AfD-Bundestagsabgeordneten Jan Nolte tätig – Anschläge auf hochrangige Politiker und Institutionen wie den Zentralrat der Muslime und den Zentralrat der Juden in Deutschland plante, um sie dann Flüchtlingen in die Schuhe zu schieben und damit rechte und ausländerfeindliche Stimmungen zu schüren. Obwohl der Verdacht weiterhin besteht, befindet sich A. wieder auf freiem Fuß.

Am Donnerstag wurden neue Details über die Rolle des Verfassungsschutzes (BfV) beim Attentat vom 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz bekannt. Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins Kontraste, des rbb und der Berliner Morgenpost hat der Verfassungsschutz offenbar versucht, die Tatsache, dass das BfV einen V-Mann im Umfeld des Attentäters Anis Amri platziert hatte, nicht öffentlich werden zu lassen.

In dem Dokument, das Kontraste einsehen konnte, heißt es über den Einsatz des V-Mannes: „Ein Öffentlichwerden des Quelleneinsatzes gilt es schon aus Quellenschutzgründen zu vermeiden“ und „ein weiteres Hochkochen der Thematik muss unterbunden werden“. Mittlerweile ist bekannt, welche Informationen der BfV-Chef Hans-Georg Maaßen möglicherweise unterdrücken wollte. Einmal war Anis Amri, der den Anschlag verübte, von einem V-Mann des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts nach Berlin gefahren worden. Derselbe V-Mann soll ihn wiederholt zur Tat angestiftet haben.

Wie der Anschlag in Berlin werden auch die Ereignisse in Chemnitz genutzt, um die Hetzkampagne gegen Flüchtlinge zu verschärfen und die extreme Rechte zu stärken. Neonazis, die in der Öffentlichkeit den Hitlergruß zeigen und „Ausländer raus“ brüllen, gelten in den Medien als „besorgte Bürger“. Vertreter der rechtsextremen AfD bekommen noch mehr Sendezeit in Talkshows und Nachrichtensendungen, um die Neonazi-Krawalle in Chemnitz zu rechtfertigen. Und die Politiker der etablierten Parteien, die sich unmittelbar nach den Ausschreitungen noch schockiert gaben und ein gewisses Entsetzen heuchelten, stoßen in das gleiche Horn.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) veranstalteten am Donnerstag einen sogenannten Bürgerdialog in Chemnitz, in dem sie das militante Auftreten der Rechtsextremen verharmlosten und in die rechte Stimmungsmache einstiegen. Ludwig äußerte Verständnis „für die Wut und Bestürzung“ in Chemnitz und Kretschmer erklärte im besten AfD-Stil. „Wenn man das beschreibt unter dem Motto ‚Hetze durch die Stadt‘ oder ‚Pogrom‘, dann trifft es nicht das, was da stattgefunden hat. Das ist total überzeichnet. Das ist Unfug, dem muss man entgegentreten.“

Nachdem der rechtsextreme Mob am Sonntag nahezu unbehelligt von der Polizei durch Chemnitz ziehen konnte und auch am Montagabend weitgehend Narrenfreiheit hatte, werden nun tausende Polizisten in Chemnitz zusammengezogen. Nicht um gegen Rechte vorzugehen, sondern gegen Links. Am Montag ist ein „Rock gegen Rechts“-Konzert mit bekannten Bands wie den Toten Hosen und Kraftklub geplant, zu dem Zehntausende erwartet werden. Im Internet haben sich bereits am ersten Tag über 12.000 Teilnehmer angekündigt. In Berlin protestierten am Donnerstag über 10.000 Arbeiter und Jugendliche unter dem Motto „Ob Chemnitz oder Neukölln: Auf die Straße gegen rechte Gewalt“.

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