Als sich am Abend der Bundestagswahl herausstellte, dass die rechtsextreme AfD drittgrößte Partei im Parlament ist, drohte deren Vorsitzender Alexander Gauland, nun werde sie die anderen Parteien „jagen“. Bei der Debatte über das Regierungsprogramm an diesem Mittwoch konnte man den Eindruck gewinnen, diese Drohung habe sich bewahrheitet. Die Abwehr und Deportation von Flüchtlingen war das zentrale Thema. Doch die AfD jagte die anderen Parteien nicht vor sich her, sie lief lediglich in der Meute mit ihnen mit.
Bundeskanzlerin Angela Merkel widmete über ein Drittel ihrer einstündigen Regierungserklärung der Flüchtlingsfrage. Sie behauptete, „die vielen zu uns geflohenen Menschen“ seien der Hauptgrund für die Spaltung und Polarisierung des Landes, dem es „wirtschaftlich so gut wie noch nie seit der Wiedervereinigung“ gehe. Sie kündigte einen umfangreichen Katalog von Abwehrmaßnahmen an, damit sich eine Ausnahmesituation wie 2015 nicht wiederhole: die Abschottung der europäischen Außengrenzen, freiwillige und staatlich angeordnete Rückführungen und die Einrichtung sogenannter Ankerzentren, in denen Flüchtlinge interniert werden.
Ein Redner nach dem anderen stimmte in die Flüchtlingshetze ein. CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder nannte die Internierung und rasche Abschiebung von Menschen ohne Bleiberecht „im tiefsten Sinne human“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt verband das „klare Bekenntnis zu einem starken Staat“ mit der Forderung nach einer „echten europäischen Grenzpolizei“. Wie schon Merkel betonte er, Deutschland sei „ein klar christlich geprägtes Land“ und habe „eine christlich-jüdische Tradition“. Wörtlich sagte er: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner versicherte dem neuen Innenminister Horst Seehofer, er werde ihn vor jeder Kritik in Schutz nehmen, wenn er seine Ankündigung wahrmache, Abschiebungen zu forcieren und die Kontrolle der Grenzen sicherzustellen. Grünen- Fraktionschef Anton Hofreiter äußerte seinen Respekt für die neue Regierung und bot ihr seine Zusammenarbeit an. Sein Kollege von der Linkspartei, Dietmar Bartsch, bescheinigte der Großen Koalition, sie verfolge unbestritten „auch unterstützenswerte Vorhaben“, und beklagte ihren mangelnden „Schwung“.
AfD-Chef Alexander Gauland setzte dann lediglich das Tüpfelchen auf das i, als er gegen „illegale Zuwanderung“ schwadronierte, die jährlich 50 Milliarden Euro koste, Migranten mit „Attentätern, Messermorden und Vergewaltigungen“ in Verbindung brachte und von einem „Syrer mit zwei Ehefrauen und sechs Kindern“ faselte, der „in Pinneberg ein ganzes Haus und üppige Sozialleistungen geschenkt“ bekomme, „während immer mehr Deutsche obdachlos werden“.
Gaulands Hetztirade gipfelte in der Aussage, es gebe „keine Pflicht zu Vielfalt und Buntheit“ und auch „keine Pflicht, meinen Staatsraum mit fremden Menschen zu teilen“.
Niemand im Bundestag protestierte gegen diesen rassistischen Schmutz. Dabei sind es keine 80 Jahre her, seit Adolf Hitler im Reichstag ganz ähnlich argumentierte – man muss lediglich den Begriff „deutsch“ durch „christlich“ und „jüdisch“ durch „islamisch“ ersetzen.
In seiner berüchtigten Rede vom 30. Januar 1939, in der er für den Fall eines Weltkriegs „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ androhte, erklärte Hitler: „Vor allem aber die deutsche Kultur ist, wie schon ihr Name sagt, eine deutsche und keine jüdische, und es wird daher auch ihre Verwaltung und Pflege in die Hände unseres Volkes gelegt.“ Er sei „entschlossen, das Einnisten eines fremden Volkes … zu unterbinden und dieses Volk abzuschieben“.
Weshalb schwenkt der ganze Bundestag auf diesen fremdenfeindlichen Kurs ein, der vor einigen Jahren noch auf heftige Empörung gestoßen wäre, oder nimmt ihn zumindest widerspruchslos hin? Die AfD ist offensichtlich nicht die Ursache, sondern nur der schärfste Ausdruck dieser Entwicklung.
Merkel selbst hat in ihrer Regierungserklärung einen Hinweis auf die wirklichen Motive gegeben, wenn sie immer wieder die Spaltung der Gesellschaft beschwor. „Obwohl unser Land gut dasteht“, erklärte sie, „machen sich viele Menschen Sorgen um die Zukunft, ist der Ton der Auseinandersetzung rauer geworden, sind die Sorgen um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft größer geworden.“
Die Gesellschaft ist tatsächlich tief gespalten – aber nicht wegen der Flüchtlinge, sondern wegen der Politik von Merkel und ihres sozialdemokratischen Vorgängers Gerhard Schröder. Steuersenkungen für die Reichen, Agenda 2010, Hartz IV, Bankenrettung und Sparpolitik haben die Zahl der Armen anschwellen lassen, während eine kleine Minderheit in sagenhaftem Reichtum lebt. Hinzu kommen Millionen, deren Leben von wachsendem Stress und Unsicherheit geprägt ist und die einem Alter in Armut entgegenblicken.
Die neue Regierung wird diese Entwicklung verschärfen. Die Milliardenvermögen der Superreichen tastet sie nicht an; nicht einmal zu einer Vermögenssteuer konnte sie sich durchringen. Die wenigen Milliarden Euro, die sie aus dem Haushaltsüberschuss zusätzlich für Bildung und Pflege zur Verfügung stellt und als große soziale Wohltaten preist, sind nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Sie werden unweigerlich der nächsten Rezession und den steigenden Militärausgaben zum Opfer fallen und weitere Kürzungen einleiten. Die Berufung eines Goldman-Sachs-Bankers und des Architekten von Schäubles Sparpolitik auf Führungspositionen im Finanzministerium unterstreicht, dass der Sparkurs unvermindert fortgesetzt wird.
Auf die wachsenden internationalen Spannungen und Konflikte reagiert die Große Koalition mit einer hemmungslosen militärischen Aufrüstung, die gigantische Summen verschlingt. „Die größten Aufgaben für Europa sind heute Sicherheit, Wehrfähigkeit, geschützte Grenzen und das gemeinsame Durchsetzen unserer wirtschaftspolitischen Interessen in der Welt“, fasste CSU-Landesgruppenchef Dobrindt diese Pläne im Bundestag zusammen. Um „eine Rolle auf der Weltbühne zu spielen“ und „gegenüber den USA, Russland und Asien auf Augenhöhe zu agieren“, müsse Europa „bereit sein, auf dieser Weltbühne zu agieren“.
Sowohl gegen die soziale Ungleichheit wie gegen den Militarismus gibt es in der Arbeiterklasse und der Jugend breite Ablehnung. Millionen hassen und verachten die AfD. Aber diese Opposition findet keinen politischen Ausdruck. Obwohl erstmals sieben Parteien im Bundestag sitzen, ist die Kluft zwischen den Massen und allen politischen Parteien tiefer denn je zuvor.
Dieser Gegensatz kann nicht ewig unterdrückt werden. Er wird sich unweigerlich in Protesten und heftigen Klassenkämpfen äußern. Das ist der Hauptgrund für das Schüren von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Die Hetze gegen Flüchtlinge verfolgt das Ziel, die soziale Wut und Empörung auf die Schwächsten der Gesellschaft abzulenken. „Was wäre zu tun, damit alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten sind“, schrieb Leo Trotzki 1933 über die Methoden der Nazis.
Gleichzeitig dient die Hetze gegen Migranten dazu, demokratische Rechte zu beseitigen, den Staat aufzurüsten und rechtsextreme Kräfte zu stärken, die dann zur Unterdrückung sozialer und politischer Proteste eingesetzt werden können.
Es ist Zeit, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Das erfordert den Aufbau einer neuen sozialistischen Partei, die den etablierten Parteien den unversöhnlichen politischen Kampf erklärt und die Arbeiterklasse im Kampf gegen Faschismus, Krieg, soziale Ungleichheit und Kapitalismus über alle nationalen, ethnischen und religiösen Grenzen hinweg vereint. Dieses Ziel verfolgen die Sozialistische Gleichheitspartei und das Internationale Komitee der Vierten Internationale.